Leiden und leiden lassen

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Vier paar dicke Socken und zwei Passions-Plüschesel – vermutlich einer der Standardeinkäufe an einem kalten, verregneten Tag in Oberammergau. „Seid’s auch bei dieser Passion“, fragt der Inhaber des Textilladens, Stephan Burkhart. Irgendetwas an seinem ironischen Grinsen hätte es verraten können, er selbst tut es nicht. Er gewährt lieber einen kleinen Rabatt, schließlich habe er ja etwas gelernt, bei dieser Passion, kassiert und entschwindet. Wenig später, nach der Pause, steht dieser Mann mit den kurz rasierten Haaren dann wieder auf der Bühne – er ist Pontius Pilatus, und er hat schlechte Laune: Mitten in der Nacht hat man ihn aufgeweckt. Es geht um die Verurteilung eines Gefangenen, eines Mannes, von dem er nie wieder hören wollte: Jesus von Nazareth…

Von Cornelia Fiedler

Burkhart ist einer von 2400 Oberammergauern, die sich einen Sommer lang der Passion verschrieben haben. Etwa die Hälfte der Dorfbevölkerung ist auf oder hinter der Bühne beteiligt, wenn das Leben und Sterben Jesu in einer über fünfstündigen Darbietung nach- und teilweise neu erzählt wird. Das alle zehn Jahre stattfindende Massenevent geht auf ein Gelübde aus dem Jahr 1634 zurück, dem Jahr, als die Pest in Oberammergau wütete. Christian Stückl, gebürtiger Oberammergauer, zum dritten Mal Passionsspielleiter und Intendant des Münchner Volkstheaters, zeigt eine Passion, die deutlich vom früher inszenierten Text abweicht. Dafür gibt es gute Gründe, denn das Laienstück war in den sechziger und siebziger Jahren heftig in die Kritik geraten und sogar boykottiert worden: Der Grund war die negative stereotype Darstellung der Juden. Ihnen wurde im althergebrachten Stück, das der Pfarrer Joseph Alois Daisenberger Mitte des vorletzten Jahrhunderts geschrieben hatte, ein guter, explizit als nicht jüdisch gezeichneter Jesus, umgeben von den zwölf ersten Christen, gegenübergestellt. Der römische Statthalter Pilatus stand auf seiner Seite, kam aber gegen die Juden nicht an. Die Quintessenz lautete: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ – ein Satz, mit dem die Gesamtheit der Juden die Schuld für den Tod des Messias auf sich genommen und sich selbst verflucht haben soll.

Heute bietet sich ein anderes Bild auf der Bühne des mit fast 5000 Menschen vollbesetzten Passionstheaters: Schon beim ersten Auftritt der römischen Besatzer, die die Anhänger Jesu mit harschen Worten in die Schranken weisen und sich aufführen, wie man es von bayerischen Polizisten auf Demos kennt, ist klar, wer hier die Macht hat; ist klar, dass die jüdische Obrigkeit bestenfalls geduldet wird. Mehr noch als die Machtdemonstrationen der Militärs spiegelt dies der kurze Auftritt des König Herodes: Ein durchgeknallter, selbstherrlicher Sadist schaut bei der Verurteilung Jesus vorbei. In jedem Arm hält er eine Frau, um die Schultern wallt ein futuristisch-glänzender Goldmantel mit spitzen Schulterpolstern – ein Typ zwischen Muammar Gaddafi und Gary Oldmans Zorg in „Das fünfte Element“. Vom ersten Moment an ist klar, dieser Mann ist völlig unberechenbar. Markus Köpfs Herodes ist gefährlicher und faszinierender als all die brüllenden Priester und Römer um ihn herum. Seine geschmeidigen Bewegungen, die helle Stimme, die fast sanfte Sprechweise ziehen einen in ihren Bann, machen selbst die Zuschauer in den hinteren Reihen glauben, ein irres Leuchten in diesen Augen zu sehen. Er taucht auf, möchte vom gefangenen Jesus ein paar Wunder sehen, langweilt sich, quält sich ein bisschen und verschwindet wieder.

Die römischen Besatzer, vertreten durch Pilatus, sind es, die die jüdischen Priester von Anfang an unter Druck setzen: Sollte Unruhe in der Stadt ausbrechen, droht Pilatus im ersten Auftritt – und das stehe zu befürchten, falls dieser Galiläer weiter predigen dürfe –, werde das römische Heer rücksichtslos einschreiten. Kaiphas, Repräsentant der jüdischen religiöse Obrigkeit, bleibt keine Wahl: Er kann einen einzigen Menschen, Jesus, opfern. Oder er muss riskieren, dass Pilatus beim geringsten Anlass mit blutigen Methoden für „Ruhe in diesem gottverdammten Land“ sorgt.

