Jüdisches Leben in Memmingen nach 1945

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Im Dezember 1948 bezichtigte eine deutsche Vermieterin ihren polnisch-jüdischen Untermieter, ihr Kind mit Alkohol gefügig gemacht zu haben, um ihm anschließend Blut für rituelle Zwecke abnehmen zu können. Ein Anwalt stellte im Namen seiner Mandantin Strafanzeige beim Amtsgericht Memmingen. Das Gericht verhandelte den Sachverhalt in einer öffentlichen Sitzung…

Von Jim G. Tobias

Obwohl sich Juden – nach ihrer Vertreibung im Mittelalter – erst wieder in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Memmingen niederließen, war ihr Anteil an der ökonomischen Entwicklung der Stadt beachtlich. Die Hoffnung, dass der wirtschaftliche Erfolg mit gesellschaftlicher Akzeptanz einhergehen würde, erfüllte sich jedoch nicht. Zum Beginn der 1920er Jahre kam es zu ersten antisemitischen Ausschreitungen in Memmingen, die NSDAP-Ortgruppe entwickelte sich zu einer der stärksten und aktivsten in Bayern. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete eine nochmalige Steigerung der Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen, die schließlich in der Vernichtung endeten.

Nach dem Krieg kehrten nur vier Mitglieder der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Memmingen wieder in ihre Heimat zurück. Gleichzeitig siedelten sich Juden aus Osteuropa, deren Leben in ihren Heimatländern bedroht war, und befreite KZ-Häftlinge in der Stadt an. Diese Displaced Persons (DP) – zu Deutsch etwa: Entwurzelte und verschleppte Menschen – schlossen sich zu einer DP-Community zusammen. Ihr Aufenthalt war jedoch nicht auf Dauer angelegt. In zahlreichen westdeutschen Städten bildeten sich temporäre DP-Gemeinschaften und -Lager, in denen 184.000 Juden auf eine Emigration nach Palästina/Israel, in die USA oder andere klassische Auswanderungsländer warteten.

In Memmingen lebten über 100 Juden, die ausnahmslos in Wohnungen oder Häusern untergebracht waren, die ihnen von der US-Besatzungsmacht zugewiesen wurden. Grundlage dieser Zwangseinquartierung war eine Verfügung des US-Präsidenten. Das Zusammenleben von Tätern und Opfern gestaltete sich nicht immer einfach.

Der 1918 in Polen geborene Max G. bekam vermutlich Anfang 1946 zwei Zimmer in der Seyfriedstraße zugewiesen. Ein Jahr später zog seine Ehefrau Branka zu ihm. Dass die Hauswirtin, eine überzeugte Nationalsozialistin, ihren Untermietern nicht wohlgesonnen war, liegt auf der Hand. Mit allen Mitteln versuchte sie, sich der ungeliebten Mitbewohner zu entledigen. Eine uralte antisemitische Stereotype, dass Juden Christenblut zum Mazzebacken benötigten, half dabei: An Ostern 1947 (sie meinte offensichtlich das Pessachfest) soll ihrem vierjährigen Kind zunächst Wein von den Juden eingeflößt worden sein, so behauptete Bertha G., um dem Wehrlosen dann Blut abzuzapfen. Ihr Rechtsanwalt brachte diese absurde Beschuldigung zu Papier, zeigte das „Verbrechen“ beim Amtgericht Memmingen an und trug die aberwitzigen Beschuldigungen auf einer öffentlichen Sitzung am 2. Dezember 1948 vor.

Der Skandal ist im öffentlichen Gedächtnis der Stadt nicht dokumentiert. Weder das Stadtarchiv noch die Justizbehörden besitzen Unterlagen über das Verfahren. Auch in den Ausgaben der örtlichen Zeitung finden sich keine Hinweise auf diesen antisemitischen Vorfall. Im Archiv der jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation AJDC, New York, werden jedoch einige Dokumente aufbewahrt, die Aufschluss über dieses kaum nachzuvollziehende Agieren eines deutschen Rechtsanwalts und eines Richters Aufschluss geben.

