Der Holocaust – ein Thema für Bilderbücher?

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Nachbetrachtungen zum deutsch-israelischen Lehrerseminar der GEW…

Von Harald Freiling

Die Tatsache, dass der Holocaust und seine Vorgeschichte auch Thema von Bilderbüchern für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter sind, lässt zwei unterschiedliche Fragestellungen zu: Zum einen lassen sich Bilderbücher im Hinblick auf ihre Eignung für Gespräche in der Familie, im Kindergarten und in der Grundschule betrachten, zum anderen sind Bilderbücher als Produkte von Erwachsenen ein Spiegel ihrer Rezeption des Holocaust, ihrer Sichtweisen und ihrer Interpretation dessen, was Kindern durch die Konfrontation mit den Bilderbüchern vermittelt werden soll.

Bilderbücher waren und sind dem Primat der pädagogischen Absicht unterworfen und reflektieren in besonderer Intensität die Erziehungsvorstellungen und das Geschichtsbild der Erwachsenen. Sie sind somit nicht nur für Pädagoginnen und Pädagogen, sondern auch für Historiker eine interessante Quelle.

In beiden Fällen ist es somit auch von zentraler Bedeutung, in welchem persönlichen Kontext Autor und Illustrator zum nationalsozialistischen Völkermord stehen und in welchem gesellschaftlichen Umfeld das Buch eingesetzt wird. Der folgende Beitrag geht auf einen Workshop im Rahmen des 24. deutsch-israelischen Lehrerseminars der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Histadrut Hamorim 1998 in Berlin zurück, in dem deutsche und israelische Lehrerinnen und Lehrer sehr unterschiedliche Auffassungen äußerten, sowohl in der Beurteilung einzelner Bilderbücher als auch bei der Frage, ob und wie der Holocaust in der Arbeit mit Kindern thematisiert werden kann.

Beschreibungen über konkrete Erfahrungen mit einzelnen Büchern liegen inzwischen in begrenztem Umfang vor (Rodenhäuser, Schmidt-Dumont, mehrere Beiträge in Der Holocaust…); empirische Studien fehlen ganz. Die Sekundärliteratur betrachtet die Bücher je nach Blickwinkel ideologiekritisch oder ästhetisch und operiert – wie auch der folgende

Überblick – im Hinblick auf die Sichtweise von Kindern nur mit Vermutungen.

Motive von Erwachsenen

Marianne Leuzinger-Bohleber stellt an den Anfang ihrer Überlegungen zum Thema „Holocaust im Grundschulunterricht” zu Recht die Frage nach den Motiven des Lehrers oder der Lehrerin. Kein Lehrplan schreibt vor, kein Konflikt zwingt dazu, dieses Thema zu behandeln. Moralische Erziehung ist zweifelsfrei möglich, auch ohne sich auf den Holocaust zu beziehen, und verbietet es geradezu, auf Konflikte zwischen den Kindern, unreflektierte Schimpfwörter oder nachgeplapperte Vorurteile von Erwachsenen mit einem Rückgriff auf die deutsche Geschichte zu reagieren und so unberechtigte Schuldgefühle und neue Abwehr zu generieren. Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte sollten deshalb ernsthaft ihre Motive reflektieren: Ein abstraktes Aufklärungsinteresse ist ebenso fehl am Platz wie die Intention, „das Schweigen zu brechen und sich auf die Seite der Nichtschuldigen zu stellen und damit eventuell die eigenen familiären Verwicklungen zu verleugnen” (Leuzinger-Bohleber, S. 47), oder die Erwartung, eine Entwicklung einzuleiten, an deren „Ende eine klare politische Entscheidung auf der Grundlage von Erkenntnissen steht”, wie dies Malte Dahrendorf in seiner Einleitung zu „Das Kind im Koffer” (Burfeind, S.3) in der Tradition der Kinderladen-Bewegung formulierte. Ganz anders ist der Griff zum Bilderbuch motiviert, wenn es einen konkreten Anlass, eine Frage von Kindern gibt, die eine Erklärung – in diesem Fall über die Verfolgung, Entrechtung und Vernichtung der europäischen Juden – erfordert. Das kann eine Hakenkreuzschmiererei genauso sein wie ein Fernsehfilm oder eine Gedenktafel  auf dem Weg zum Spielplatz. Dabei ist es sekundär, ob die Frage von den Kindern selbst gestellt wird oder ob – wie in vielen anderen Situationen – der konkrete Anlass die Verpflichtung zur Erklärung liefert: „Pädagogik, Erziehung bedeutet (…) oft, Fragen erst anzuregen oder unausgesprochene, für die Kinder vielleicht unaussprechliche Fragen mit ihnen zusammen zu formulieren” (Heyl 1996, S.26).  In „The number on my grandfather’s arm” (Adler) fragt das Mädchen nach der Bedeutung der Tätowierung auf dem Arm des Großvaters, und in Israel ist das Heulen der Sirenen, die zur landesweiten Schweigeminute  am Trauertag Yom haSchoah für die Opfer des Holcoaust ertönen, ein unverzichtbar Anlass zum Erzählen und Erklären.

