Doğan Akhanlı: Die Fremde und eine Reise im Herbst

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Am 10.8.2010 wurde der in der Türkei bekannte Schriftsteller Doğan Akhanlı, deutscher Staatsbürger seit 2001, am Flughafen in Istanbul verhaftet und in die Haftanstalt Metris verbracht. Seit dem 20.8.2010 wird er in einer Haftanstalt in Tekirdag festgehalten. Akhanlı ist zum ersten Mal seit seiner Flucht 1991 in die Türkei gekommen. Er wollte seinen kranken Vater besuchen. Folgenden Text verfasste Akhanlı im März 2008…

Die Fremde und eine Reise im Herbst
Von Doğan Akhanlı, März 2008

Wann immer jemand von „Mutter, „Heimat“ oder „Heim“ spricht, lange ich nach den roten Winteräpfeln. So war es auch, als ich „Der letzte Traum der Madonna“ schrieb. Als ob ich keinen Roman schreiben würde, sondern den Geruch der schwarzen Odessatrauben, des Wacholders, der Maulbeer- und Kirschbäume, der Rosen, Fichten und Sauerkirschen einatme; die vor dem Dorf gelegene Flachebene flüstern höre, die sie von hinten mit ihren Armen umschlingenden zwei tiefen Täler, die aus den Tälern fließenden Bäche – einer murmelnd, der andere still -; die Hügel, an die sich das Dorf lehnt, erklimme, der Berg Kemera gegenüber, etwas weiter entfernt Sahara-Berg, die noch viel weiter entfernten einsamen Fichten, die Tatzenabdrücke der in den Zeiten irrenden und ihre Höhlen verlassenden Bären; und dem Heulen der Wölfe lausche, die mit Leuchtkäferaugen ins Dorf herab kommen. All das füge ich dem Geruch der Mutter hinzu, den ich tief in meinen Lungen einsauge, um „die Fremde“ aus mir herauszudrängen.

Dies war der einem Tiefenrausch gleichende Zustand des Sichverlierens. Aber wie bei Drogensüchtigen in jenen Momenten der Ernüchterung nach dem Rausch, kriecht die „Fremde“, die ich aus mir herausgeworfen hatte, durch die Nasenlöcher wieder in mich hinein und macht sich, ihr Gift träufelnd, bis in mein Herz hinein breit. Bis ich meinen nächsten Tiefenrausch erleben konnte und ich verstanden hatte, dass ich versuchte, mit einer Natter im Herzen zu leben, hatte ich mein fünfzigstes Lebensjahr erreicht. Also mein jetziges Alter!

Am Ende des immer wiederkehrenden Tiefenrauschs habe ich das Finale von „Der letzte Traum der Madonna“ in einem Dorf hinter den Bergen am äußersten östlichen Ende des Schwarzen Meeres fertig gestellt. In jenem ungenannten Dorf wurden die roten Winteräpfel reif, wenn der Schnee fiel. Da ich seit Jahrzehnten nicht mehr die Möglichkeit hatte, das Dorf meiner Geburt im Winter aufzusuchen, habe ich meinen immer noch dort lebenden Vater nach den roten Äpfeln befragt: Mein Vater bestätigte mir, dass es die roten Winterapfel noch geben wurde, fügte jedoch hinzu: „Die Winter sind nicht mehr so lang wie früher, der Schnee liegt nicht mehr, wie früher, drei Meter hoch.“ Mich packte ein Schuldgefühl, als trüge ich die Verantwortung dafür, dass die Winter nicht mehr so lang waren wie früher. Als mein Vater dann sagte, dass im Winter nur noch die Alten im Dorf verbleiben würden, wurde mein Schuldgefühl noch größer. Ich dachte, dieses Gefühl sei ein Leiden, das nur ich spürte. Als ich später erfuhr, dass Freunde, die eine vergleichbare Vergangenheit wie ich hatten, Ähnliches empfanden, war ich völlig erstaunt, ja erleichtert. So ist das also, dachte ich mir, wenn Menschen, die „gewisse Ereignisse“ erlebt hatten, „Schuld“(-gefühle) entwickeln. Meine Freunde, die diese „gewissen Ereignisse“ in noch schwerwiegenderen Ausmaßen erlebt haben und sich einer psychischen Therapie unterziehen mussten, erklärten mir, dass meine Wahrnehmung durchaus wissenschaftlich begründbar sei: Nach Ansicht der Psychologen – ich gebe nur wieder, was mir zugetragen wurde – machen in vielen Fällen Gewaltopfer für das, was sie erlebt haben, sich selbst verantwortlich. Sie glauben sogar, die Gewalt, der sie ausgesetzt waren, verdient zu haben; dieses Gefühl sei ein verbreitetes seelisches Leiden. Es solle heilsam sein, sich dieses Gefühls und seiner Schamlosigkeit bewusst zu werden. Doch wie heilsam, das sei fraglich. Und ratsam sei, dies Gefühl nicht allzu laut hinauszurufen. Denn „normale“ Menschen, die „gewisse Ereignisse“ nicht erlebt haben, wurden dieses Gefühl nicht verstehen können.

