Im Kreise jüdischer Mystiker

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Von Jerusalem nach Berlin und wieder zurück…

Es handelt sich um die Übersetzung des Interviews mit Prof. J. Dan, das der israelische Journalist Yair Sheleg am 23.10.2008 in der englischsprachigen Ausgabe von „haAretz“ veröffentlichte. Die deutsche Fassung des Interviews wurde unter Berücksichtigung der seit 2008 neu erschienenen Bände der „Geschichte der jüdischen Mystik und Esoterik“ aktualisiert. Die Übersetzung entstand aus Anlass des 75. Geburtstags von Prof. Dan, der von 1993 bis 2002 in jedem Sommersemester als Gastprofessor am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin brillante Lehrveranstaltungen auf Ivrit oder Englisch abgehalten hatte und gern auch auf in Deutsch gestellte Fragen eingegangen war. Er ist seinen damaligen Studierenden in dankbarer und fruchtbringender Erinnerung geblieben.

Übersetzung: Manuela Petzoldt

Professor Joseph Dan, 75, gehört zu den renommiertesten Forschern auf dem Fachgebiet der Jüdischen Mystik. Jeden Morgen steht er zwischen 5.00 und 6.00 Uhr auf, liest die Zeitung, hört die 7-Uhr-Nachrichten im Radio und macht sich darauf an die Arbeit. „Ich bin ein Morgenmensch“, sagt er, „die Morgenstunden sind meine besten. Normalerweise habe ich mir am Nachmittag oder Abend vorher mein Arbeitsmaterial zurecht gelegt, sodass morgens Bücher und Artikel schon auf meinem Schreibtisch bereit liegen und ich gleich mit dem Schreiben für ein paar Stunden beginnen kann.“ Sollte jemand denken, er opfere sich für die Wissenschaft auf, stellt er schnell richtig: „Ich bin kein Mönch. Gegen 17.00 oder 18.00 Uhr kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Dann gehe ich aus, treffe mich mit Freunden oder sehe fern. Ich habe keinen Hang zur Askese und möchte nicht den Eindruck erwecken, ich hätte mich völlig der wissenschaftlichen Betätigung verschrieben. Im Gegenteil, meine Arbeit hält mich lebendig.“

In den vergangenen elf Jahren hat Prof. Dan in diesem Rhythmus gelebt. Als erstes Ergebnis konnte er im September 2008 die ersten drei Bände des Monumentalwerks „Toledot Torat haSod haIvrit“ („Geschichte der Jüdischen Mystik und Esoterik“) in Kooperation mit dem Zalman-Shazar-Zentrum für Jüdische Geschichte in Jerusalem veröffentlichen. Schon im darauffolgenden Jahr, im August 2009, erschien der vierte Band und wurde zur Eröffnung des Weltkongresses für Jüdische Studien in Jerusalem vorgestellt. Bei diesem umfassenden Buchprojekt handelt es sich um nichts Geringeres als den Versuch eines einzelnen Menschen, eine Gesamtgeschichte der Jüdischen Mystik zu verfassen: nicht etwa nur als gedrängte Zusammenfassung, sondern als ausgereifte wissenschaftliche Darstellung mit einigen Verkürzungen um der Lesbarkeit willen, doch akademisch präzise im Detail. Die ersten drei Bände beziehen sich auf die Antike vom Beginn der Zeit des Zweiten Tempels bis zum Ende der Talmudischen Epoche am Übergang zum Mittelalter. Joseph Dan kann nicht sagen, wie viele Bände insgesamt erforderlich sein werden, er möchte sich nicht festlegen: „Ich habe das Gesamtbild bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vor Augen. Aber in meinem Alter nimmt man nur mehr Dinge in Angriff, die sich in naher Zukunft fertig stellen lassen.“

Nach eigener Aussage ist Prof. Dan an den Exekutiv-Direktor des Zalman-Shazar-Zentrums, Zvi Yekutiel, mit dem Vorschlag herangetreten, ihm die ersten drei Bände zur Veröffentlichung vorzulegen. Er tat dies allerdings „erst, als sie schon fast abgeschlossen waren, und bis heute habe ich in dieser Angelegenheit keinen Vertrag unterschrieben. So werde ich es auch weiterhin halten: Ich werde keine Verpflichtung übernehmen, die ich nicht mit Sicherheit werde erfüllen können.“