Erziehung nach Auschwitz in Israel und Deutschland

Auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und Israel wurde bereits hingewiesen. Anne Garlichs warnt in ihrem Gespräch mit Marianne Leuzinger-Bohleber  davor, dass  bei Kindern „angesichts eines so unfasslich monströsen, von Menschen angerichteten Unheils das Vertrauen in das Leben zerstört werden kann” (Leuzinger-Bohleber, S. 49). Auch wenn in der pädagogischen und didaktischen Diskussion in Israel zunehmend stärker die Möglichkeit eingefordert wird, zu trauern und der sinnlosen Opfer zu gedenken, bleibt die Folie der Rezeption des Holocaust eine andere: Die Lehre ist die Selbstbehauptung von Erez Israel, der Stolz der Gründer und Verteidiger Israels. Die tief verwurzelte Neigung von Erziehenden, immer die positive Wendung, auch angesichts der Totalität des Grauens von Auschwitz das Rettende und Hoffnung Versprechende in den Vordergrund zu stellen, bestimmt auch nach der Wende des Eichmann-Prozesses die pädagogische Praxis in Israel.

Der Eichmann-Prozess öffnete in Israel ein weites Tor, „über Demütigungen und eigene Schwäche sprechen” zu dürfen (Kliewer, S. 65). Die Grundfrage, wie man sich dem Holocaust annähern und gleichzeitig „das Vertrauen des Kindes in die Menschheit aufrecht erhalten” kann (Dagan, S.43), wie man im massivsten Zivilisationsbruch die Zivilsation finden kann, wie man „einerseits die Kinder nicht kognitiv oder emotional überfordert oder gar traumatisiert (…) und andererseits die Geschichte des Holocaust nicht bagatellisiert” (Heyl 1998, S.121), stellt sich in Israel ebenso wie in Deutschland. „Erziehung nach Auschwitz ohne Auschwitz”, Empathie ohne die „detaillierte Darstellungen extremer Grausamkeiten” (Abram/Mooren, S.96) sind wohl die einzig verantwortbaren Wege.

Bilderbücher aus deutschen und amerikanischen Verlagen

In unterschiedlicher Weise nähern sich die Bücher dem Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager: Die meisten beginnen mit dem nationalsozialistischen Alltag, der schrittweisen Ausgrenzung, Entrechtung und Erniedrigung. Anders als  die Kinder- und Jugendliteratur deutscher Autorinnen und Autoren beziehen die im Folgenden vorgestellten  Bilderbücher Deportation, Lagerrealität und Tod ein. Dies überrascht nicht, sind alle anderen Bilderbücher doch das Werk jüdischer (David A.Adler, Judith Kestenberg) oder nichtdeutscher Autorinnen und Autoren. In unterschiedlicher Weise lösen Autoren und Illustratoren das Problem, dass eine „drastische und detaillierte Darstellung des Grauens (…) Kinder nicht nur verletzen, sondern ihre verständliche Abwehr gegenüber dem Thema weiter verstärken” könnte (Heyl 26). Einzig „Judith und Lisa” (Reuter) steht in der Tradition deutscher Autorinnen und Autoren, die nicht nur von der israelischen Jugendbuchforscherin Zohar Shavit kritisiert werden, weil in ihren Werken der deutschen Kinder- und Jugendliteratur „fast kein Jude (…) von Deutschen ermordet wird” (Shavit, S.37): Sie verschwinden, ohne dass man etwas über ihr Schicksal erfährt (Judith und Lisa), begehen Selbstmord (Gehrts) oder kommen bei einem Bombenangriff ums Leben (Richter). Einzige Ausnahme ist – als Reflex auf Shavits Kritik und in der Kontinuität ihrer Jugendbücher über einen Atomkrieg und eine atomare Katastrophe – Gudrun Pausewangs „Reise im August”, die ihr Buch in der Gaskammer enden lässt. Dieser Tabubruch verschärft den „Widerstreit zwischen der wahrheitsgemäßen Darstellung und der kindgerechten Aufbereitung” (Wermke, S.112), die Frage, wie die Wahrheit erzählt werden kann, ohne Traumatisierungen „aus der Todesfurcht als dem Prototyp menschlicher Furcht” (Dagan, S.36) zu riskieren, die nicht ausbleiben wird, wenn die Identifikationsfigur in der Gaskammer qualvoll ermordet wird.  In Abgrenzung zu einer bedenklichen „Schock-Pädagogik”, die das in den Mittelpunkt stellt, was letztlich „jenseits jeder Beschreibung steht” (Elie Wiesel), hat sich deshalb auch in der allgemeinen didaktischen Diskussion die Erkenntnis durchgesetzt, dass im Vordergrund der schulischen Bearbeitung des Themas die schrittweise Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft und Ideologie, das Verhalten der Mitläufer und Zuschauer stehen müssen und zwar in einer Zeit, in der noch Wahlmöglichkeiten in moralischen Dilemma-Situationen bestanden. Ob und wie sie dies zu leisten vermögen, ohne die historische Wahrheit zu verschweigen oder – wie in die genannten Büchern deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – zu vernebeln, ist die zentrale Frage an alle Bilderbücher, die im Folgenden vorgestellt werden. 

