„Wir müssen aus der Opferecke raus“

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Das von der taz in die Wege geleitete Streitgespräch von Iris Hefets und Stephan Kramer, stand unter dem Titel „Kann Israel jüdisch sein und demokratisch zugleich? Wer spricht für die Juden in Deutschland? Wie weit darf Israelkritik gehen?“…

Moderation: Ines Pohl, Daniel Bax und Stefan Reinecke

taz: Herr Kramer, gibt es einen Antisemitismus in deutschen Leitmedien?
Stephan Kramer: Den gibt es. Warum muss ein Artikel über den Nahen Osten mit einem Foto des US-Präsidenten illustriert werden, der im Oval Office von ultraorthodoxen Juden umgeben ist? Das legt nahe, dass die USA von einer jüdischen Lobby dominiert werden. Und warum spricht man von jüdischen Siedlungen, wenn es um Israels Siedlungen im Westjordanland geht?

Was ist daran falsch? Muslime leben dort ja keine.
Kramer: Ich finde, dass man da begrifflich differenzieren muss. Denn wenn Sie es nur unter „jüdisch“ abbuchen, nehmen Sie alle Juden für diese Siedlungspolitik in Generalhaftung.

Iris Hefets hat in einem Artikel, der in der taz erschien, die Instrumentalisierung des Holocaust durch die israelische Politik angeprangert. Ist das für Sie ein Beispiel für Antisemitismus in der deutschen Presse?
Kramer: Nein. Mir gefällt ihre polemische Art nicht. Aber ich gebe ihr zumindest dahin gehend recht, dass der Holocaust von einzelnen Mitgliedern der israelischen Regierung und Teilen der israelischen Gesellschaft für politische Zwecke benutzt wird. In der Debatte über die atomare Bedrohung durch den Iran gab es Plakate, die Ahmadinedschad vor dem Tor von Auschwitz zeigten. Das geht nicht. Es gibt eine reale Bedrohung durch den Iran. Aber es ist falsch, diese als zweiten Holocaust darzustellen. Ahmadinedschad ist nicht Hitler.

Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin hat gesagt, Iris Hefets sei eine „Antijüdin“, mit der es keinen Dialog geben könne.
Kramer: Nun, ich sitze hier und spreche mit ihr.

Warum gibt es in der Jüdischen Gemeinde überhaupt so eine Aufregung über Hefets?
Kramer: In einer bestimmten Generation von Juden ist das Gefühl tief verwurzelt, dass man öffentlich nichts Kritisches über Israel sagen darf, weil das nur missverstanden wird. Wir müssen die Verteidigungslinie halten, sonst schwächen wir den Staat Israel und das jüdische Volk, heißt es. Wenn sich jemand wie Hefets so kritisch äußert, wird dies als Provokation verstanden.

Frau Hefets, wollten Sie mit Ihrem Text provozieren?
Iris Hefets: Ich wollte gehört werden. Israel beansprucht, für alle Juden zu sprechen. Der Zentralrat der Juden beansprucht, für alle Juden in Deutschland zu reden. Ich bin Mitglied der Organisation „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden“. Wir sagen: Ihr sprecht nicht in unserem Namen.

Was stört Sie denn am Zentralrat der Juden?
Hefets: Der Zentralrat wird vom deutschen Staat finanziert, um das religiöse und kulturelle Leben der Juden in Deutschland zu organisieren. Nicht um als verlängerter Arm der israelischen Botschaft aufzutreten.

Kramer: Das tun wir auch nicht. Wir haben als Zentralrat zum Beispiel sehr deutlich gesagt, dass wir die Siedlungspolitik nicht unterstützen können, weil sie nichts zur Sicherheit des Staates Israel beiträgt – im Gegenteil.

Hefets: Aber wenn Sie als Zentralrat der Juden Zeitungsanzeigen veröffentlichen, die den Angriff auf Gaza verteidigen, dann geht das schon in diese Richtung. Vielleicht können Sie mir mal erklären, was so jüdisch daran ist, wenn israelische Piloten an einem Samstagmorgen während der Chanukka-Feiertage – also an Sabbat, wenn Gott Pause macht – einen Platz bombardieren, auf dem sich palästinensische Polizisten versammelt haben? So hat im Dezember 2008 der Angriff auf Gaza begonnen. Und die jüdische Gemeinde in Deutschland verteidigt so was.

Kramer: Wir haben nicht den konkreten Fall verteidigt, sondern das Recht und die Pflicht Israels, seine Staatsbürger vor Raketenterror aus dem Gazastreifen zu schützen. Wir haben auch nicht gesagt, dass wir alles verteidigen wollen, was sich in Israel abspielt. Es geht uns aber um eine grundsätzliche Verbundenheit und dass man Anteil nimmt an dem, was in Israel passiert. Dass man sich eben nicht zurückzieht und sagt, wir sind Juden in der Diaspora, uns ist das völlig egal.

