„Es gibt jetzt einen stärkeren Antisemitismus denn je“

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Ein Gespräch mit der jüdisch-ungarischen Philosophin Ágnes Heller über Ungarn und den Antisemitismus…

Interview: Karl Pfeifer
Jungle World v. 26. August 2010

Ágnes Heller wurde 1929 als Tochter einer jüdischen Familie in Budapest geboren. Zahlreiche ihrer Angehörigen wurden Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung, ihr Vater kam in Auschwitz ums Leben. Ihr selbst und ihrer Mutter gelang es mehrmals, der Deportation und der Ermordung zu entgehen. Nach der Befreiung wurde sie Zionistin, dann Marxistin und schließlich Kommunistin.

Nach dem Abitur studierte Ágnes Heller zunächst in Budapest Physik und Chemie, später wechselte sie zur Philosophie und wurde 1955 Assistentin von Georg Lukács. 1978 emigrierte sie nach Australien und wurde 1984 Professorin an der New School of Social Research in New York. Am 28. August wird das Goethe-Institut in Weimar der ungarisch-jüdischen Philosophin die Goethe-Medaille verleihen.

In gewissen ungarischen Medien, ich denke zum Beispiel an »Echo TV«, »Magyar Hirlap«, »Magyar Demokrata« und zum Teil auch »Magyar Nemzet«, sind antisemitische Reden zu hören, die in westeuropäischen Mainstream-Medien nicht möglich wären.

Ja, in Ungarn ist ein antisemitischer Diskurs möglich, der in Westeuropa unmöglich ist. Einige Leute haben mit offen antisemitischen Aussagen nach der Wende angefangen, und als sie sahen, dass es dagegen aus der ungarischen Gesellschaft fast keinen Widerstand gibt, haben sie sich bestätigt gefühlt und weitergemacht. Ich behaupte, dass nur eine Minderheit der Ungarn antisemitisch eingestellt ist, aber sich gegen diesen immer stärker werdenden Antisemitismus zu stellen, das haben wieder nur we­nige getan, die meisten sind gewohnt wegzuschauen und den Mund zu halten.

Als nach der Wende im Parlament mein Freund György Gadó aufstand und sich über diese Welle des aggressiven Antisemitismus und über die Rehabilitierung der königlichen Gendarmerie äußerte, hat ihn seine Partei, die liberale SZDSZ, allein gelassen. Ich sprach damals mit einigen SZDSZ-Politikern, und die waren der Meinung, man müsse auch die Antisemiten und Nazis zu Wort kommen lassen, im Sinne des »First Amendment« in den USA.

Stimmt, ich verbrachte 23 Jahre in den USA und bin gewohnt, dass man frei reden kann. Nur, in den Staaten gibt es auf rassistische bzw. antisemitische Reden eine kräftige Reaktion. Wer sich so in einer amerikanischen Gesellschaft äußert, dem wird gesagt: »Shut up!« In Ungarn jedoch ist das Problem nicht, dass Antisemiten frei sprechen können, sondern dass man solchen Menschen nicht sagt: »Halt’s Maul!«

In ausländischen Medien wird behauptet, dass der neue Ministerpräsident Viktor Orbán sich gegen Jobbik wendet und die Ungarische Garde abschaffen wird. Er hat zwar die Jobbik-Fraktion getroffen und ihr gesagt, dass er gegen die Existenz von paramilitärischen Garden ist, sich jedoch nicht von deren neopfeilkreuzlerischen, nationalsozialistischen Ideologie distanziert. Auch im fidesznahen »Echo TV« sieht man krude antisemitische Sendungen, zum Beispiel des fidesznahen Journalisten Zsolt Bayer, und diese TV Station gehört dem fidesznahen Millionär Gábor Széles. Das sind die Signale, die die Fidesz im Inland sendet.