David A. Adler: The Number on My Grandfather’s Arm

Die besondere Schwierigkeit des Mediums Bilderbuch, das „keine geeignete Bildsprache für einen derartigen (realen und nicht märchen- und fantasiehaften – H.F.) Unheilszusammenhang entwickelt hat” (Steinlein, S.178), löst David A. Adler auf eindrucksvolle Weise mit einer Fotodokumentation, die an einigen Stellen auch historische Fotos einbezieht.

Als die sieben Jahre alte Enkeltochter auf dem Arm ihres Großvaters die Tätowierung einer KZ-Nummer entdeckt und nach der Bedeutung fragt, fordert ihre Mutter den Großvater auf, seine Geschichte zu erzählen: „It’s time you told her.” Die Bilder wechseln zwischen historischen Aufnahmen (aus der osteuropäischen Heimat des Großvaters, von Hitler vor einer begeisterten Menschenmasse, von Juden mit Stern und hinter Stacheldraht) und der persönlichen, intimen Erzählsituation von Großvater und Enkelkind auf dem Sofa, um zum Schluss in den gemeinsamen Alltag der beiden zurückzukehren. Der Großvater wird in den Fotos von Sigfried Halbreich, einem polnischen Holocaust-Überlebenden, dargestellt, der als Zeuge unter anderem auch beim Eichmann-Prozess auftrat und heute in den USA lebt. Er versucht dem Kind die historischen Vorgänge zu erläutern: Hitlers Persönlichkeit („He was a wild man”) und Aufstieg zur Macht („There were a great many problems in Germany. Hitler blamed them all on the Jews. Of course that was nonsense”), die schrittweise Entrechtung der Juden , die Zerstörung der Synagogen, der Bau der Konzentrationslager („Hitler and the Nazis planned to kill every Jew in Europe”). Dass persönliche Erinnerungen nur einen geringen Raum einnehmen, kritisierten die israelischen Kolleginnen und Kollegen unseres Seminars, die über eine reiche Erfahrung mit Holcaust-Überlebenden in Kindergärten und Schulen verfügen. Nur an zwei Stellen schimmert persönliches Erleben durch: Der Großvater erwähnt, dass ihm die Zahlen in Auschwitz auf den Arm gebrannt wurden („We were numbers”) und viele Freunde und Verwandte umkamen: „I was one of the lucky ones, I survived.” Das Kind stellt keine Fragen: „It must hurt him to remember the time he spent there and to remember all the people he knew who were killed.”

Durch den Verzicht auf die sonst im Bilderbuch vorherrschenden Zeichnungen entgeht das Buch dem ästhetischen Dilemma, eine geeignete Bildsprache zu finden, das bei den übrigen Bilderbüchern oft die inhaltliche Auseinandersetzung überlagert. Die Rahmenhandlung stellt ungezwungen den Bezug zur Gegenwart dar. 

Wie die anderen Bilderbücher lässt sich dieses Buch – mit verändertem Blickwinkel – auch in der Sekundarstufe I einsetzen: sowohl für leseschwache Schülerinnen und Schüler als auch mit der Perspektive eines Betriebspraktikums im Kindergarten, der Übernahme von Verantwortung für kleine Geschwister oder – in absehbarer Zeit – für eigene Kinder.

Joe Hoestlandt: Die große Angst unter den Sternen

Hélène erzählt als alte Frau von ihrer Kinderfreundschaft mit dem jüdischen Mädchen Lydia im besetzten Frankreich. Lydia übernachtet bei ihrer Freundin, und während sie sich Spukgeschichten erzählen, werden sie damit konfrontiert, dass Hélènes Eltern Juden in ihrer Wohnung aufnehmen, die sich vor der drohenden Deportation verstecken. Hélène trennt sich von Lydia, die von Hélènes Vater zu ihren Eltern gebracht werden soll, im Streit, weil sie doch ihren Geburtstag mit ihr feiern möchte: „Du bist nicht mehr meine Freundin.” Am nächsten Morgen durchsucht die Polizei – allerdings sehr nachlässig – ihre Wohnung. Aus dem Fenster beobachtet Hélène den langen Zug der Menschen mit Koffern. Sie macht sich mit ihrer Mutter auf die Suche nach Lydia, aber ihre Familie ist verschwunden: „Lange habe ich darauf gewartet, dass Lydia wiederkäme, weil ich mit ihr spielen und ihr sagen wollte, dass sie noch immer meine Freundin ist.” 

„Die große Angst unter den Sternen” verwischt mit magischen Illustrationen, dem „Mitternachtsgeist” und der „Elfuhrfrau” die Grenze zwischen Realität und Phantasie. Auf die Gefahr, dass in der prä-ambilvalenten Phase kindlicher Entwicklung eine innerseelische „Vermischung der magischen Phantasien mit dem real stattgefundenen Zivilisationsbruch des Holocaust” stattfindet, weist Marianne Leuzinger-Bohleber (S.50). Jo Hoestlandts Bilderbuch stieß bei den israelischen Kolleginnen auf heftige Ablehnung. Sie beurteilten die Bilder als „depressiv” und kritisierten die Geschichten um den „Mitternachtsgeist” und die „Elfuhrfrau”, die Ängste kindlicher Betrachter verstärken könnten. Diese Kritik löste eine Debatte um die Ästhetik von Bilderbüchern aus, die möglicherweise eher die ästhetischen Bedürfnisse von Erwachsenen als die Sichtweise von Kindern – über die wir sehr wenig wissen – befriedigen, aber auch über die differenzierte Rezeption von Bildern, die bei Kindern und Erwachsenen durchaus unterschiedliche Empfindungen auslösen können.

