Als das Vertrauen in die Mitmenschen verloren ging

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Die Reise zur Gedenkveranstaltung des Deutschen Riga Komitees im Wald von Bikernieki war für die Gelsenkirchener Jüdin Judith Neuwald-Tasbach ein schwerer Gang…

Von Axel Vogel

Vor einem Meer aus Stelen steht Judith Neuwald-Tasbach auf der idyllisch wirkenden Lichtung unter hohen Kiefern. Lange verharrt die Frau hier bewegt. 5.000 Steine, geschlagen aus ukrainischem Granit, grob in ihrer Struktur, aber unterschiedlich in ihrer Größe und Farbe, verleihen dem Ort im Wald von Bikernieki nahe der lettischen Hauptstadt Riga etwas Friedvolles. Doch die 50 Jahre alte Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen weiß: Der Boden im Wald von Bikernieki ist mit Blut getränkt. Die Steine sollen vor allem an tausende getöteter deutscher Juden erinnern, ermordet von Sicherheitspolizei und lettischen Hilfskräften bei Massenerschießungen. Betroffen war auch die Familie von Neuwald-Tasbach. 26 Familienmitglieder verschleppten die Nazis nach Riga, nur zwei überlebten, darunter der Vater der Gelsenkirchenerin. So könnten zwei der Stellen in Bikernieki auch an ihre Großeltern Leopold und Martha Neuwald erinnern, ein Unternehmerpaar, das in Gelsenkirchen ein alteingesessenes Bettenfachgeschäft betrieben hatte.

Knapp 70 Jahre nach den Geschehnissen steht Judith Neuwald-Tasbach zum ersten Mal an dem Ort, an dem nicht nur ihrer Familie Furchtbares widerfuhr. Ab November 1941 ließen die Nazis tausende Juden aus dem so genannten „Altreich“ nach Riga deportieren, wo es vom Ghetto aus oft direkt in den Tod ging. Was oft noch immer unbekannt ist: Nicht mit dem systematisierten Töten in den Gaskammern von Auschwitz begann der Holocaust an deutschen Juden, „sondern mit Massenerschießungen im Wald von Bikernieki“. So formuliert es der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, Winfried Nachtwei, aus dessen Heimstadt Münster ebenfalls viele Juden nach Riga verschleppt worden waren. Nachtwei, der sich seit Jahren für ein würdiges Gedenken für in Riga ermordeten Juden einsetzt, war Redner auf der Gedenkfeier in Bikernieki anlässlich des zehnjährigen Bestehens des „Deutschen Riga Komitees“. Dem Komitee, das auf eine Initiative des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge zurückgeht, und aus 38 Städten besteht, konnte schließlich 2001 den lange vergessenen Opfern eine Gedenkstätte widmen. Auch wenn es für Neuwald-Tasbach ein schwerer Gang wurde: Es war ihr es inneres Bedürfnis bei einer Gedenkstunde am ehemaligen Ort des Schreckens dabei zu sein. Eine Stütze war ihr Stefan J. Kramer; Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland.


Stefan Kramer (r), Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, und Judith Neuwald-Tasbach

 Lange hat die 50-Jährige den Schmerz über das, was in Riga mit ihrer Familie passiert ist, nur aus der Ferne ertragen können. Weit weg von Bikernieki war das Unfassliche leichter zu bewältigen, erzählt die Frau mit leiser, aber fester Stimme: „Ich wollte nicht hier sein, weil ich wusste, dass der Schmerz hier so nahe ist.“ Trotzdem habe sie bereits früh gewusst: „Es kommt der Zeitpunkt, da muss ich mich dem Vergangenen stellen.“ Jetzt ist der Zeitpunkt da, zehn Jahre nach dem Tod des Vaters.

Die Gelsenkirchenerin stellt sich der schmerzvollen Vergangenheit. Etwa als die 70 Teilnehmer starke Delegation des Volksbundes andere Orte besucht, wo die Nazis laut des Experten Nachtwei „Unfassbares, aber Unbestreitbares“ verübt haben. Zum Beispiel im ehemaligen Ghetto von Riga am jüdischen Friedhof. Reinhard Heydrichs Sicherheitsdienst (SD) ließ hier unter unsäglichen Bedingungen bis zu 30.000 Juden aus Deutschland zusammenpferchen. Beim Blick auf Häuser, die noch aus jenen düsteren Tagen stammen, und Straßen, die einst „Kölner Straße“ und „Leipziger Straße“ hießen, drängen sich Judith Neuwald-Tasbach bange Fragen auf. Haben hier irgendwo zwischen kleinen Holzhäusern und trostlosen Mietskasernen die Großeltern ihre letzten Stunden verbracht?