„An Ostern 1947 veranstaltete der Beschuldigte in seiner Wohnung ein Fest, an dem auch das vierjährige Kind der Klägerin, ohne deren Erlaubnis, teilnahm“, gab Anwalt Heinrich A. zu Protokoll. „Als das Kind später heimkam, verhielt es sich sehr aufgedreht und unnatürlich.“ Zudem entdeckte die Mutter an seinem linken Arm einen Einstich, wie man ihn nach einer Blutentnahme feststellen kann. Weiterhin wurde ausgeführt: „Soweit der Klägerin bekannt ist, besteht ein Brauch in den Kreisen des Beklagten, nach welchem Ostergebäck ein Tropfen Christenblut zuzusetzen ist.“ Diese bizarren Anschuldigungen sorgten für große Aufregung und Protest beim deutschen Publikum. Der Gerichtsraum war überfüllt. Nur durch das beherzte Eingreifen der Militärverwaltung in Verbindung mit der lokalen Polizei und dem Bürgermeister konnten Ausschreitungen verhindern werden.

Mitarbeiter des AJDC nahmen sich der Sache an, stellten Strafantrag gegen Rechtsanwalt Heinrich A. und seine Mandantin Bertha G. Als Rechtsgrundlage diente das Bayerische Gesetz Nr. 14 gegen Rassenwahn und Völkerhass vom März 1946. Da keine Störung des öffentlichen Friedens vorläge, wies das Landgericht Memmingen diese Klage jedoch zurück. Erst nach Beschwerde beim Oberlandesgericht in München und starkem Druck der Militärregierung wurde am 19. Juli 1949 das Verfahren gegen Heinrich A. und Bertha G. vor dem Schöffengericht in Memmingen eröffnet. Bei ihrer Vernehmung bekräftige Bertha G. nochmals ihre Auffassung, dass Juden Blut für ihre Pessachrituale benötigten. Anwalt Heinrich A., ein ehemaliger SA-Mann, behauptete zudem, dass er überhaupt nichts über Judenverfolgungen während des NS-Regimes gehört habe. Nach Abschluss der Beweisaufnahme forderte die Staatsanwaltschaft für die uneinsichtigen Angeklagten Haftstrafen: Rechtsanwalt A. sollte 18 und Bertha G. acht Monate hinter Gittern.

Das Gericht setzte den 26. Juli 1949 als Termin für die Urteilsverkündung an. Die Mehrheit der im Gerichtssaal anwesenden deutschen Zuschauer äußerte deutliche Empörung über die Anträge des Anklägers. Das Gericht aber sprach beide Angeklagten von einem Vergehen gegen das Gesetz Nr. 14, das Rassenwahn und Völkerhass mit Strafe bedroht, frei. Die Angeklagten wurden lediglich wegen „übler Nachrede“ zu zwei beziehungsweise drei Monaten Haft verurteilt.

Gleichwohl gelang es den Juden in Memmingen kurzfristig eine lebendige jüdische Gemeinschaft mitten im Land der Täter aufzubauen, die durch das demokratisch gewählte „Jewish Committee“ in der Kramerstraße repräsentiert und verwaltet wurde: mit einer eigenen Berufsschule sowie einem Sportverein. Die Fußballer von Hakoach Memmingen spielten in der jüdischen Regional-Liga gegen die Teams von Bar Kochba Neu-Ulm, Makabi Leipheim, Hapoel Bad Wörishofen, Hatikwa Türkheim und Hapoel Lechfeld.

Mit Gründung des Staates Israel im Mai 1948 und der Lockerung der Einwanderungsbestimmungen in den USA und in Australien verließ die überwiegende Mehrheit der Juden Deutschland. Die jüdische DP-Gemeinde Memmingen löste sich vermutlich gegen Ende der 1940er Jahre auf. Max und Branka G. emigrierten im November 1949 in die USA.

Der Autor erforscht zurzeit die Geschichte der jüdischen Displaced Persons Camps und Gemeinden in Bayerisch-Schwaben. Im November 2011 erscheint „Nach der Shoa. Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951„. Weitere Informationen dazu finden Sie unter: http://nurinst.org/nurinst_org/proj_schwab.htm

1 Kommentar

  1. Erst einmal meinen Dank dem Autor und dem Forscher für den Artikel.

    Ich bin völlig empört darüber, dass sich „weder das Stadtarchiv noch die Justizbehörden“ des Verfahrens erinnert. Da muss es doch Unterlagen geben. Was sagt dnen das Justizministerium dazu?
    Und durch Nachforschungen muss sich doch feststellen lassen, wie die beiden Angeklagten be-/verurteilt wurden. Wieso eigentlich „Rechtsanwalt A.“, ehemaliger SA-Mann, und „Bertha G.“, überzeugte Nazionalsozialistin. Das ist Zeitgeschichte und da sollten die Namen schon erwähnt werden dürfen bzw. müssen. Schliesslich schreibt ja auch keiner über Adolf H. und seinen ‚Pressesprecher‘ Josef G.

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