Elisabeth Reuter: Judith und Lisa

Das Bilderbuch erzählt die Geschichte einer Freundschaft zwischen Judith, einem jüdischen Mädchen, und Lisa, einem nichtjüdischen Mädchen (in der Werbung 1988 peinlicherweise als „arisch” tituliert) in Deutschland bis 1938. Episodenhaft dokumentieren Text und Bilder, wie die nationalsozialistische Herrschaft den Alltag der Kinder durchdringt (Schulkinder unter dem Hitler-Porträt zeigen den Hitler-Gruß, schreiben in deutscher Schrift „Der Jude ist unser größter Feind” an die Tafel, lesen das antisemitische Bilderbuch „Der Giftpilz”) und wie jüdische Kinder ausgegrenzt werden, auf dem Pausenhof, beim Einkaufen, in der Badeanstalt bis zum Verschwinden von Judiths Familie nach der Pogromnacht: „,Die kommen nicht wieder’, flüsterte Lisas Mutter.” Auch der Unterrichtsentwurf von Michael Sahr scheut davor zurück, das Schicksal von Judith weiter zu denken, wenn er es „dem Feingefühl” und der „Behutsamkeit” der Lehrkraft überlässt, ob sie auch „die furchtbaren Folgen der Pogromnacht” anspricht  (Sahr, S. 35). Reuter bemüht sich, abseits des „gängigen Motivs der Kinderfreundschaft in der Holocaust-Literatur” (Armbrüster-Groh, S.92) auch den Alltag der Mitläufer und Zuschauer in Szene zu setzen, die in ihrem Verhalten auch zu Mittätern werden können. In einer Schlüsselszene beschimpft Lisa, die sich in der Schule angesichts der Pöbeleien auf dem Schulhof noch schützend vor Judith stellte,  im Verlauf eines Kinderstreits um einen Teddy Judith als „Judenmädchen”. Problematisch erscheint jedoch, dass diese Szene – ähnlich wie der Streit zwischen Hélène und Lydia in Joe Hoestlandts Buch – in einen unmittelbaren Kontext zu Judiths Verschwinden gestellt und die historische Schuld pervertiert und dem Kind, das selbst Opfer ist, zugeschoben wird.

Auch „Judith und Lisa” stieß bei den israelischen Kolleginnen auf starke Kritik. Erneut standen der Streit um die Bilder im Vordergrund, die von dem Bemühen geprägt sind, die historischen Ereignisse realistisch einzubeziehen und das Vordringen der nationalsozialistischen Herrschaft in das kindliche Leben zu dokumentieren. Die israelischen Kolleginnen störten sich vor allem an der optischen  Dominanz der Nazi-Symbole (insbesondere der zahlreichen Hakenkreuzfahnen) und an den Bildzitaten aus der NS-Propaganda, denen der Text nichts entgegensetzen könne. Sie vermissten jegliche Information über das weitere Schicksal von Judith und ihrer Familie („aber so sehr sie auch suchte, sie fand sie niemals wieder”) – ein Defizit, das wohl auch die Autorin spürte und deshalb ein „bemühtes Nachwort” (Kaminski) von Antoinette Becker hinzufügte.  Auch hier zeigte sich in der Diskussion, dass die israelischen Kolleginnen und Kollegen insgesamt große Vorbehalte dagegen haben, die Schoah mit Hilfe fiktiver Geschichten zu thematisieren, „obwohl doch so viele wirkliche Geschichten und wirkliche Bilder existieren.” Dagegen verwiesen deutsche Kolleginnen und Kollegen auf ihr vorrangiges Interesse, Kindern in deutschen Schulen das Verhalten der Zuschauer und Mittäter und die Möglichkeiten für menschliches Verhalten zu vermitteln.  