Als ich dies erfuhr, wusste ich, dass zwischen Menschen, die „gewisse Ereignisse“ erlebt haben und den anderen eine unsichtbare Mauer besteht.

Jetzt, da ich am Strand von Rhodos sitze und in Gedanken verloren über diesen Zeilen grüble, beobachte ich unsere Ufer gegenüber und erinnere mich, dass es nun 15 Jahre her ist, als ich an mein jetziges Ufer gespült wurde und dort Anker geworfen habe.

An die Küsten, an die ich damals gespült wurde, warf mich kein blau schimmerndes Meer. Aber es gab wunderschöne Wälder, zwischen den Wäldern dahinfließende Autobahnen, Städte, die Berlin, Hamburg, München und Köln hießen; Flüsse mit Namen wie Elbe und Rhein. Carl Zuckmayer schrieb über den Rhein, an dessen Ufern ich hause: „Stellen Sie sich vor, wer alles seit Jesu Geburt über den Rhein -also der Mühle der Völker – gekommen ist. Zuerst kam ein römischer Feldherr mit einem blonden Mädchen lateinischen Blutes, es war ein dunkler Mann, gleich der Farbe der Olive. Und später gesellte sich ein jüdischer Gewürzhändler zur Familie – ein Mann, der noch vor der Heirat und bevor er Christ wurde, der erste war, der die katholische Lebensweise begründete. Ihm folgte ein hellenischer Arzt, später sind dann ein keltischer Legionär, ein Bauer aus dem italienischen Grenzgebiet, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein kasachischer Deserteur, ein Gerber aus dem Schwarzwald, ein durch die Lande ziehender Schäfer aus dem Elsass, ein Infanterist aus Ungarn, ein Wiener Offizier, ein französischer Schauspieler und ein böhmischer Musikant herübergekommen. Es waren auch Andere gekommen. Und alle haben am Rhein gelebt. Sie haben sich gestritten, sich betrunken, gesungen und Kinder gezeugt (…) Etwas Besseres ist nicht vorstellbar, mein Lämmchen. Denn die Völker haben sich dort vermischt; genau wie die Gewässer des Rheins, die aus den Quellen, Bächen, Flüssen mit leidenschaftlicher Wucht fließen …“

Nun war auch ich hier und als wir ein Jahr später in das am Waldrand gelegene Haus zogen, waren mein Sohn in sein achtes und meine Tochter in ihr drittes Lebensjahr getreten. Weil mein Sohn zur Schule ging, begann er innerhalb weniger Monate Deutsch zu sprechen. Meine Tochter wiederum hat bis zu unserem Einzug in das Haus am Waldrand in den Flüchtlingsunterkünften, in denen wir lebten, von bosnisch, russisch, persisch, kroatisch bis zu kurdisch und arabisch eine Menge Sprachen gelernt. Selbst jetzt, mit achtzehn Jahren, regelt sie überall mit den Worten, die sie vor fünfzehn Jahren gelernt hat, problemlos ihre Angelegenheiten. Ich selbst habe mir in dieser Zeit für mich allein so viele Worte und Verben, wie ich lernen konnte und grammatische Regeln, wie ich verstehen konnte, angeeignet und so für mich die deutsche Sprache entschlüsselt. Bücher konnte ich lesen, Anträge schreiben, aber den einfachsten Sätzen konnte ich keine Stimme geben. Sobald ich zum Beispiel das Wort „ich“ ausgesprochen hatte, blieb mir der deutsche Laut „ch“ wie eine Gräte im Hals stecken und ich begann zu husten.