Im September 2008 lag der vierte Band, der als Eröffnungsband für das Mittelalter konzipiert ist, dem Verlag bereits vor, und Prof. Dan hatte mit der Ausarbeitung des fünften Bands begonnen. Daher konnte er zu jenem Zeitpunkt zustimmen, im ersten Band darauf hinzuweisen, dass das Projekt auch das Mittelalter einschließen soll. Was die späteren Epochen betrifft, wollte er jedoch keine Zusage machen: „In meinem Alter liegt alles in Gottes Hand.“

Nach eigener Einschätzung kann Joseph Dan zurzeit jedes Jahr ca. 1 – 1 ½ Bände ausarbeiten. „Ich sollte wohl ganz ehrlich sagen, dass dieses Projekt über das hinausgeht, was ich angesichts des natürlichen Laufs der Dinge noch zu erreichen hoffen darf“, fügt er hinzu. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es jemand anderes zum Abschluss bringen.“

Bedauern Sie das?

„Überhaupt nicht. Vergessen Sie nicht, dass ich schon sechzig Bücher geschrieben habe. So bin ich davon überzeugt, über die Hälfte, vielleicht sogar 90 % meiner Wünsche erfüllt zu haben. Und auch zu diesem aktuellen Projekt konnte ich bisher weitaus mehr als nur einen Einstieg, nämlich schon den größten Teil beitragen.“

Noch im Sommer 2010 werden der fünfte und der sechste Band gleichzeitig veröffentlicht, die inhaltlich eine Einheit bilden, insofern sie von der Bewegung der „Chasside Ashkenaz“ (den „Frommen Deutschlands“) handeln. Beide Bände sind seit einigen Monaten fertiggestellt. Außerdem beabsichtigt Prof. Dan, im Juli 2010 den siebten Band abzuschließen, der die Zirkel der frühen Kabbalisten, das Sefer haBahir („Buch des Glanzes“) und die Kabbalisten in der Provence, zum Gegenstand hat.

Prof. Dan arbeitet zu Hause in einer geräumigen Wohnung im Jerusalemer Stadtteil St. Simeon, die er seit 20 Jahren mit seiner Partnerin Prof. Miri Kubovy teilt. Miri Kubovy ist Professorin für Angewandte Vorderasiatische Sprachen und Kulturen sowie Leiterin des Lehrprogramms für Modernes Hebräisch in Harvard. Daher hat Joseph Dan in den letzten Jahren viel Zeit in den USA verbracht und alljährlich nur ein Semester lang in Israel gelehrt. Seine Assistentin Na’ama Bat-Shahar nimmt sachliche Überprüfungen vor und kopiert Texte, die Joseph Dan selbst nicht besitzt. Er wird großzügig aus dem Londoner Arcadia-Fonds unterstützt, zur Förderungshöhe macht er keine Angaben. Dieser Fonds wird von einem befreundeten Ehepaar unterhalten, das sich als „große Liebhaber Israels“ versteht. Der Fonds-Webseite ist zu entnehmen, dass Prof. Dan 2005 für sein Projekt eine Förderungssumme von 150.000 $ erhalten hatte. Dieser Betrag deckte die Ausgaben für die ersten drei Bände ab und auch für die nachfolgenden Bände soll finanzielle Unterstützung gewährt werden. Die Webseite weist zudem darauf hin, dass eine englische Projektbeschreibung bei der Oxford University Press, New York, erscheinen wird.

Joseph Dan hebt hervor, dass diese Mittel zweckgebunden für das Gehalt seiner Forschungsassistentin und für Druckkosten verwendet werden. Er selbst greife nicht darauf zurück, da er durch seine Pension von der Hebräischen Universität Jerusalem über ein regelmäßiges Einkommen verfüge. Am dortigen Institut für Jüdisches Denken hatte er vierzig Jahre lang gelehrt und war Inhaber des Gershom-Scholem-Lehrstuhls für Jüdische Mystik gewesen.

Vielfalt

Eine Studie dieser Größenordnung macht deutlich, dass der Autor vorhat, für die Nachwelt eine Spur als jemand zu hinterlassen, der „die Gesamtheit seiner geistigen Errungenschaften“ als persönliches Erbe präsentiert und somit der führende Forscher auf seinem Fachgebiet ist. Damit muss er gleich nach dem verstorbenen Prof. Gershom Scholem (sel.A.) genannt werden, durch dessen grundlegende Arbeiten die Erforschung der Jüdischen Mystik und Kabbala erst ihre heutige wissenschaftliche Bedeutung erlangen konnte.