Judith Kestenberg: Als Eure Großeltern jung waren

Das Buch der Psychoanalytikerin Judith Kestenberg verdient auf Grund der Biografie und der wissenschaftlichen Laufbahn der Autorin und ihrer expliziten Reflexion des Vorhabens, ein Bilderbuch über den Holocaust zu schreiben, besondere Beachtung. Bemerkenswert sind auch die groben, mit schwarzer, oft verlaufender Tinte und Kohle gezeichneten Illustrationen von Vivienne Koorland, die sich an Kinderzeichnungen anlehnen und von daher in deutlichem Gegensatz zur ästhetischen Stilisierung der übrigen Bücher stehen. Unübersehbar sind die Bezüge zu Kinderzeichnungen aus dem KZ Theresienstadt. Vivienne Korkland begann nach einem Besuch Theresienstadts einen Bilderzyklus mit dem Titel „Terezin War Drawings“ ((An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass es eine Reihe ausgezeichneter Dokumentationen von Kinderzeichnungen und -gedichten gibt, die sich zumindest in der Grundschule auch dazu eignen, das Schicksal von Kindern in den Lagern zu thematisieren. Stellvertretend seien folgende Titel genannt:
Ella Liebermann-Shiber: Am Rand des Abgrunds (Frankfurt 1997) mit nach der Befreiung entstandenen Zeichnungen); Verjagt, ermordet (Düsseldorf 1988, Ausstellungskatalog mit Zeichnungen jüdischer Schüler); Hier fliegen keine Schmetterling (Wuppertal 1962, Kinderzeichnungen und Gedichte aus Theresienstadt, hrsg. von Hana Volavkova; englisch: I never saw another butterfly, 2.erw. Auflage New York 1993; u.d.T. „Hier fliegen keine Schmetterlinge” auch als Film bei den Landesfilmdiensten erhältlich); Thomas Geve: Es gibt hier keine Kinder (Göttingen 1996 mit Zeichnungen des Autors über seine Inhaftierung in Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald, entstanden 1945 unmittelbar nach der Befreiung des 16-Jährigen).)).

Auf den meisten Doppelseiten stehen sich eine Textseite mit einer sorgfältig imitierten Kinder-Schreibschrift und ein Bild gegenüber. Das Buch selbst ist der Versuch, die Informationen eines  Geschichtsbuchs mit einer starken moralischen Lektion kindgemäß wiederzugeben und zu illustrieren. Anders als die übrigen Bilderbücher wird keine individuelle Geschichte erzählt, keine Identifikationsmöglichkeit angeboten, hat Emotionalität gegenüber dem rationalen Diskurs weniger Raum.

Brücken zur Gegenwart sind am Anfang die Großeltern, die damals  „noch jung waren”,  und am Ende des Buchs die universelle Botschaft: „Wir wollen mit allen Menschen befreundet sein, mit den Schwachen, mit den Starken, den Schwarzhaarigen und den Blonden. Wir sind nicht besser als andere Menschen.”

Kestenberg thematisiert auf sechs Doppelseiten die Nazi-Ideologie (Kinder-Erziehung, Imperialismus, Rasse-Ideologie, Ausgrenzung von „kranken, schwachen oder andersartigen Menschen”, Gleichschaltung) und die Position der deutschen Bevölkerung  zwischen Angst, Anpassung und Begeisterung. Auf vier Doppelseiten wird die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung bis zur Flucht ins Ausland oder Deportation in ein Ghetto dargestellt. Das Leiden in Konzentrationslagern  wird auf einer Doppelseite erfahrbar: Es zeigt Häftlinge beim Appell, prügelnde Aufseherinnen und Aufseher, Menschen am Galgen, einen Toten, der von einem anderen Häftling über den Boden geschleift wird. Der Beobachter der Szene blickt durch den Zaun und über ein großes Tor mit der Aufschrift „HALT”. Der Text berichtet, dass die Häftlinge „Schläge bekamen” und „ermordet wurden”. Der Sieg der Alliierten und der Selbstmord Hitlers brachten den Menschen, die  in KZs und in Verstecken überlebten, die Freiheit. Kestenberg schlägt den Bogen weiter zur Gegenwart: Viele Deutsche „schämen sich (…) und sind betrübt, dass in ihrem Land so viel Schlechtes getan wurde”. Zugleich sind sie „froh, dass es ein Land gibt, wo Juden immer leben können, das Land Israel, aber sie heißen auch Juden willkommen, die in Deutschland leben wollen.” Daneben stehen „dumme Menschen, die Hitler noch immer lieben und auf den Straßen schreien: ,Ausländer raus! Türken raus!’”

Judith Kestenberg wurde 1910 in Polen geboren. Sie studierte in Wien und arbeitete bis zu ihrer Emigration an der Neurologischen und Psychiatrischen Klinik. 1937/38 nahm sie an den Lehrgängen für Pädagogen am Wiener Pschoanalytischen Lehrinstitut teil (Reichmayr, S.158). Else Pappenheim, einer Analysandin von Otto Isakower, schilderte 1982 in einem Interview, wie ihr Kestenberg zu einem Affidavit für die Flucht in die USA verhalf (Reichmayr, S.148). In New York galt ihre besondere Aufmerksamkeit – unter anderem als Direktorin der „Jerome Riker International Study of the Organized Persecution of Children” – der Psyche der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen.