Als ich meinen Fuß über die Schwelle des Hauses am Waldrand setzte, konnte ich nicht ahnen, was für eine Zukunft uns erwarten würde; aber ich fühlte, dass dies die Eingangspforte nach Deutschland, in die deutsche Gesellschaft sein würde. Bei uns befand sich Margret, die kein einziges Wort Türkisch sprach. Sie brachte uns mit ihrem Auto zum Haus am Waldrand und versuchte den Männern namens Jörg und Wolfgang, denen ich im Laufe der folgenden Jahre sehr nahe stehen würde, klar zu machen, was für eine liebenswerte Familie wir doch seien. Wir kamen in die Küche. Wolfgang Metzler trank weißen und Jörg Wockenfuß roten Wein. Aus Angst, taktlos zu erscheinen, haben wir weder den angebotenen Wein noch den Tee angerührt. Die Kinder konnten ihre Augen vom löwenmähnigen Wolfgang, den sie später als Onkel betrachten würden, nicht losreißen und um die Gesichtszüge des beinahe zwei Meter großen Jörg betrachten zu können, reckten sie ihren Hals, als ob sie in die Ferne, zu den Sternen, aufschauen würden.

Die Zeremonie des Kennenlernens mit Wolfgang und Jörg, die beide von ihren Frauen getrennt lebten und jeweils eine Tochter und einen Sohn hatten, dauerte mehrere Stunden. Mit Hilfe unseres „Tarzandeutsches“ haben wir schließlich das Leben begonnen, das „Wohngemeinschaft“ genannt wurde und in Deutschland eine verbreitete Art des Wohnens war, in der die Küche, das Wohnzimmer, das Bad und der Garten gemeinsam benutzt wurden und jeder ein Zimmer für sich hatte.

Mit unseren Freunden, von denen einer Lehrer und der andere Busfahrer war, teilten wir nunmehr unser Leben. Sie waren uns innerhalb kurzer Zeit so nah geworden, als hatten wir Vater und Mutter gemeinsam, und wollten von uns wissen, was uns an diese Ufer geschwemmt habe. Es war kein Versuch, Auskünfte über die politischen Gründe einzuholen. Sie interessierten sich dafür, welche persönlichen Erlebnisse zu unserer „Heimatlosigkeit“ geführt hatten. Sie wollten etwas mehr über die Menschen wissen, mit denen sie ihren Alltag teilten. Gegen diesen Wunsch gab es nichts einzuwenden, wir wussten nur nicht, wie wir von den uns widerfahrenen Geschehnissen erzählen sollten. Ich zum Beispiel wurde im Alter von 18 festgenommen, weil ich an einem Kiosk eine damals linke Zeitung – die heute rassistische Positionen vertritt – kaufte. Elf Tage lang wurde ich „befragt“; fünf Monate war ich dann im Gefängnis Toptasi, dass vor hundert Jahren als Pferdegestüt genutzt wurde, und in dem auch die Gefangenen von Yassiada ((Mitglieder der Regierung Menderes, die nach dem Putsch vom 27. Mai 1960 auf die Insel Yassiada, eine der Prinzeninseln vor Istanbul im Marmarameer, verbracht und dort zum Teil hingerichtet wurden.)) gewesen waren. Als ich auf freien Fuß gesetzt wurde, hatte ich nicht nur die Aufnahmeprüfungen für die Universität verpasst, sondern mir waren auch viele Wege versperrt, die mir das Leben hatte bieten können.
Seit jenem Tag war es mir nicht mehr möglich, meinen Frieden mit dem Staat der Türkischen Republik zu schließen.