Hefets: Mir ist Israel auch nicht egal. Ich und meine Kinder sind doch direkt von dem betroffen, was dort passiert. Deswegen bin ich ja nach Deutschland gekommen. Und gerade deshalb ist es mir wichtig, dass man unsere Kritik in Deutschland zur Kenntnis nimmt.

Frau Hefets, Sie sind vor acht Jahren aus Israel nach Berlin gezogen. Verwandte von Ihnen sind im Holocaust umgekommen. Warum kamen Sie ausgerechnet nach Deutschland?
Hefets: Ich bin mit einem Deutschen verheiratet, der in Israel gelebt hat und dort eigentlich sehr zufrieden war. Ich aber wollte aus politischen Gründen weg. Es gibt viele Israelis, die derzeit nach Berlin kommen – ausgerechnet! Ich glaube, dass wir Israelis hier etwas zu sagen haben.

Was war so schlimm an Israel?
Hefets: Ich habe mich in Israel zu sehr als Mittäter gefühlt. Ich konnte politisch nicht so aktiv sein, wie ich wollte, und wollte auch nicht, dass meine Kinder mit dieser Vernichtungsangst aufwachsen, die offiziell genährt wird: Alle sind gegen uns, alle wollen uns vernichten. Viele junge Israelis nennen den offiziellen Holocaust-Gedenktag, der jedes Jahr im Frühjahr begangen wird, nur noch „Iran-Tag“ – weil da immer vor der Gefahr aus dem Iran gewarnt wird. Das hat nichts mehr mit Erinnerung zu tun – hier wird ein Trauma ausgelebt.

Wie meinen Sie das?
Hefets: Piloten der Luftwaffe kommen von einem demonstrativen Flugmanöver über Auschwitz zurück und sagen im Fernsehen: Man versteht, dass der Feind von damals der gleiche Feind wie heute ist. Wenn aber ein Pilot über Gaza oder Libanon seine Bomben abwirft und glaubt, er würde damit etwas wieder gutmachen, dann ist das krank. Israel ist eine psychotische Gesellschaft. Und dagegen müssen wir etwas tun – weil es eine Gefahr für die eigenen Leute darstellt.

Darüber haben Sie in der taz geschrieben – nicht in der Jüdischen Allgemeinen oder der israelischen Zeitung Haaretz. Haben Sie keine Angst vor Beifall von den falschen Seite?
Hefets: Nein. Wenn man Kritik an Israel nur der rechten Szene überlässt, wird es gefährlich. Es ist immer falsch, legitime Kritik zu unterdrücken.

Stört es Sie nicht, wenn Ihnen Nazis applaudieren?
Hefets: Doch, natürlich. Als wir zum Beispiel eine Anzeige gegen den Angriff auf Gaza verfasst haben, gab es Leute, die sie kostenlos veröffentlichen wollten. Das waren dunkelbraune Gruppen, deshalb haben wir entschieden Nein gesagt. Natürlich wollen Nazis uns benutzen. Davon grenzen wir uns klar ab, indem wir uns gegen jede Diskriminierung wenden – egal ob es gegen Juden, Schwarze oder Schwule geht.

Schreiben Sie in Israel und in Deutschland das Gleiche?
Hefets: Mein Artikel ist auch auf Hebräisch erschienen. Die meisten positiven Reaktionen gab es auf den Satz „Bevor ein junger Israeli zur Armee geht, muss er mindestens einmal Suff, Sex und eine Auschwitzreise erlebt haben. Dann kann er zur Armee gehen und danach in Indien ausflippen.“ Genau das kennen viele in Israel.

In Deutschland wirkt gerade dieser Satz anstößig.
Hefets: Ich richte mich nicht danach, ob jemand diesen Satz falsch verstehen kann. Ich habe diese Angst nicht. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich in Israel groß geworden bin. Ich habe nicht die Erfahrung, als Jüdin in der Minderheit zu sein.

Kramer: Offensichtlich waren Sie aber mit Ihren Ansichten in Israel in der Minderheit. In einem Punkt hat Frau Hefets aber recht. Wir dürfen uns nicht aus der Debatte stehlen aus Angst, dass eine Position den Falschen nutzen könnte. Das gilt auch für die jüdische Gemeinde.