Der Begleittext zum Bilderbuch ist ein vehementes Plädoyer für die historische Wahrheit, die heute – wie das Thema „Tod” – ebenso tabuisiert werde wie die Sexualität zur Zeit Freuds. Die in die Form der Behütung der Kinder gekleidete Abwehr steht für Kestenberg im merkwürdigen Gegensatz zum freien Zugang zu Gewaltdarstellungen in den Medien und zur Präsentation der „Sünden der Erwachsenen in Märchenform” (Kestenberg 1992, S.147). Kestenberg entwirft „ein Modell der Verantwortung statt der Schuld” (ebd., S.150), das Kindern vermittelt, „dass man etwas Böses eingestehen kann, um zu vermeiden, in der Zukunft das Gleiche zu tun” (ebd., S.149). Kestenberg entwarf ihr Buch dezidiert für deutsche Kinder; um „die Geschichte des Nationalsozialismus auf eine Weise zu beschrieben, dass Kinder sie auf sich beziehen und sie sofort in ihren Beziehungen zu Kindern benutzen können, die anders sind und die heute in Deutschland leben und von manchen Teilen der deutschen Gesellschaft verpönt sind” (ebd., S.152). Insoweit steht das Buch aber auch in der Kontinuität der amerikanische Holocaust-Pädagogik, die die Auseinandersetzung mit dem Holocaust als Element einer umfassenden Menschrechtserziehung begreift. Kestenberg formuliert deren Intentionen aus psychoanalytischer Sicht: „Wo kein Trauerprozess stattfindet, entwickelt sich auch keine Empathie für andere Menschen. (…) Erinnerung kann Trauer wecken und einen Neuanfang ermöglichen. Liebe kann an die Stelle des Todestriebs treten, sublimiert und in produktive, lebensbejahende Arbeit umgesetzt werden” (Kestenberg 1998, S.20).

Dass sich Kestenbergs Erwartungen auch realisieren lassen, zeigt einen Bericht von Katrin Stender über die Reaktionen ihres Sohnes im Vorschulalter, der zunächst „von der bösen Gestalt” Hitler fasziniert war und schließlich Pläne schmiedete, „wie und wo wir in unserem Wohnhaus Juden verstecken könnten” (Stender, S.23).

Kritisch beurteilte unsere Arbeitsgruppe die Glorifizierung der Weimarer Republik und die Personifizierung des NS-Systems allein in der Person Adolf Hitlers: „Ein kleiner böser Mann, der Hitler hieß, wurde ihr Führer (…) Er wollte alle Länder rings herum für sich selber haben, so gierig war er. Er wollte dass alle deutschen Kinder Übermenschen werden, die marschieren und kämpfen wie Soldaten (…) Er wollte die Juden wegschicken oder töten. Er wollte, dass alle Deutschen Nazis werden.”  Nur an einer Stelle werden später Hitlers Freunde, „die Nazis und SS-Männer”, erwähnt.

Wie alle Bilderbücher dieser Thematik benötigt Kestenbergs Buch einen Erwachsenen, der das Betrachten und (Vor-)Lesen begleitet. Die zahlreichen historischen Details von den Symbolen bis zum jeweils illustrierten historischen Ereignis sind aller didaktischen Reduktion nur mit ergänzenden Hinweisen verständlich. Genau dies ist aber auch die Stärke des Buches: Anders als andere Bücher, die eine geschlossene Geschichte erzählen, ist es ein Buch, das zum Fragen und Weitererzählen anregt.

Tomi Ungerer: Otto. Autobigraphie eines Teddybären

Ich-Erzähler ist der Teddybär Otto, ein Geburtstagsgeschenk für den jüdischen Jungen David. David und sein Freund Otto stellen allerhand Unfug mit dem Teddy an, „bis der Tag kam, an dem David einen gelben Stern tragen musste”. Als David und seine Eltern deportiert werden, bleibt der Teddybär bei Oskar, der ihn bei einem Luftangriff verliert. Einem amerikanischen Soldaten, der ihn findet, rettet er bei einem Schusswechsel das Leben und wird so zum Maskottchen des Regiments. Viele Jahre später landet er als „echtes Sammlerstück” bei einem Trödler, wo ihn Oskar bei einer Reise nach New York entdeckt. Als ihre Geschichte in der Zeitung Schlagzeilen macht, findet auch David wieder zu ihnen. David und Oskar haben als einzige ihrer Familien überlebt. Sie suchen sich „zu dritt” eine Wohnung: „Endlich war das Leben so, wie es sein soll: friedlich und normal.”

Ungerers Buch ist das jüngste in der Reihe der Bilderbücher über Nationalsozialismus, Holocaust und Krieg und zugleich das einzige, das den Charakter üblicher Kinderbücher hat. Ungerer erzählt eine spannende Geschichte ohne historische Details, ohne Mystifizierungen, mit einfachen, klaren Bildern, die zum Fragen anregen. Das Ende ist optimistisch und utopisch, ohne dass die Realitäten ausgeblendet werden. Problematisch ist die Gleichsetzung der Familienschicksale von David, dessen Eltern im KZ umgebracht werden, und Oskars, dessen  Vater als Soldat fällt und dessen Mutter bei einem Bombenangriff umkommt. Gegenüber den Bildern, die die Deportation der jüdischen Familien zeigen, sind die Kriegsbilder (Oskars Abschied von seinem Vater, im Luftschutzkeller, Bilder der Soldaten in den Ruinen einer deutschen Stadt) überrepräsentiert. Beide Familien erscheinen gleichermaßen als „Kriegsopfer”, Zusammenhänge zwischen den Verbrechen an Juden und dem NS-Imperialismus werden nicht einmal angedeutet.  