Als Motivation, mit solch einem Werk zu beginnen, führt Prof. Dan vor allem den Wunsch an, aus allem, was er jemals erarbeitete, eine Gesamtschau zu erstellen. „Das ist erforderlich, weil es einige Dinge gibt, über die ich zwar nachgedacht, mich jedoch nie dazu geäußert habe und die nun gesagt werden sollten. Aber hauptsächlich war ich von dem Gefühl der Sorge geleitet, dass die Forschung über Jüdisches Denken seit Gershom Scholem stark darauf fokussiert war herauszufinden, was das Judentum ‘wirklich’ sei. Dabei ergab sich meist eine Art Überblick über die jüdische Geschichte, der den Ansatz, die unterschiedlichen Ausprägungen des Judentums in all ihrer Diversität und Reichhaltigkeit aufzuzeigen, vernachlässigte. Da ich ein überzeugter Historiker bin, stehe ich allumfassenden Überblickswerken skeptisch gegenüber. Deshalb habe ich mir zum Ziel gesetzt, die Vielfalt auf meinem Spezialgebiet, der Jüdischen Esoterischen Theologie, herauszustellen.“

Dafür wäre es ausreichend, in einem Essay vor der Verallgemeinerung in umfangreichen Überblickswerken zu warnen, ohne gleich mehrere Bände spezialisierter Forschungsarbeit zu verfassen. „Da ich nun emeritiert bin, habe ich die Gelegenheit, meine ganze bisherige Arbeit zu systematisieren. Wie gesagt möchte ich als überzeugter Historiker auch die ganz unterschiedlichen Phänomene herausarbeiten.“

Der Gesamttitel des Werks spiegelt einige wichtige Entscheidungen wider, die Prof. Dan zu treffen hatte. Der hebräische Titel Torat haSod – wörtlich: „die Lehre vom Geheimnis“ – wird manchmal als „Esoterische Theologie“ und nicht als „Mystik“ übersetzt. Joseph Dan erläutert dazu: „Mystische Vorstellungen sind im Judentum im Gegensatz zum Christentum kein originäres Element. Im Christentum gibt es eine Fülle mystischer Strömungen; Leute berichten immer wieder von Offenbarungen und Visionen verborgener Welten, die ihnen zuteil wurden. Im Judentum verdankt sich die Schau auf verborgene Welten im Allgemeinen der Gelehrsamkeit und ausgiebigem Studium und leitet sich nicht unbedingt von einer Erfahrung ab, die wir als ‘mystisch’ bezeichnen. Folglich ist es zutreffender, im Judentum von ‘Esoterischer Theologie’ zu sprechen. Selbstverständlich gibt es auch Mystik, sie spielt jedoch eine zweitrangige Rolle. Größtenteils haben sich sogar die Personen, die wir als Mystiker bezeichnen würden, weil sie Offenbarungen erlebten, eher als Besitzer esoterischen Wissens betrachtet denn als Mystiker im herkömmlichen Wortsinn. Es ist kein Zufall, dass das Hebräische nicht einmal ein entsprechendes Wort für ‘Mystik’ kennt. Auf der anderen Seite gibt es im Englischen [und auch im Deutschen – Anm. d. Übers.] kein Äquivalent für ‘Torat haSod’. Daher enthält der englische Buchtitel den Begriff ‘mysticism’.“

„Gershom Scholem war hierbei mein Vorbild“, merkt Prof. Dan an, „indem er eines seiner Bücher mit dem englischen Titel Major Trends in Jewish Mysticism [Der deutsche Titel lautet: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen – Anm. d. Übers.] versah.“ Außerdem trete das Judentum im Vergleich zum Christentum und Islam als eine Religion hervor, die sich intensiv mit den verborgenen Aspekten der Wirklichkeit befasse. Bei diesen handelt es sich um die Geschehnisse in den höheren Welten, was in der Esoterik als „ma‘aseh bereshit“ (die Beschreibung des Schöpfungswerks – vgl. Genesis 1) und als „ma‘aseh merkavah“ (die Beschreibung der verschiedenen Bestandteile der Gottheit – vgl. die Vision des göttlichen Thronwagens in Ezechiel 1 u.a. sowie den Mischna-Traktat Chagiga 2) bekannt ist.