Damals beharrte der Staat auf seinem Staatsein und ich auf meiner Widerspenstigkeit. Und ich wurde 10 Jahre später zusammen mit meiner Frau und unserem damals 16 Monate kleinen Sohn erneut „befragt“. Die „Befragung“ dauerte einen Monat. In diesem Monat wurden mein Sohn und meine Frau ins Krankenhaus verlegt. Meine Frau habe ich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht wieder erkannt. Meinen Sohn habe ich, da er noch während des Krankenhausaufenthaltes einem Verwandten übergeben wurde, lange Jahre nicht wieder gesehen. Als meine Frau ein Jahr später und ich drei Jahre später freigelassen wurden, waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden.

Wenn auch das Schreiben des „brotkrumenklein“ leichter ist als es zu werden, so kann ich doch die Natter, die sich seitdem in meinem Herzen breit gemacht hat, sofort spüren. Vier Jahre nach dem Ende meiner Haft haben wir die Türkei verlassen. Meine Erinnerungen an jene Tage habe ich einmal so beschrieben: „Ende 1991 erreichten wir unter Verwendung von gefälschten Pässen, an die wir mit Hilfe von Freunden gekommen waren, auf dem Luftweg Köln. Ich war mit meinem Sohn geflohen, meine Frau mit meiner Tochter. Die Erinnerungen meines Sohnes an die Tage unserer Flucht sind hinter einer Nebelwand zurückgeblieben. Er kann sich nicht daran erinnern, dass an jenem Tag vor Aufregung sein Fieber stieg; auch nicht daran, mich gefragt zu haben: „Papa, sind wir gerettet?“; ebenso wenig an meine Antwort (‚Wir sind gerettet.“). Seine einzige Erinnerung an jenen Tag ist, dass er in die Obhut seines Onkels Erdal kommen würde, falls man mich verhaftete. Die Flucht meiner Tochter mit ihrer Mutter verlief wesentlich schwieriger. Sie hatten am Flughafen zwar Verdacht auf sich gelenkt, doch durch die unglaublichen Quengeleien meiner Tochter haben sie noch den Kopf aus der Schlinge ziehen können. Als die letzten Passagiere haben sie es geschafft, das Flugzeug zu besteigen. Am Flughafen hat uns ein Ehepaar empfangen, das ich seit 15 Jahren nicht gesehen hatte und das heute noch zu meinen engsten Freunden zählt. Auch sie waren politische Flüchtlinge. Der Ehemann sagte: „Jetzt haben wir der Oligarchie noch ein Ei ins Nest gelegt“, woraufhin seine Frau nachdenklich erwiderte: „Es ist noch nicht heraus, wer hier das Tor geschossen hat!“ Sie hatte recht: Die im Exil leben, können das Spiel nicht gewinnen, sie werden immer die sein, die das letzte Tor kassieren.“ (Milliyet, 15/09/2000)

So habe ich wohl mit der Benutzung des Wortes „Exil“ das Gefühl einer dauernden Niederlage zum Ausdruck gebracht. Ich weiß nun, dass die heutige Bezeichnung jenes Gefühls „Fremde“ lautet.

Dass wir das, was uns widerfahren war, unseren Freunden, mit denen wir unser Leben teilten, nicht mitteilen konnten, lag nicht an unseren Sprachkenntnissen, es war das Erlebte selbst. Vielleicht habe ich aus diesem Grund Jahre währendes Schweigen dem Reden vorgezogen. Während der Jahre des Schweigens wurden in Solingen Türken, in Sivas Alewiten und Atheisten, in Bosnien Muslime verbrannt. Im Krieg mit den Kurden wurde grausam gemordet. In Ruanda wurde innerhalb von 100 Tagen eine Million Menschen getötet. Derweil im Haus am Waldrand: während ich Deutsch lerne, bringe ich meine kleine Tochter in den Kindergarten, meinen Sohn zur Grundschule. In unserer freien Zeit gehen wir auf Spielplätze, in Parks, an den Wochenenden ins Schwimmbad, ins Kino … Weil meine Frau einen nützlichen Beruf hat, durchläuft sie eine erneute berufliche Ausbildung nach deutschen Standards.