Roberto Innocenti: Rosa Weiss

Die Geschichte beginnt auf dem Marktplatz einer mit Hakenkreuzen geschmückten deutschen Kleinstadt, in der fröhlich winkenden Kinder, darunter die an ihrer leuchtend roten Haarschleife erkennbare Rosa Weiss, und Erwachsene Soldaten verabschieden, die einen Lastwagen besteigen. Es folgen bedrohlich lärmende Panzer. Eines Tages bleibt ein Lastwagen, der von einem Auto mit SS-Zeichen begleitet wird, wegen eines Motorschadens stehen, und ein kleiner Junge versucht, aus dem Lkw zu fliehen. Er wird vom Bürgermeister aufgehalten. Der Junge wird zu dem Lkw zurückgebracht und zwischen die übrigen Menschen gepfercht. Rosa Weiss folgt den Spuren des Lkw und kommt zu einer mit Stacheldraht abgesperrten Lichtung. Hungernde Kinder in Häftlingskleidung mit einem gelben Stern starren sie hinter einem elektrisch geladenen Zaun mit ausgemergelten Gesichtern an. Rosa Weiss bringt jetzt regelmäßig Essen zu den Häftlingen. Inzwischen hat sich auch die Stadt verändert: Fuhrwerke mit Flüchtlinge und verletzte Soldaten ziehen durch die Stadt, der Bürgermeister sucht – ohne seine Uniform – das Weite. Als Rosa ein letztes Mal zum Lager geht, ist dieses verschwunden. Offensichtlich abziehende deutsche Soldaten schießen. Soldaten der Roten Armee ziehen in die Stadt ein. Das letzte Bild zeigt die von Gras und Blumen überwachsenen Überreste des Lager: „Die Mutter von Rosa Weiss wartete lange auf ihr kleines Mädchen.”

„Rosa Weiss” ist ein herausragendes Beispiel für den besonderen Blick, den Bilderbücher auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, das eigentlich Unbeschreibliche werfen. Die  Autoren und Illustratoren versuchen die Sichtweise eines Kindes zu erahnen, dessen „Mangel an Verstehen (…) der Unfähigkeit des Erwachsenen (entspricht), Erlebnisse, wie sie im Lager an der Tagesordnung waren, in Worte zu fassen. Die Situation des Kindes kann daher dem erwachsenen Autor als Mittel dienen, diesem Mangel abzuhelfen” (Reiter, S.217). Andrea Reiter, die dies im Hinblick auf die Kinderperspektive in der Holocaust-Literatur formuliert, weist auch auf ein anderes Phänomen der Holocaust-Rezeption hin: „Die Unschuld des Kindes macht die Brutalität der Verfolger offensichtlicher und irrationaler” (Reiter, S.222). Als Beispiel verweist sie auf die Darstellung eines einzelnen kleinen Mädchens in Spielbergs Film „Schindlers Liste”, das in dem sonst durchgängig schwarz-weiß gedrehten Film durch einen roten Mantel hervorgehoben wurde und insoweit an die Darstellung von Rosa Weiss anknüpft, die in den überwiegend in Grau- und Brauntönen gezeichneten Bildern immer an ihrer roten Haarschleife erkennbar ist.

Das Bilderbuch „Rosa Weiss” war wie kein anderes Gegenstand einer breiten kontroversen Debatte. Gelobt wurde es als „erschütterndes Dokument für die Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit des Krieges”, wegen der „Suggestionskraft der großformatigen, in gedeckten Farben gemalten Bilder, die in ihrer Realität an Fotografien erinnern”, als „,einfache’ Geschichte über die Welt der Gewalt und Unterdrückung”, kritisiert als „Politikkitsch in reinster Form und ohne Rücksicht auf historische Details”, als „Kriegs – und Leidensgeschichte (…), deren Ort und Personal austauschbar sind” (alle Zitate: Thiele, S.137 ff.). Insbesondere Jens Thiele verteidigt Inhalt und Ästhetik des Buchs aus der Sicht der kindlichen Rezipienten, die „andere Fragen stellen, andere Details wahrnehmen, eben anders lernen”, gegen den Anspruch der erwachsenen Kritiker, „ein einziges Bilderbuch (habe) den deutschen Faschismus zu erklären” (Thiele, S.139).

Im Mittelpunkt der Diskussion standen erneut die Illustrationen, ihr historischer Gehalt und ihre Botschaft. Besondere Aufmerksamkeit fanden die Begegnung Rosa Weiss mit den jüdischen Kindern am Zaun des Konzentrationslagers und die Schlussszene, die mystische Züge trägt: Wenn im Nebel um das Lager Schüsse fallen, bleibt für den Betrachter ungewiss, ob diese Schüsse der Befreier ursächlich für das Sterben von Rosa Weiss’ und der KZ-Häftlinge sind. Grünewald sieht in dem Tod von Rosa Weiss und dem frühlingshaften Schlussbild der von Pflanzen und Blüten überwachsenen Überreste des KZ  eine Metapher der Verdrängung: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Reste des Lagers verwittert sind, bis die siegreiche Natur einen grünen, friedlichen, heilenden Teppich des Vergessens über die Stätte gebreitet hat” (Grünewald, S.93). Wermke verteidigt gerade dieses Bild als Ausdruck einer unbestreitbaren Tatsache: „Die Zeitzeugen sind tot. Auschwitz zerfällt, und die Verbrechen werden vergessen” (Wermke, S.114 f.).