Weiter führt er aus: „Darüber hinaus gibt es im Christentum sowie besonders im Islam durchaus auch Gruppierungen, die sich mit den höheren Welten beschäftigen. Dazu gehören z.B. die Sufis, die islamischen Mystiker, aber im Mainstream der Muslime ist dieser Aspekt des Islam wenig ins Bewusstsein getreten, er wurde an den Rand gedrängt. Im Judentum hingegen können selbst die größten Rationalisten, die der Mystik ausgesprochen ablehnend gegenüberstehen, die starke Präsenz der Esoterik im Jüdischen Denken nicht ignorieren.“

Das bedeutet, dass sogar Maimonides, eine der herausragendsten Persönlichkeiten der jüdischen Geistesgeschichte, letztlich die zentrale Botschaft seiner Philosophie dem Judentum nicht einprägen konnte, und zwar den Rationalismus, der nicht nur die Mystik ablehnt, sondern auch grundsätzlich die Annahme zurückweist, der Mensch könne die Gottheit auf irgendeine sinnvolle Weise beschreiben. Das Ergründen der Geheimnisse der Gottheit ist jedoch ein wesentliches und unverzichtbares Element des Judentums, angefangen beim Propheten Ezechiel, der das Erscheinen Gottes beschreibt, bis zur Kabbala unserer Zeit. Ezechiel steht zudem mit einer anderen maßgeblichen Entscheidung Joseph Dans in Verbindung, nämlich damit, seine Reise in die Jüdische Mystik nicht bei der Bibel, sondern in der Zeit des Zweiten Tempels beginnen zu lassen.

„Die Bibel ist voll von Prophezeiungen,“ erklärt Prof. Dan. „Immer wieder tauchen Propheten auf, die in direktem Kontakt mit Gott stehen. Unter diesen Umständen gibt es keinen Platz für Mystik und auch kein Bedürfnis danach. Man muss nichts über die Gottheit in Erfahrung bringen, wenn man direkt mit ihr reden kann. Somit fängt die Jüdische Esoterik erst da an, wo die Prophetie endet.“

Mit dem Ende des Zeitalters der Propheten entstand eine außerordentlich reiche mystische Literatur. In der allgemeinen Öffentlichkeit ist dieser Literaturkorpus, der in seiner Gesamtheit als Apokryphen und Pseudepigraphen bezeichnet wird, kaum bekannt. Zu ihm gehören auch die Texte der „Yorde Merkavah“ („die zum göttlichen Thronwagen Hinabsteigenden“ – Anm. d. Übers.), deren Autoren vorgeben, detailgetreu über die höheren Welten, in denen Gott und all seine Engel residieren, zu „berichten“. Obwohl Ezechiels Ausführungen in der Tat zur Beschreibung der „Yorde Merkavah“ passen könnten, stellen sie nach Joseph Dans Auffassung dennoch keine „Esoterische Theologie“ dar. Er führt aus, dass Ezechiel seine prophetische Vision nicht etwa nur einigen ausgewählten Schülern vorbehielt, vielmehr „berichtete“ er sie dem ganzen Volk. Ein weiterer Unterschied bezieht sich auf die Tatsache, dass nach dem allgemeinen Verständnis die Jüdische Mystik ganz und gar mit dem Begriff „Kabbala“ gleichgesetzt wird.

Prof. Dan fährt fort: „Die Kabbala ist durchaus eine sehr wichtige Richtung der Mystik, die sich ab dem 13. Jh. entwickelte und allmählich zur Hauptströmung wurde. Was aus der Forscherperspektive wie neue Ideen der Kabbalisten aussieht, sind in der kabbalistischen Selbstdarstellung Erkenntnisse, die schon über Generationen weitergegeben worden waren, bis die jeweils eigene Generation sie erhalten hat. Davon stammt die Bezeichnung ‘Kabbala’, deren hebräischer Wortstamm mit der Bedeutung ‘überliefern’ oder ‘empfangen’ ins Deutsche übertragen werden kann; insofern sind die Kabbalisten die Empfänger einer nur durch wenige Eingeweihte tradierten Lehre. Das Hauptmerkmal dieser Weltanschauung ist die häufige Verwendung des hebräischen Terminus ‘sephirot’, welcher in der frühen Esoterischen Theologie zur Beschreibung der physischen Wirklichkeit des materiellen Kosmos diente, und später auf die Gottheit selbst angewandt wurde, um verschiedene Ebenen ihrer inneren Gestalt zu benennen.“

Biographischer Exkurs

Prof. Joseph Dan wurde 1935 in Budapest, Ungarn, geboren. Dies ist in gewisser Weise eine sensationelle Erstmeldung, da das gesamte biographische Material zu ihm, seine eigene Webseite eingeschlossen (www.josephdan.org/english), als Geburtsort Bratislava angibt. Bis heute fällt es ihm schwer, über den Grund für diese Fehlinformation zu sprechen.