Gesichert ist: Das Rigaer Ghetto wurde auch für manches Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen zur Durchgangs- oder „Endstation“. Nachdem vor 1933 rund 1.600 Juden in Gelsenkirchen gelebt hatten, meldeten die Behörden 1944 die Stadt als „Judenfrei“, so Neuwald-Tasbach. Der Hilfe eines anderen deportierten Gelsenkircheners verdanke ihr Vater aber womöglich sein Überleben. „Der Mann arbeitete in der Küche des Ghettos. Da er meinen völlig entkräfteten Vater erkannte, schenkte er ihm einen Eimer Kartoffelschalen.“ An diesem Ort, ein wahrer Goldschatz. Während Neuwald-Tasbachs Vater dem Holocaust entkam, überlebten 24 andere Familienmitglieder nicht. Ob sie im Ghetto verhungerten, oder wie die meisten aus Deutschland deportierten Juden in einem der über 50 Massengräber im Wald von Bikernieki erschossen wurden, sie weiß es nicht.


Judith Neuwald-Tasbach gedenkt ihrer Familienangehörigen

 Experte Nachtwei kann den „Zusammenbruch von Mitmenschlichkeit“ in Riga ein Stück weit erklären. Von einem systematisch geplanten Holocaust der Nazis dort kann laut seiner Nachforschungen keine Rede sein: „Die ganze Organisation war ein einziges Chaos, weil die Einsatzgruppen überhaupt nicht auf die Menschenmassen vorbereitet waren.“ Erst im September hatte Hitler die Genehmigung für eine „zunächst kontingentierte Deportation“ der deutschen Juden gegeben, so hat es der verstorbene Holocaust-Forscher Wolfgang Scheffler recherchiert: „Bis zum September waren keinerlei Vorbereitungen für eine geografische Lösung getroffen worden.“ Neben dem einzigen bis dahin bestehenden, überfüllten Großghetto von Lodz rückten nun Minsk und eben Riga in den Fokus des SD.

Unorganisiert und erbarmungslos gingen die deutschen Sicherheitskräfte vor Ort zu Werke. Obwohl die ersten Deportationszüge aus dem Reich in Richtung Osten bereits unterwegs waren, war die Räumung des Ghettos von lettischen Juden noch in vollem Gange. Zuständig dafür war die Einsatzgruppe A unter Leitung von Friedrich Jeckeln, der dafür die nötige Rücksichtslosigkeit mitbrachte: Jeckeln war der Verantwortliche für das Massaker an über 30.000 Juden im ukrainischen Babyn Jar im September 1941. Vor den Toren Rigas, im Wald von Rumbula, ließ Jeckeln im November und Dezember 1941 mehr als 26.000 lettische Juden erschießen. Als der erste Zug mit 730 Juden aus Berlin ankam, ereilte sie das gleiche Schicksal. Historiker Scheffler geht davon aus, dass die Nazis allein zwischen November 1941 und Winter 1942 in 28 Transporten über 25.000 Menschen ins Baltikum, vornehmlich nach Riga, deportierten. Nur rund vier Prozent überleben.

Bei der Gedenkstunde in Bikernieki drängt sich die Frage nach Schuld und Verantwortung auf. Nicht nur nach der der Täter. Auch nach jenen, die es in den deutschen Städten zugelassen hatten, dass Freunde, Vereinsmitglieder und Unternehmer wie Judith Neuwald-Tasbachs Großvater quasi über Nacht ihre Rechte verloren hatten. „Dekoriert im Ersten Weltkrieg war mein Großvater deutscher als viele Deutsche“, sagt sie. „Trotzdem hatte 1941 keiner eine Hand für ihn gerührt.“ Nirgendwo fand er Schutz, Unterschlupf und Achtung, dieser Gedanke hat für die Frau etwas Traumatisches: „Da verliert man das Vertrauen in die Menschen.“ Trotzdem freut Judith Neuwald-Tasbach, dass viele Kommunen nun späte Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Repräsentanten aus 24 Städten, die dem „Deutschen Riga-Komitee“ angehören, waren nach Bikernieki gekommen.


Gedenkstätte im Wald von Bikernieki bei Riga, Gedenkstunde anlässlich des 10-jährigen Bestehens des „Deutschen Riga-Komitees“

Auch Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, stimmte das Engagement einiger deutscher Städte hoffnungsvoll. Gleichwohl gelte es, noch mehr deutsche Bürger nach Riga zu bringen, so sagt er. „Um das unfassbare in seiner ganzen Grausamkeit zu verstehen, müssen wir ein größeres Bild zeigen.“ Und das beinhaltete eben neben Vernichtungslager wie Auschwitz auch „Riga und die anderen Mordstätten in Mittel und Osteuropa“.

Ein Bild vor Ort gemacht hatten sich Bremer Jugendliche, die an einem Workcamp des Volksbundes teilnahmen. Ihre Aufgabe war es, mit künstlerischen Mitteln die Geschichte des Ghettos wieder sichtbar zu machen. Einer Teilnehmerin die von Neuwald-Tasbachs Familiengeschichte gerührt war, ermunterte die Gelsenkirchenerin zum Weitermachen: „Mit ihrem Workshop entreißen sie die ermordeten Juden dem Vergessen.“ Für Judith Neuwald-Tasbach wäre es das Schlimmste: Menschen wie ihre Großeltern zu vergessen, die hier irgendwo im Wald von Bikernieki verscharrt liegen.