Ich will überhaupt nicht in die Seele von Orbán schauen, ich habe keine Ahnung, was da sitzt, das ist nicht meine Aufgabe. Ich sehe nur, dass er diktatorische Allüren hat. Er ist dieser Typ von Mensch, der keine Gegenmeinung toleriert. Nur er weiß, was gut und recht ist. Tatsächlich ist seine Partei Fidesz eine demokratische Partei, aber nicht liberal. In Ungarn regiert die Mehrheit über die Minderheit. Die Minderheit hat praktisch keine Rechte, und die Fidesz besetzt alle Positionen im Staat – vom Staatspräsidenten bis zum Obersten Gericht –, das heißt: Es gibt überhaupt keine Machtteilung. Und Machtteilung ist ein Prinzip jeder richtigen Demokratie. Es gab die Wende, man hat damals eine Verfassung formuliert, die jetzt geändert wird, diese spiegelte die damaligen Interessen der Parteien wider. Zum Beispiel wollte man nicht, dass ein ehemaliger Kommunist zum Staatspräsidenten gewählt wird. Deswegen entschieden sie, dass nicht das Volk den Präsidenten wählt, sondern das Parlament. Dadurch ist die moderne ungarische Demokratie von Beginn an auf ­einem Nebengeleis gelandet. Alle Rechte dem Parlament, und jetzt alle Macht einer einzigen Partei. Während der letzten acht Jahre war das nicht so, es gab eine Koalition zweier Parteien. Aber jetzt hat die Fidesz eine Zweidrittelmehrheit. Und jetzt wird diese Verfassung ganz legal und demokratisch von der Fidesz geändert und noch schlechter werden.

Sie waren lange in Amerika und kennen den Westen, und wir merken insbesondere in Westeuropa, dass jetzt dieser »Antizionismus«, dieser kodierte Antisemitismus des Kádár-Regimes, von dem Sie sprachen, sich rapide verbreitet, gerade an den Universitäten, zum Beispiel in Großbritannien, wo eine Bewegung entstanden ist, die israelische Universitäten boykottieren möchte, mit Ausnahme derjenigen Israeli, die sich öffentlich von ihrem Staat distanzieren. Das ist eine neue Entwicklung.

Tatsächlich war man vor der Wende nur in Osteuropa so antisemitisch, was man allerdings als »antizionistisch« ausgab. Jetzt ist diese Haltung bei uns Mainstream.

In Deutschland ist die Linke gespalten in dieser Frage, so auch die Partei »Die Linke«. Es gibt welche, die sind extrem antiisraelisch, aber dann gibt es welche, die diese Passion nicht teilen. Aber hier in Ungarn gibt es ja fast keine Linke mehr. Da kommt der Hass gegen Israel hauptsächlich aus der rechts­extremen Ecke.

Der Antiisraelismus spielt bei unseren Rechtsextremisten eine große Rolle. Ein wichtiger Teil ihrer Propaganda richtet sich gegen Israel. Sie sagen zum Beispiel, dass Israel Ungarn aufkaufen will, die israelischen Kapitalisten das Land bereits besitzen und Israel heute Ungarn regiert. Die antijüdische Propaganda der Rechtsextremisten ist heute auch in Ungarn eng und stark mit der antiisraelischen verbunden. Sie machen keinen Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus.

Schon die Propaganda des Kádár-Regimes in den Fünfzigern und Sechzigern war gegen das »imperialistische« Israel gerichtet und positionierte sich für die »linken« arabischen Staaten, die entweder reaktionäre Königreiche oder Militärdiktaturen waren.

Warum ist das Regime unter János Kádár, der Jahrzehnte lang in Ungarn an der Macht war, damals zusammengebrochen?

Die Frage ist doch eher, warum das Kadar-Regime so lange existierte, obwohl es keine Legitimität besaß. Der Kommunismus war in Ungarn illegitim. Hätte es freie Wahlen gegeben, so hätten die Ungarn jederzeit eine andere Partei gewählt als die des János Kádár. Der Zusammenbruch kam im ersten möglichen Moment, und zwar nicht zum ersten Mal, bereits 1956 kam es dazu. Das Kádár-Regime war genauso illegitim wie das Rakosi-Regime. Ohne die sowjetische Armee hätte es keine einzige Minute existieren können.

Das Kádár-Regime hatte ungefähr soviel Unterstützung in der Bevölkerung wie das Horthy-Regime davor: 30 bis 35 Prozent. Die meisten Ungarn – mit Ausnahme der sehr kleinen demokratischen Opposition – machten, solange es ging, ihren Frieden mit dem Regime. War es nicht trotzdem das liberalste in Osteuropa?