„Als ich vier Jahre alt war, sind wir aus Angst vor Hitler geflohen. Nachdem wir uns in Jerusalem niedergelassen hatten, wurden wir von den Engländern verhaftet, und ein Rechtsanwalt von der Jewish Agency riet meinem Vater, nicht zu erwähnen, dass wir aus Ungarn stammten, da wir sonst dorthin zurückgeschickt würden. Stattdessen sollten wir angeben, aus der Tschechoslowakei gekommen zu sein. Dann würden die Engländer uns nicht abschieben, weil die Tschechoslowakei zu jener Zeit bereits von den Nazis besetzt war. Mein Vater hatte für den Rest seines Lebens die Befürchtung, die Wahrheit könne ans Licht kommen. Deswegen blieben wir dabei, aus der Slowakei zu sein. Ich selbst hatte keine Angst mehr, aber irgendwie übertrug sich auf mich das Grundgefühl meines Vaters, ein Flüchtling zu sein.“

Prof. Dans Nachname kam ebenfalls durch die Infiltration der Familie in das Palästina der Mandatszeit zustande. „Ursprünglich hatten wir einen komplizierten ungarischen Namen. Als wir dann aber bei Metulla die Grenze vom Libanon überquert hatten, gaben uns Leute vom Kibbutz Kfar Giladi falsche Ausweispapiere auf den Namen Dan, sodass wir für Sabres [im damaligen Palästina geborene Juden – Anm. d. Übers.] gehalten würden. Wir waren definitiv keine durch den Zionismus motivierte Einwanderer, sondern landeten als Flüchtlinge in Palästina. Als mein Vater gefragt wurde, wo unsere Familie leben wolle, antwortete er ‘In Jerusalem’, weil das der einzige Ort war, den er kannte. Ich bin völlig allein, ohne Familienangehörige aufgewachsen, ohne Geschwister, Großeltern, Onkel oder Tanten. Gleichzeitig fühlte ich mich in Jerusalem vollkommen zu Hause. Bis heute führe ich meine säkulare Prägung vor allem auf meine Bindung an Jerusalem zurück; insofern unterscheidet sie sich von der Säkularität in anderen Städten. In Ramat Aviv oder Kfar Shmaryahu hätte ich mich gewiss anders entwickelt.“

Joseph Dan studierte an der Hebräischen Universität Jerusalem zunächst Assyriologie und Jüdisches Denken als zwei Hauptfächer. Schließlich gab die Persönlichkeit seines geschätzten Lehrers Prof. Gershom Scholem den Ausschlag, dass er sich der Jüdischen Mystik zuwandte. „Er war eine außergewöhnliche Persönlichkeit“, erinnert sich Prof. Dan. „Man spürte eine Nähe von kultureller Tiefe und Reichweite, die sich sonst nirgends finden ließ. Einer solchen Geistesgröße als Lehrer begegnet zu sein, ist ein seltenes Privileg. In meinen Büchern kritisiere ich ihn in vielen Punkten, doch diese Meinungsverschiedenheiten haben ihren Ursprung in grundsätzlichen Überlegungen, die ich seiner Lehrtätigkeit verdanke.“

Gershom Scholem galt als ziemlich schwieriger, bisweilen gar tyrannischer Mensch. Haben Sie ihn auch so erlebt?

„Das kann ich so nicht sagen. Es stimmt, dass er gegenüber anderen wenig Einfühlungsvermögen zeigte. Er war ein sehr isolierter Mensch. Aber er begegnete jedem immer äußerst höflich und war ein freundlicher Gesprächspartner. Nie wies er jemanden ab. Das blieb allerdings an der Oberfläche; er zog die Leute nicht gerade an. Dieser Mangel an Herzenswärme war offensichtlich ein Teil seines Charakters und nicht persönlich zu nehmen, deswegen konnte man gut damit umgehen. Nur mit seinem inzwischen verstorbenen Studenten Yosef Ben Shlomo (sel.A.) hatte sich eine persönliche Beziehung, die über bloße Höflichkeit hinausging, entwickelt. In ihm sah Scholem irgendwie mehr als nur einen Studenten. Bedenken Sie dabei, dass Scholem keine Kinder hatte.“

Waren andere Studenten eifersüchtig auf Ben Shlomos enge Beziehung zu ihm?