Kurz: Deutschland war unser neues „Heim“ geworden. So wie ein neues Heim für Kinder, die von ihren Eltern zuvor schlecht behandelt wurden, so war Deutschland eben ein „Heim“ für uns. Es waren etwas distanzierte Eltern, von denen ich wusste, dass es nicht meine richtigen Eltern waren. Aber sie haben mich gut behandelt, für meine Bedürfnisse gesorgt, mir Möglichkeiten geboten, wenn auch keine überschwänglichen Liebesbekundungen gezeigt. (Da ich bis zu meinem zwölften Lebensjahr an der Seite meiner Eltern eine glückliche Kindheit verbrachte, kenne ich den Unterschied zwischen richtigen Eltern und Pflegeeltern).

Es ist wohl so, dass ich die Türkei mit jenen Eltern assoziiere, von denen ich immer wieder in den Nachrichten auf der dritten Seite gelesen habe: Eltern, die ihre Kinder vernachlässigt, Eltern, die ihre eigenen Kinder misshandelt haben.

Während die Kinder in jenem Haus am Waldrand in Frieden aufwuchsen, haben wir Menschen aus nahezu allen sozialen Schichten kennengelernt, die uns glichen und alle erdenklichen Sprachen sprachen. Da es uns nicht kümmerte, ob wir Türken waren, haben wir Freunde aus verschiedenen Nationen kennengelernt, die es nicht kümmerte, ob sie Deutsche, Perser oder Araber waren und an deren Tür wir, ohne vorher anzurufen, jederzeit klingeln konnten. Wir achteten darauf, uns von den Rassisten und Nationalisten fernzuhalten. Das Glück war uns wohl gesonnen; wir hatten keine großen Schwierigkeiten, Arbeit für unseren Lebensunterhalt zu finden. Köln, die Stadt in der wir lebten, war dabei, Istanbul als der Stadt den Rang abzulaufen, in der ich am längsten gelebt hatte.

Trotz all dieser Entwicklungen konnte ich die Antwort auf eine Frage einfach nicht finden; ich wusste nicht, wo mein Platz in diesem Leben ist. Mit anderen Worten: ich wusste zwar, was ich nicht sein wollte, jedoch nicht was ich sein wollte.

In der Nacht des 28. Dezember 1995 habe ich beschlossen, Schriftsteller zu werden. Ich war zwar jemand, der noch keinen einzigen literarischen Satz geschrieben hatte, aber ich spürte, dass ich schreiben musste. Ich glaubte an die Worte Gabriel Garcia Marquez‘, wonach das Talent zum Schreiben erforderlich, aber entscheidend der hartnäckige Wille ist, am Schreibtisch zu sitzen und die nötige Geduld zum Arbeiten aufzubringen. In dieser Nacht habe ich nur eine Seite schreiben können. Auch in der folgenden Nacht habe ich eine Seite geschrieben. In der dritten Nacht waren es vier Seiten; bis zur zehnten Nacht hatte ich schließlich 200 Seiten geschrieben. Diese ersten 200 Seiten habe ich auf die Seite gelegt. Ich spürte, dass ich das Geheimnis vom Leben eines Romans gelüftet hatte. Nach diesen nicht zur Verwendung gekommenen 200 Seiten habe ich begonnen, die „Die verschwundenen Meere“ zu schreiben.

Das Schreiben war das Bemühen, jene zuvor erwähnte Wand zwischen mir und den Menschen zu überwinden. Es waren Tritte gegen den sich immer wieder aufrichtenden Kopf der „Natter“.

Acht Jahre später, am 14. Mai 1998 habe ich die Nachricht von meiner Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft erhalten. Ich muss wohl sehr verletzt und wütend gewesen sein, dass ich von oben herab, im Versuch, mein Haupt noch höher zu halten, schrieb: „Auf keinen Fall werde ich einen Antrag auf Wiederaufnahme in die Staatsbürgerschaft stellen!“ Ich muss geradezu herausgeschrieen haben: „Kein heiliger Staat wird mir mein Recht nehmen können, den Boden zu betreten, auf dem das Grab meiner Mutter liegt, auf dem meine Freunde leben!“ Voller Hoffnung kündigte ich an: „Auch wenn dieser verfluchte Despotismus und die Unbarmherzigkeit weiter bestehen sollten, werde ich auf jenen Boden zurück kehren, auf dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, auf dem ich mich zum ersten Mal verliebt habe. So wie ich diesen Boden aus eigenem Willen verlassen habe, werde ich, wenn der Tag gekommen ist, zu meinem Dorf gehen, im zweistöckigen Holzhaus meines Vaters, im Zimmer meiner Kindheit in den Gerüchen von Rosen, Fichten und der Mutter schlafen, bis die Morgensonne mich weckt.“ (Milliyet, 15/09/2000)