Inwiefern?
Kramer: Es gibt einige Juden, die gern unter der Fahne segeln „Ich bin Jude: Vorsicht, nicht berühren, nicht kritisieren, ich darf das.“ Ich halte das für problematisch. Wir brauchen keine Immunität, um unsere Meinung offen zu sagen. Viele Juden in Deutschland haben ja selbst Probleme, jede politische Entscheidung der israelischen Regierung mitzutragen oder gar zu verteidigen. Aber aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus nimmt man schon mal reflexhaft eine Verteidigungshaltung ein, die nicht völlig der eigenen Überzeugung entspricht, sondern dem Gefühl geschuldet ist, ständig in der Defensive zu sein. Und das ist falsch.

Was schlagen Sie vor?
Kramer: Ich finde, wir müssen innerhalb der jüdischen Gemeinde offen über solche Dinge sprechen. „Wir haben alle eine Meinung und sind uns alle einig“ – das passt sowieso nicht zum Judentum. Aber die jüdischen Gemeinden hier sind einfach sehr verunsichert. Erst wurden sie von der Mehrheit der russischsprachigen Zuwanderer vor eine existenzielle Integrationsaufgabe gestellt. Und jetzt kommen auch noch diese „Friedensisraelis“ daher, die diese heilige Kuh schlachten wollen, dieses Identifikationssymbol Israel angreifen und oftmals mit ihrer Kritik völlig übers Ziel hinausschießen.

Hier eine polemische, selbstbewusste Kritik – dort die eingeschnappte Reaktion einer Minderheit, die sich in einer Opferrolle sieht: Ist das die Folie für den Streit über den taz-Artikel von Iris Hefets?
Kramer: Ich denke, solche harten Debatten sind Teil eines wichtigen Emanzipationsprozesses der jüdischen Gemeinschaft – und deshalb werden wir, glaube ich, noch viele solche Diskussionen erleben. Die Schoah, der Holocaust, bleibt wichtig für uns. Ich will aber keinen Juden-Holocaust-Bonus haben und würde auch nie auf die Idee kommen, ihn einzufordern. Entweder habe ich gute Argumente für die Position, für die ich eintrete – oder eben nicht. Wir kommen als jüdische Gemeinschaft in Deutschland langfristig nur weiter, wenn wir aus dieser Opferecke rauskommen – und zwar selbstbewusst.

Herr Kramer, Sie sind als Deutscher zum Judentum übergetreten. Warum?
Kramer: Weil für mich das Judentum nach einer Phase der Identitätssuche ein Stück weit Heimat und Familie geboten hat. Erst später ist dann die Heirat mit einer Jüdin dazugekommen. Das war für mich rational und emotional die Antwort auf einen sehr langen, persönlichen Entwicklungsprozess.

Plädieren Sie so stark für Öffnung und Pluralität, weil Sie konvertiert sind?
Kramer: Offenheit und Pluralität sind tragende Säulen des Judentums. Da knüpfe ich höchstens an alte Traditionen an. Ich habe mir aber lange überlegt, ob ich mit meinen Stellungnahmen zurückhaltender sein muss. Meine Meinung spiegelt schließlich nicht immer den Mainstream innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wider. Aber ich habe schon immer meine Meinung gesagt – und meine Überzeugung kann ich nicht einfach wie ein Kleidungsstück ablegen.

Wird Ihnen oft die Legitimität, als Jude zu reden, abgesprochen, weil sie konvertiert sind?
Kramer: Das Argument taucht regelmäßig von denselben Personen auf. Am Anfang hat es mich geärgert – zumal die Bezugnahme auf die Konvertierung im Judentum ausdrücklich verboten ist. Aber mittlerweile juckt mich das nicht mehr.

Warum ist Israel vielen Juden in Deutschland so heilig?
Kramer: Es gibt diese universelle Sehnsucht nach Zugehörigkeit, bei Juden wie allen anderen Menschen auch – das ist nichts spezifisch Jüdisches. Für manche ist Israel sicher eine Ersatzidentifikation, weil sie in Deutschland trotz aller Bemühungen das Gefühl haben, fremd zu sein. Ich finde, das Judentum sollte wie eine Familie sein. Da zofft man sich gelegentlich – aber die Familie verlässt und verstößt man auch nicht.

Hefets: Das klingt zwar sehr schön, und da steckt auch viel Jiddischkeit drin. Aber ich finde dieses Bild auch gefährlich: Israel ist ein Staat, und es geht hier um Politik und um Menschenrechte. Da kann es nicht sein, dass man sagt: Okay, mein Sohn hat zwar jemanden ermordet – aber ich bin dagegen, dass er ins Gefängnis geht, weil er einfach mein Sohn ist und wir eine Familie sind, egal was passiert.
Kramer: Das habe ich auch nicht gesagt.