Ja, da haben Sie Recht, so dachte man in Ungarn. Es war eine negative Legitimation, das min­dere Übel. Bereits in den Sechzigern, dann aber sicher in den Siebzigern, stabilisierte sich die Lage in Ungarn. Leben und leben lassen war die Devise. Man war nicht gezwungen, öffentliche Bekenntnisse abzulegen, konnte aber privat seine Meinung äußern. Jeder musste wissen, wo die Grenzen der Meinungsäußerung waren, das heißt, man gewöhnte sich daran, nicht das zu sagen, was man wirklich dachte. In dieser Hinsicht hat die Bevölkerung mit der Regierung zusammengespielt. Man wusste, wer seine Ablehnung öffentlich macht, wird Nachteile erfahren und kann auch verhaftet werden. So ging das ungefähr bis zur Mitte der achtziger Jahre. Danach konnte man viel mehr sagen, weil das Regime nahe am Zusammenbruch war. Wir (Ágnes Heller meint eine Gruppe Wissenschaftler, die 1977 aufgefordert wurde, das Land zu verlassen, K.P.) haben diese Grenze überschritten und Kritik geäußert, daraufhin verloren wir unsere Arbeit, man entzog uns die Reisepässe, wir konnten nicht mehr in Ungarn leben. Die Geheimpolizei war immer da, hier gab es beinahe so viele Spitzel wie in der DDR. Ich habe große Dossiers der Spitzelberichte erhalten, einige haben fotografiert, andere gemeldet, auch über Gespräche in diesem Zimmer wurde berichtet, und man folgte uns auf der Straße, was das Leben schwierig machte. Wer sich nicht geistig betätigte, wer sich nicht politisch äußerte, dem ist nichts passiert, der konnte hier leben, die Arbeitsplätze waren gesichert. Es gab tatsächlich diese hässlichen Kompromisse. Meiner Meinung nach ist das einer der wichtigsten Gründe, warum sich Ungarn nach der Wende so schlecht entwickelte. Das Kádár-Regime ist dafür verantwortlich, weil es den Leuten beibrachte, dass es Grenzen gibt, die man nicht überschreiten darf, dass man kooperieren muss, dass man feige sein soll, dass man den Mund halten muss – und diese Gewohnheit lebt fort, trotz des Systemwechsels.

Trotzdem war es unter dem Kádár-Regime unmöglich, dass so wie heute öffentlich ein kruder Antisemitismus, wie er während der Horthy-Zeit auch nicht allgemein üblich war, in Medien und Politik artikuliert wird. Plötzlich, nach der Wende, wurde Antisemitismus salonfähig.

Das stimmt so nicht, es gab Antizionismus und eine strenge antiisraelische Politik, man verteidigte offiziell die palästinensische Bewegung gegen das »imperialistische Israel«. Es war kein traditioneller Antisemitismus, man sprach nicht direkt von Juden, doch auch in der Parteizeitschrift hieß es: Israel ist der Feind, Israel ist aggressiv, Israel ist mit Amerika verbündet, Israel spioniert, Israel nimmt teil an einer Weltverschwörung. Man erwähnte die Juden nicht, doch es war klar, Juden waren gemeint. Wer anti­semi­tisch schreiben wollte, konnte dies tun, allerdings hinter einer antiimperialistischen Maske.

Zum Beispiel konnte man sehr lange Zeit nicht über Auschwitz reden, man sprach über Faschismus und nicht über Nationalsozialismus. Zwischen Faschismus und Nazismus wurde nicht unterschieden. Es gab Faschismus, die Faschisten haben Kommunisten und Sozialisten getötet. Erst Ende der achtziger Jahre konnte man über Juden als die besonderen Opfer der Nazis sprechen. Bis dahin sprach man immer von Konzentrationslagern, in denen Kommunisten und Antifaschisten inhaftiert und getötet wurden.

Und das war natürlich nicht nur in Ungarn so, man musste nur Auschwitz besuchen. Damals, in der großen Ausstellung von Auschwitz, wurden Juden überhaupt nicht erwähnt, nur Kommunisten und Antifaschisten, die erschossen worden waren.

Als ich das erste Mal mit meinem Mann 1963 in Auschwitz war, erwähnte man Birkenau überhaupt nicht, als ob es überhaupt nicht existiert hätte. Wir mussten den Weg dorthin erfragen, denn wir wussten, was dort geschehen war. Und diese Atmosphäre gab es auch in Ungarn. Direkten Antisemitismus konnte man nicht bemerken, über Juden durfte man weder Gutes noch Schlechtes schreiben. Es gab keine jüdische Organisationen außer der offiziellen Kultusgemeinde.