„Nicht das ich wüsste.“

Joseph Dan betont, dass Scholem als Lehrer stets offen für die Möglichkeit war, dass andere Leute nicht mit ihm übereinstimmten. „Einmal habe ich in der Zeitschrift ‘Zion’ ein überarbeitetes Kapitel aus meiner Doktorarbeit veröffentlicht. Da mir nur begrenzter Platz zur Verfügung stand, ließ ich in dem Artikel einen Absatz weg, in dem ich Scholem sehr kontrovers angefochten hatte. Wegen dieser Auslassung war er ganz schön wütend auf mich.“

„Bis jetzt stehen Scholems Studenten im Schatten ihres überragenden Lehrers“, verkündet Prof. Dan. „Ohne Namen zu nennen, kann festgehalten werden, dass Scholems großartige Leistungen nach wie vor manche Jerusalemer Dozenten in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Bei jedem Thema fragen sie sich zuallererst, was Scholem wohl dazu gesagt hätte oder wie er darauf eingegangen wäre; und das gilt nicht nur für die Wissenschaftler dort. Als ich einmal in Berlin eine Vorlesung über das Sefer haYetzira, ein frühes Werk der Jüdischen Mystik, hielt, bemerkte ich, dass der dort bedeutendste Judaistik-Professor Peter Schäfer unruhig wurde. Nach der Vorlesung stand er auf und sagte: ‘Das ist nicht das, was Scholem gesagt hat. Scholem war anderer Meinung!’ Ich erwiderte: ‘Stimmt, na und?’ Inzwischen hat auch Prof. Schäfer diese Haltung abgelegt, aber damals war die Frage, ob jemand Scholem akzeptierte oder nicht, sehr entscheidend.“

„Sogar heute noch“, erläutert Prof. Dan weiter, „haben es viele Forscher nicht leicht mit Scholem. Es bleibt zu berücksichtigen: Im 20. Jh. gab es in Israel viele angesehene Gelehrte, die Großes geleistet haben. Doch ist der unter den meisten Intellektuellen weltweit bekannteste israelische Wissenschaftler zweifellos Gershom Scholem. Dies erzeugt unausweichlich ein Gefühl von eigener Unzulänglichkeit oder bei manchen den Wunsch ihn heftig zu kritisieren. Ich selbst habe kein Problem damit, ihn anzufechten; aber seiner Methodik gegenüber sehe ich mich immer noch als loyal an.“

Joseph Dan vermutet, er habe im Vergleich mit anderen vielleicht „weniger Schaden genommen“, weil er Student von Isaiah Tishby war, den Scholem geringschätzte. Scholem hatte verhindert, dass Tishby Kabbala im Institut für Jüdisches Denken an der Hebräischen Universität unterrichten konnte. Gezwungenermaßen hatte er daraufhin am Institut für Jüdische Literatur gelehrt.

„Obwohl ich fünfzehn Jahre lang jede Woche Scholems Seminare besuchte, war wegen dieser Konfrontation gleich von Anfang an klar, dass Scholem niemals Vertrauen zu mir haben würde. Aber auch ich selbst brauchte Zeit, um über diese belastende Situation hinwegzukommen. Das gelang mir schließlich, während ich über einen Zeitraum von zehn Jahren Scholems Bibliothek katalogisierte und in dieser Zeit für jedes einzelne Buch entscheiden musste, wo es seinen Platz finden sollte. Obwohl das prinzipielle Ordnungskriterium von Scholem selbst vorgegeben worden war, nämlich chronologisch zu ordnen, gab es trotzdem noch Unmengen von Zweifelsfällen. Sollten Bücher, die inhaltlich in starkem Bezug zu einem früheren Werk standen, mit diesem zusammengestellt werden oder eher bei Büchern der gleichen Entstehungszeit stehen? Letztlich musste für jedes Buch eine individuelle Lösung gefunden werden, und dazu musste man seinen Inhalt kennen – und Scholems Bibliothek umfasste 13.000 Bücher. Wenn ich dann mit der Karteikarte in der Hand dastand und mich zu entscheiden versuchte, hatte ich das Gefühl, Scholem sähe mir über die Schulter und fragte: ‘Sind Sie wirklich sicher?’ Das war echt schwierig.“

Warum verachtete Scholem Tishby eigentlich?

„Dafür gab es eine Vielzahl von Gründen. Ich nehme an, der Konflikt begann, als Isaiah Tishby Mishnat haZohar veröffentlichte, eine für das allgemeine Lesepublikum gekürzte Fassung, die ausgewählte Abschnitte aus dem Originalwerk Sefer haZohar („Buch des hellen Scheins“) enthielt. Gershom Scholem hatte ein starkes elitäres Bewusstsein und verabscheute die Idee, Originalquellen für die breite Leserschaft aufzubereiten. Er glaubte, dass jemand, der Hebräisch lesen kann, imstande sein sollte, mit dem Originaltext des Zohar zurecht zu kommen.“

Niedergang von Wissenschaftler-Generationen?