Im Finale von meinem Roman „Der letzte Traum der Madonna“ schaut der Erzähler, der ebenso wie ich in Köln lebt und einen Sohn und eine Tochter hat, vom Hafen von Constanta ((Rumänische Hafenstadt am Schwarzen Meer)) aufs Schwarze Meer. Sein Seelenzustand erinnert an den meinigen, als ich vor Jahren von den selben Ufern aufs Schwarze Meer schaute:

„Wenn ich vom Hafen von Constanta auf den Horizont schaute, sah ich den östlichsten Rand des Schwarzen Meeres, wo hinter Fichten-, Eichen- und Nadelwäldern, Tälern, wilden Flüssen und Bächen und den Märchenbergen, deren Gipfel das ganze Jahr über schneebedeckt waren, das Dorf, in dem ich zur Welt kam, lag. Vor Jahren betete Maria Puder – genau an dieser Stelle -: „Mein Gott, lass das Schwarze Meer gefrieren!“. Wenn jetzt tatsächlich die Wasser gefrieren würden, würde ich selbstverständlich die Grenze meines Heimatdorfes; die Weiden, auf denen Meryem gegrast hatte; das Feld, auf dem der Wolf angebunden war, der in Sergeant Nuris Falle tappte; und sogar das Zimmer, in dem meine Mutter lag, um mich zu gebären, erreichen. Das Haus meiner Geburt war sehr weit weg von den Ufern Constantas, aber schien doch so nah, als ob ich die Türklinke berühren könnte. Wenn nun das Schwarze Meer wirklich gefrieren würde und ich mich auf den Weg machte, würde ich am Ende nahe dem Kerker von Sinop, in dem vor vielen Jahren Sabahattin Ali gefangen war, an Land gehen. Wer würde es bemerken? Dann würde ich nach Samsun weitergehen und, genau wie mein Romanheld Ümit Bey eine Weile in dem Park mit der majestätischen Statue des auf seinem sich aufbäumenden Pferd sitzenden Kriegsveteran Mustafa Kemal Pasa Atatürk Rast machen. Ich hatte auch nicht wie Ümit Bey die Sorge, meinen Schatten zu verlieren. Es würde mich nicht kümmern, ob ich einen Schatten hätte. Auch hätte ich nicht wie Ümit Bey das Bedürfnis, drei Tage lang Rast in diesem Städtchen zu machen, in dem die Fichten den Hang herab bis zum Meeresufer wuchsen. Wahrscheinlich würde ich es auch nicht versäumen, bei meinem Schwiegervater, dessen elf blonde Töchter alle in ein fremdes Haus gezogen waren, vorbei zu schauen und ihm gute Nachricht von seiner Tochter und seinen Enkelkindern zu überbringen; im Morgengrauen würde ich mich auf den Weg begeben und in einer anderen Morgendämmerung würde ich den Ort, in dem ich zur Welt kam, das Dorf hinter Fichten-, Eichen- und Nadelwäldern, Tälern, wilden Flüssen und Bächen und den Märchenbergen erreichen. (…) Es sah jedoch nicht danach aus, dass das schwarze Meer gefrieren wurde.“
Das schwarze Meer gefriert nicht, aber der Erzähler betritt heimlich die Türkei und erreicht in der Morgendämmerung das Dorf. Nachdem er das Grab seiner Mutter besucht hat, während das Morgengebet vom Minarett gerufen wird, kommt er zum Haus. Der Roman endet in dem Zimmer, in welchem seine Mutter ihn zur Welt brachte:

„Als ich das Zimmer meiner Kindheit betrat, erwartete ich, von einer vom Mond erhellten Nacht empfangen zu werden. Am Himmel sollte Vollmond sein, und der Schnee sollte in dicken Flocken fallen. Eine morgendliche Melancholie legte sich über das Zimmer. Das Bett meiner kleinen Schwester und der grüne Schrank, in dem die Bücher aus den Lesestunden standen, waren noch da. Ich habe mich aufs Bett gestreckt. Bevor ich mit dem hoffnungsvollen Gefühl, dass morgen alles anders sein würde, in den Schlaf fiel, glitt lautlos meine Mutter herein.