Hefets: Aber wie können Sie das, was in Gaza passiert, als israelische Selbstverteidigung bezeichnen?
Kramer: Wir äußern uns doch wesentlich differenzierter. Nehmen Sie das Beispiel der Gaza-Flottille: Man kann den israelischen Soldaten dort nicht einfach pure Mordlust vorwerfen. Sie waren einem Mob ausgesetzt, der, mit Eisenstangen und Messern bewaffnet, versucht hat, sie zu lynchen. Den Soldaten kann ich da nach meinem heutigen Kenntnisstand keinen Vorwurf machen. Aber diejenigen, die sie trotz Kenntnis der Bedrohungslage dorthin geschickt haben, die müssen zur Verantwortung gezogen werden. Ziemlich klar scheint mir, dass die Soldaten niemals hätten an dieser Stelle eingesetzt werden dürfen.

Hefets: Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, die Verantwortlichen seien in den höheren Rängen zu finden. Aber das Problem geht noch weiter. Die Israelis fühlen sich, als stünden sie mit dem Rücken zur Wand. Deshalb schicken sie ihre Soldaten auf so eine Mission. Und Sie als Zentralrat unterstützen diese Haltung!
Kramer: Das tun wir nicht. Und ich bin jetzt mal ein bisschen schnodderig: Ich sehe Israel militärisch gar nicht in seiner Existenz bedroht, weil die israelischen Fähigkeiten, sich zu verteidigen, wenn es sein muss, so gut sind; da können sich andere eine Scheibe von abschneiden. Was mir größere Sorgen macht, ist, was sich derzeit politisch und gesellschaftlich in Israel abspielt. Mein Eindruck ist, dass Israel mit dieser Regierung auf dem Weg in einen Staat ist, in dem ultraorthodoxe und ultranationalistische Kräfte immer mehr an Einfluss gewinnen.

Hefets: Das Problem ist, dass Israel jüdisch und demokratisch sein will – und beides nicht zu vereinbaren ist. Es kann nie ganz demokratisch sein, wenn es jüdisch ist. Und umgekehrt. Das hat es mit der „islamischen Republik“ im Iran gemein. Aus diesem Grund verzichte ich langsam auf meinen Traum, nach Israel zurückzukehren.
Kramer: Tun Sie es nicht!

Unter welchen Bedingungen hat Israel eine Zukunft?
Hefets: Ich glaube, dass Israel nur dann eine Zukunft hat, wenn es auf seine kolonialistische Einstellung verzichtet. Ehud Barak hat sie in die Worte gefasst, Israel sei „eine Villa im Dschungel“. Das bedeutet, dass wir uns dort immer vor den Barbaren schützen müssen. Dann aber haben wir keine Zukunft. Wir müssen uns in die Region integrieren. Israelis sollten Arabisch lernen – nicht, wie jetzt, als Sprache des Feindes, nur zu militärischen Zwecken. Sondern so, wie die Holländer Deutsch lernen. Aber wir Israelis verachten die arabische Kultur, ohne viel von ihr zu wissen. Dafür bewundern die meisten die deutsche Kultur, die sie vernichtet hat. Das ist verrückt.

Heißt das, dass Israel ein binationaler Staat werden sollte, in dem Juden nicht mehr die Mehrheit bilden?

Hefets: Mir gefällt es, dass Juden mit Israel einen Ort haben, an dem sie etwa den Samstag als Feiertag spüren können. Ich habe auch gute Erfahrungen damit gemacht, nicht in der Minderheit zu sein. Aber wir müssen auch anerkennen: Wir sind in ein Land gekommen, das nicht unseres ist. Das gilt auch für mich, obwohl die Familie meines Vaters schon seit sechs Generationen in Israel lebt. Aber meine Mutter ist eingewandert, wie die meisten Israelis. Wir haben das Land auf Kosten der Palästinenser aufgebaut.

Kramer: Das sehe ich nicht ganz so. Israel wurde aufgrund eines Beschlusses der Vereinten Nationen ausdrücklich als ein jüdischer Staat aufgebaut. Aber wir dürfen Israel nicht den Fanatikern und Fundamentalisten überlassen – das ist, glaube ich, unsere Verpflichtung. Und wir müssen uns die Frage stellen: Was heißt „jüdischer Staat“? Jüdisch im religiösen oder im ethnischen Sinne? Ich glaube, wir sind alle aufgerufen, zu hinterfragen, neu zu definieren und um all die anderen Aspekte zu bereichern, die Judentum und Jüdischkeit ausmachen. Sodass sich auch nichtjüdische Bürger zu diesem jüdischen Staat zugehörig fühlen können.

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