Das Institut für Jüdisches Denken der Hebräischen Universität steht vor der größten Krise seiner Geschichte: Seit 2008 sind dort statt bisher fünfzehn nur mehr sechs Dozenten beschäftigt. Was mit den Honorardozenten geschehen wird, ist ungewiss. Es ist eine Tatsache, dass es am Institut keinen einzigen Mitarbeiter des Mittelbaus gibt. Nach Prof. Dans Aussage betrifft dieser Abbau alle israelischen Universitäten, besonders schlimm ist es aber in den Geisteswissenschaften.
„Es existiert keine mittlere Wissenschaftlergeneration, denn als wir vor fünfzehn Jahren fünf Professoren für Kabbala waren und ein jüngeres Mitglied für unser Kollegium benötigten, hieß es, das sei überflüssig. Dann sind wir alle pensioniert worden und es war niemand da, der den Lehrbetrieb hätte weiterführen können. In der zeitgenössischen Philosophie ist das gleiche passiert. Eli Schweid wollte so lange im Dienst bleiben, bis ein Nachfolger für ihn gefunden wäre. Das war aber nicht durchführbar und heute hat das Institut niemanden, der dies als ordentliches Lehrfach unterrichtet.“

„Teilweise waren es auch persönliche Umstände, die dazu führten, dass mehrere langjährige Lehrkräfte gleichzeitig weggingen,“ erklärt Joseph Dan. Prof. Aviezer Ravitzky hatte einen Unfall, Prof. Paul Mendes-Flohr zog nach Chicago um, ich selbst lernte jemanden in den USA kennen und lehrte seither nur noch für ein Semester im Jahr in Israel.“

1997 hatte Prof. Dan auf seinem Forschungsgebiet den Israel-Preis erhalten. Als er im Namen aller Empfänger die Dankesrede hielt, nutzte er die Gelegenheit, die Vernachlässigung der Jüdischen Studien durch säkulare Akademiker zu kritisieren. Dadurch sei es dem orthodoxen Lager ermöglicht worden, die Geisteswelt des Judentums „unter seine Kontrolle zu bringen“. Er habe seine Meinung darüber bis heute nicht geändert, sagt Prof. Dan.

„Typisch ist, dass der säkulare Mensch das Judentum mit der ultraorthodoxen Richtung, d.h. der Gruppe der ‘Charedim’ [hebr.: „die (vor Gott) Zitternden, die Bangenden“ – Anm. d. Übers.], gleichsetzt und es somit ablehnt. Ich gebe zu, dass auch ich früher einmal dieser Einschätzung zuneigte. Vor vielen Jahren nahm ich in Cincinnati am Rosh-haShanah-Gottesdienst mit Orgel und Chor in einer Reformsynagoge teil. Es war eine bewegende Zeremonie, aber als völlig säkularer Mensch war ich schockiert. ‘Das sollte jüdisch sein?’ fragte ich mich damals. Ich habe diesen Kulturschock heute überwunden, aber die meisten säkularen Juden folgen dabei immer noch derselben Intuition. Das bringt mit sich, dass die Ressentiments der nichtreligiösen Bevölkerung gegenüber dem, was für DAS JUDENTUM gehalten wird, sich unglaublich verstärkt haben und sich alles sogar noch verschlimmert.

Vor vierzig Jahren hätte niemand Schriftsteller wie Bialik oder Agnon als ‘jüdische’ Kunstschaffende bezeichnet, sie prägten einfach unsere Kultur. Doch inzwischen erhält alles, was mit Tradition in Verbindung gebracht wird, das Etikett ‘jüdisch’ und dementsprechend uninteressant wird es.“

Diese Herangehensweise beeinträchtigt deutlich die Attraktivität der Judaistik als Studienfach. Joseph Dan führt aus: „Gegenwärtig ist die Lage in Jerusalem noch vergleichsweise gut, weil viele aus der Siedlerbewegung zum Studium dort hinkommen. Als ich noch lehrte, waren hingegen die meisten Studenten und mindestens die Hälfte der Dozenten nichtreligiös. Heute ist die Mehrheit auf beiden Seiten in religiöser Hinsicht observant. In Tel Aviv schreiben sich überhaupt keine Studenten mehr für Jüdische Studien ein; dort zeigt sich direkt die ‘Einstellung der israelisch-säkularen Öffentlichkeit gegenüber DEM JUDENTUM schlechthin’.“