„Hast du Alma gefunden?“, war ihre erste Frage.
„Ich habe sie gefunden, Mutter.“
„Hast du sie geheiratet?“
„Ich habe sie geheiratet.“
„Und zwei Kinder hast du?“
„Habe ich.“
„Wann wirst du zu ihnen zurückkehren?“
„Bevor das neue Jahr und das neue Jahrhundert beginnt.“
„Gut, wann wirst du dein Mütterlein wieder besuchen kommen?“
„Im Herbst Mutter, wenn die roten Winteräpfel blühen.“

Jetzt, an den Ufern von Rhodos, schaue ich mit derselben Sehnsucht zu unseren Ufern hinüber. Da ich kein Romanheld bin, kann ich nicht heimlich die Türkei betreten. Aber jeden Tag legt ein Schiff ab und macht sich an meinem Fenster vorbei auf den Weg zu unseren Ufern. Da es jeden Tag ablegt, ohne mich mitzunehmen, beobachte ich es mit gekränktem Blick.

Wenn ich gefragt werde, sage ich, dass ich im Herbst zurückkehren würde; wenn der Herbst sich nähert, verschiebe ich die Rückkehr auf einen anderen Herbst. Denn ich habe nicht die Kraft, mich dieser beängstigenden Möglichkeit zu stellen. Es ist nicht die Angst, wieder gequält und verhört zu werden. Die Gründe, die es erforderlich machen wurden, mich zu quälen und zu verhören, liegen lange zurück. Meine eigentliche Angst liegt darin, dass ich in das Land meiner Geburt zurückkehre und die Natter, die in meinem Herzen darauf wartet, ihr Haupt aufzurichten, nicht vertreiben, das Gefühl der „Fremde“ in mir nicht endgültig überwinden kann, nicht weiß, wer mich aus der Fremde in die Heimat, wer mich heim begleiten könnte. In dieser Lage muss ich die mitleidlose Realität hinnehmen: Die Fremde war für mich nicht ein Ort, nicht Deutschland oder die Türkei, sondern die Infragestellung ((Im Türkischen sind die Begriffe „Befragung“ und „Infragestellung“ identisch.)) meiner selbst (die türkische Bedeutung von ‚Infragestellung‘ liegt mir auf der Zunge, aber ich schaffe es nicht, sie zu Papier zu bringen).

Das war es, was mich heimatlos und bis zum Ende meiner Tage zum Leben in der Fremde verurteilt hat. Nach einer solchen Erfahrung ist es beängstigend, mir der unsichtbaren Mauer bewusst zu werden, die zwischen mir und jenen besteht, die diese Erfahrung nicht durchlebt haben. Denn wenn es zwischen mir und den Menschen unüberwindbare Mauern gibt und ich diese Mauer nicht für immer überwinden, mich nicht unter die Menschen mischen kann, wird das „Unrecht“ niemals aufhören zu existieren. Und ich weiß, dass die Türkei, die mich auf ewig zum Leben in der „Fremde“ verurteilt hat, nie mehr meine „Heimat“ werden kann. Eine noch furchterregendere Erkenntnis, die ein noch größeres „Unrecht“ benennt.

Aber wenn ich daran glauben könnte, dass niemand mehr gefoltert wird, und wenn doch, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden; wenn niemand mehr auf Grund seiner Meinung, ethnischen, kulturellen, religiösen, geschlechtlichen Neigung oder Zugehörigkeit ermordet wird; wenn dieser Glaube sicher würde und felsenfest, vielleicht wird dann eine Brücke zwischen meiner Fremde und meiner Heimat geschlagen werden, auch wenn sie so schmal und gefahrenvoll wie die Brücke zum Paradies sein mag.

Dann würde ich es ins Auge fassen, meine Herbstreise von der Fremde in die Heimat anzutreten.

Weitere Informationen: http://www.das-kulturforum.de
Foto: © Manfred Wegener