Auf der Ebene der Figuren haben Stückl und Huber viel geleistet, um antisemitische Klischees und Traditionen aus der Passion zu verbannen. Der größte Schritt besteht darin, Jesus als einen jüdischen Reformer zu zeigen: Er wird als Rabbi angesprochen, er betet auf Hebräisch, er feiert das Pessachfest. Andreas Richter, im echten Leben Psychologe, spielt einen ruhigen, nachdenklichen Jesus, der die Konfrontation mit den Schriftgelehrten sucht und ein Umdenken innerhalb des Judentums fordert. Umgeben ist er von begeisterten Anhängern, ihn nicht immer verstehe, aber Großes erwarten. Vielleicht sogar ein Ende der römischen Besatzung.

Den Judas inszeniert Stückl als besten Freund Jesu, einen Eiferer, der Jesus fordert, ihn siegen sehen will. Seinen Verrat begeht er aus Enttäuschung. Und naiv wie er offenbar ist, lässt er sich vom Hohepriester Kaiphas glaubhaft versichern, man wolle nur mit Jesus reden, ihm aber gewiss nichts antun. Kaiphas selbst begegnet Jesus zunächst duldsam, lässt ihn reden, lässt sich sogar auf theologische Debatten ein. Aber er ist nur das religiöse Oberhaupt und er wird tun, was er für erforderlich hält, um seine Glaubensgenossen zu schützen.

Doch auch diese Passion lässt Raum für judenfeindliche Phantasien, schafft es nicht, alle Klischees und Vorurteile zu umgehen. Dies geschieht in einigen konkreten, und damit auch reformierbaren Momenten des Stücks. Etwa in einer Passage der Szene „In Bethanien“: Jesus kündigt den Jüngern sein Leiden und Sterben an. Die sind verwirrt, verärgert, verängstigt. Doch dann entpuppen sie sich als schnöde Materialisten: „Wenn du uns wirklich verlassen willst, dann triff doch zuerst Anstalten für unsere künftige Versorgung!“, fordert Judas, nicht eben sprachlich gewandt, und die anderen stimmen ein. Da ist sie, die „jüdische“ Krämerseele, die Angst ums Geld. Einige Szenen später, als Judas die 30 Silberlinge wegwirft, stürzen sich diverse geistliche Würdenträger darauf.

Mit einer kleinen Umfrage im Bekanntenkreis lässt sich schnell herausfinden, dass die Assoziation von Geld (heute gerne von Banken) und Juden das postnazistische Läuterungsgebaren problemlos überlebt hat. Solche kleinen Unnötigkeiten in der Inszenierung sind interpretier- und reparierbar. Am Gesamteindruck des inzwischen zum dritten Mal von Stückl revolutionierten Oberammergauer Passionsspiels wird dies nicht viel verändern. Und der ist kein sehr freundlicher: Jesus, sein Jüdischsein hin oder her, wird die zweite Halbzeit lang von Juden gequält, verspottet, verurteilt und ein Massenauflauf, deutlich größer als der am Palmsonntag, fordert seinen Tod. Dies alles ist schlicht und ergreifend der Inhalt der Passion und lässt sich nicht einfach umschreiben.

Nun war das Ganze aber kein Plan der Juden, sondern Gottes. Der kam auf die Idee, seinen Sohn gehörig leiden und dann, mit den Sünden der ganzen Welt beladen, ans Kreuz schlagen zu lassen. Eine seltsame Religion ist das, die aus diesen Vorfällen in Jerusalem hervorgeht, die von Anfang an auf einem barbarischen Akt gründet. Es wird auch diese neue Religion sein, in deren Namen Kreuzzüge geführt und eine Reihe von Menschheitsverbrechen begangen werden. Und so bleibt es auch eine seltsame Geschichte, die die Passionsspiele erzählen. So sehr man es dieser Dorfgemeinschaft gönnt, ein Jahr in christlichem Ausnahmezustand zu verbringen, an einem Projekt zu arbeiten, das zusammenschweißt wie kein anderes. So gut die Inszenierung in einigen Momenten ist und so beeindrucken das gigantische Aufgebot. Vielleicht wäre es an der Zeit, eine neue Geschichte zu erzählen, Gelübde hin oder her, die alte ist zu Ende reformiert.

Dieser Artikel erschien zuerst bei cult:online – Die Onlineausgabe der Kulturzeitung der Bayerischen Theaterakademie, 16.07.2010.

1 Kommentar

  1. Unverständlich ist und bleibt die Unfähigkeit der Christen sich von den antisemitischen Wurzeln ihres Glaubens und ihrer Kirchen zu lösen. Deswegen kann man nicht als denkender Mensch das Christentum lieben, nicht mal verstehen.
    Dafür kann der historische Jesus nicht, dass man ihn auf diese Art und Weise seit über 2000 Jahren beleidigt.

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