Ist Ihre Kritik denn noch zeitgemäß, da doch so viele säkulare Bildungsstätten in Israel – die sog. Bate Midrash – Jüdische Studien im Lehrprogramm anbieten? Vielleicht liegt das Problem an der Art und Weise, wie Judaistik im akademischen Rahmen gelehrt wird?
„Selbstverständlich begrüße ich die Entstehung der Bate Midrash. Aber nachdem ich nun über fünfzig Jahre lang solche Ansätze beobachtet habe, bin ich eher skeptisch. Mir scheint, die Gleichsetzung des Judentums mit dem extremen Charedismus ist schon so verbreitet und die Abscheu ihm gegenüber in der säkularen Öffentlichkeit so fest verwurzelt, dass ich nicht weiß, was man dagegen tun könnte. Was Kritik an den Universitäten betrifft: Diese haben einen Forschungsauftrag, den sie erfüllen müssen. Spirituelle Aktivitäten gehören nicht hierher, sondern in einen anderen, außerakademischen Rahmen.“

Auf den ersten Blick hat Prof. Dan keinen Grund, sich über einen Mangel an Interesse an seinem Forschungsgebiet, der jüdischen Mystik, zu beklagen. Nicht nur in Israel, sondern auch weltweit besteht ein außerordentliches Interesse an der Kabbala. Selbstverständlich erstaunt es niemanden, dass er nicht gerade begeistert darauf reagiert, wie Madonna und ihre prominenten Freunde mit ihrer Entdeckung der Kabbala umgehen. „Heutzutage wird alles Mögliche als ‘Kabbala’ bezeichnet. Wenn Britney Spears sich nicht wohlfühlt, gibt Madonna ihr eine antiquarische Ausgabe des Zohar; sie liest dann eine Woche darin und ihre Erkältung geht vorbei. Ich erkenne solche Vorgänge als spezifisch für die Postmoderne, um die großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts abzulegen. Man hat ein Gespür für die Grenzen der Vernunft entwickelt und diese Kritik kann nicht als ungerechtfertigt angesehen werden. Das Land, in dem die Vernunft den größten Einfluss hatte, war Deutschland, und wir wissen, was dort geschah. Wenn den Menschen aber keine Weltanschauung angeboten wird, die mit der Realität zurecht kommt, werden sie von allem Möglichen angezogen, in dem überhaupt ein Sinn zu erkennen ist. ‘Kabbala’ ist heute ein Schlagwort, dem je nach Bedarf die verschiedensten Bedeutungen untergeschoben werden: von der Medizin und der Hellseherei bis zur Manipulation einer transzendenten Seele zugunsten persönlicher Bedürfnisse, z.B. um ein besserer Geschäftsmann zu werden. Das Problem besteht darin, dass die Postmoderne sich zwar von der Moderne abgrenzt, aber nichts an deren Stelle zu setzen vermag. Bis vor kurzem hätten manche wohl die soziale Marktwirtschaft als Antwort der Postmoderne genannt, heute ist das jedoch nicht mehr möglich.“

Ist diese oberflächliche Popularität der Kabbala, neben dem angesprochenen Mangel an Seriosität, denn auch gefährlich?

„Grundsätzlich besteht keine Gefahr, dass irgendeine Albernheit von Madonna jemandem Schaden zufügen könnte. Es kommt allerdings vor, dass gefährliche Leute sich diesen Erfahrungshorizont erschließen und Sekten gründen, um mithilfe ihrer Lesart der Kabbala Gehirnwäsche zu betreiben.“

Könnten Sie und ihre Kollegen indirekt auch von dieser Modeerscheinung profitieren? Immerhin steigert sie das allgemeine Interesse an der Kabbala und mehr Leute könnten so dazu gebracht werden, sie ernsthaft an einer Universität zu studieren.

„Die Modeerscheinung mag Berührungsängste wegen der Fremdheit dieser Disziplin abbauen. Wenn aber jemand von der Populärdarstellung der Kabbala beeindruckt ist, dürfte er zurückschrecken, sobald er der Sache an sich, wie sie sich in den Quellentexten zeigt, begegnet. Ein tieferes Interesse wird auf diese Weise kaum geweckt. Mir fällt es im Übrigen schwerer, jemandem mit völlig verzerrten Vorstellungen über die Kabbala dieselbige nahe zu bringen, als jemandem, der gar nichts darüber weiß.“