Der Historiker Miklós Szabó meinte, dass die über 100 000 Juden, die hauptsächlich in Budapest überlebt hatten, darunter auch ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von Intellektuellen, einen Teil der progressiven Traditionen gerettet haben.

Das stimmt. In der demokratischen Opposition gegen das Kádár-Regime waren insbesondere die Budapester jüdischen Intellektuellen sehr aktiv, weil sie kritisch waren, weil sie das Regime nicht gern hatten.

Zu Beginn der Kádár-Zeit waren die meisten jüdischen Intellektuellen prokommunistisch, sie verloren aber sehr bald ihre Illusionen. Schon in der Gruppe um Imre Nagy gab es viele ehemalige Stalinisten, die Antistalinisten geworden waren, und viele von ihnen spielten 1956 eine wichtige Rolle. Und wenn Sie dann sehen, wen Kádár nach seiner Machtübernahme hat verhaften lassen, dann werden Sie bemerken, wie hoch der Anteil von jüdischen Intellektuellen war. Sie waren natürlich keine religiösen Juden, sondern, wie man in Ungarn und auch in anderen Ländern des Realsozialismus sagte, »jüdischer Abstammung«. Das ist ein interessanter Ausdruck für Menschen, die sich nicht als Juden definieren, entweder weil sie Internationalisten sind und sich mit keiner Nationalität oder Religion identifizieren oder aber weil sie sich lediglich als Ungarn betrachten.

Das hat sich nach dem Systemwechsel verändert. Es gibt jetzt einen stärkeren Antisemitismus denn je, aber jetzt gibt es auch eine Reihe von selbstbewussten jüdischen Organisationen. Es gibt heute viele junge Leute, nicht nur »jüdischer Abstammung«, sondern auch »christlicher Abstammung«, die sich für jüdische Kultur interessieren. Man soll diese doppelte Entwicklung sehen.

Der wirtschaftliche Zickzackkurs der Fidesz-Regierung löst bei Rechts- und Linksextremisten im Ausland Begeisterungsstürme aus. Aber gerade bei der ungarischen Minderheit in der Slowakei und in Rumänien ist ihre nationalistische Politik nicht populär. In der Slowakei hat die mit der Fidesz verbündete nationalistische ungarische MKP nicht die Hürde von fünf Prozent geschafft und ist nicht im Parlament ver­treten. Hingegen haben mehr als acht Prozent der Wähler der binationalen Hid-Most-Partei ihr Vertrauen geschenkt. Und in Rumänien sitzt die ungarische RMDSZ-Partei in der Regierung, obwohl die Fidesz ihr den schlechten Rat gibt, die Regierung zu verlassen. Wie sehen Sie das?

Die Ungarn in der Slowakei, aber auch in Rumänien wollen mit der Mehrheit in Frieden leben, sie haben keine Lust, für die Fidesz den Prellbock zu spielen. In beiden Ländern beteiligen sie sich an der Regierung. Die Fidesz könnte überhaupt niemanden begeistern in den Nachbarländern, wenn man den dicht von Ungarn ­bewohnten Gebieten Autonomie – wie es die Schweden in Finnland haben – gewähren ­würde.

Doch gerade weil die Fidesz versucht, den Nationalismus zu eskalieren, ist das in der nächsten Zeit nicht wahrscheinlich. Sie haben außer der Politik der nationalen Symbole nichts zu bieten, und das ist auch der Grund, weshalb sie auf diese Karte setzen. Wie lange kann diese Politik fortgeführt werden?

Die Fidesz versucht natürlich, Gefühle der nationalen Kränkung zu entfachen. Zum Glück kauft ihnen das die Mehrheit der Ungarn in den Nachbarländern nicht ab. Die Frage ist doch, wie lange kann die Fidesz die Leute mit einer Politik der nationalen Symbole zufriedenzustellen. Da ist es schwer, Voraussagen zu machen. Aber es scheint klar, dass die Fidesz die Wahlversprechen nicht einhalten kann. Und wenn das den Wählern klar wird, könnte es zu einem Meinungsumschwung kommen. Doch solange es keine vernünftige, einflussreiche, linke Oppo­sitionspartei gibt, wird die Fidesz nicht die Unterstützung in der Bevölkerung verlieren. Aber eine solche linke Partei gibt es in Ungarn nicht.