Ähnlich kontrovers verlief die Diskussion zwischen israelischen und deutschen Lehrkräften in unserem Seminar in Berlin. Eine israelische Kollegin hob hervor, dass sie das Buch gerne als eine anrührende Geschichte über die Menschlichkeit  einsetzen würde. Von den anderen israelischen Mitgliedern der Gruppe und einer deutschen Kollegin wurde das Buch abgelehnt. Sie erwähnten einige kleinere Unstimmigkeiten des Buches (die Annäherung von Rosa Weiss an das KZ, die Tatsache, dass sie Brot durch einen elektrisch geladenen Zaun hindurch reicht, die Unklarheiten über die Hintergründe des Krieges und die Insassen des KZ, die für deutsche und englischsprachige Kinder, aber auch für viele Erwachsenen unverständlichen Fragmente der NS-Parolen an den Hauswänden). Hauptkritikpunkt war jedoch das traurige Ende: Rosa Weiss, die Humanität, Solidarität und Empathie verkörpert, ist am Ende das einzige „sichtbare” Opfer. Das Schicksal der  Kinder aus dem KZ bleibt im Nebel („Die Holzhäuser waren verschwunden und der Stacheldraht zerstört”), der Bürgermeister „war weit weg”.

Bei der Konzentration auf die Bilder blieb bisher der Text weitgehend unberücksichtigt. Der – zunächst aus pragmatischen Gründen einer vereinfachten Kommunikation zwischen deutschen und israelischen Lehrkräften vorgenommene – Vergleich der deutschen und der englischen Textfassung erbrachte überraschende Unterschiede. „Rose Blanche” – so der Titel der englischen Version von Christoph Gallaz – verweist im Gegensatz zur Verschlüsselung in der deutschen Übersetzung unmittelbar auf die „Weiße Rose”. Einige  Auslassungen und Änderungen in der deutschen Übersetzung durch den Herausgeber Abraham Teuter berühren zentrale Punkte der Kritik an dem Buch. Die englische Fassung ist im Hinblick auf die historischen Erklärungen genauer und sprachlich von größerer Eindringlichkeit und Emotionalität ((Bereits auf der ersten Seite wird in der englischen Fassung der historische Hintergrund im Text erwähnt: „The men from the town went off to fight for Germany.” Dagegen heißt es im deutschen Text: „Eines Tages kamen die ersten Lastwagen und viele Männer stiegen ein.” Auch die folgenden Seiten weisen erhebliche Unterschiede auf: In der deutschen Fassung wird im Hinblick auf die durchfahrenden deutschen Soldaten kryptisch auf Männer hingewiesen, „die noch nie in der Stadt gewesen waren”. Die Ursache für die Schlange vor der Bäckerei wird nur im englischen Text erwähnt: „No one grumbled. Everybody knew that food was needed for the soldiers who were always hungry.” Bei der Flucht des Jungen aus dem Lastwagen fehlen die folgenden Sätze in der deutschen Ausgabe:
„A soldier shouted, Stop or I’ll shoot (…) One of the soldiers was furious and shouted at the boy who burst into tears.” Auch andere Formulierungen sind in der deutschen Übersetzung durchweg abgeschwächt: „Die Soldaten brachten den Jungen wieder in den Wagen.” (The boy was thrown into the lorry. Rose Blanche saw other pale faces in the gloom, wenn the door banged shut.”)
Sie folgte den Reifenspuren in den Wald und kam zu einer Lichtung.” („She was so tired, she felt like giving up. Then she stumbeld into a clearing and could hardly believe what she saw.”)
„Die Soldaten schienen sehr müde zu sein.” („Soldiers, thousands of them, exhausted, wounded, despirited, poured back through the town.”)
Während die Kinder im Lager anlässlich der Begegnung am Zaun mit „Holzpuppen” verglichen werden, die „eingefallen und hungrig” aussahen und der Übersetzer offensichtlich auf die Intensität der Bilder vertraut, wählt der englische Übersetzer eine weit eindringlichere Sprache:„Dozens of silent, motionless children stared at her from behind a barbed wire fence. They hardly seemed to breathe. Their eyes were large and full of sorrow. They stood like ghosts, watching as she came close.”)).

Das Kind im Koffer

Das – in der Zusammenstellung älteste – Bilderbuch „Das Kind im Koffer“ erzählt eine reale und von Bruno Apitz in seinem Roman „Nackt unter Wölfen“ verewigte Geschichte, die Kindern Mut machen soll. Allerdings führen insbesondere die Illustrationen von Sylvia Heibisch zu einer nicht akzeptablem Verniedlichung des Alltags in einem Konzentrationslager und zu einer ungeschichtlichen Heroisierung des Lagerlebens, die in dem heroischen Bild der Selbstbefreiung Buchenwalds kulminieren, das der DDR-Rezeption des Lagerwiderstands entspricht. So gab es auch in der ersten Auflag keinen Hinweis darauf, dass der kleine Junge, der von den Häftlingen gerettet wird, jüdisch ist – ein Versäumnis, das erst später mit einem selbstkritischen Hinweis im Nachwort behoben werden sollte, aber im Text des Buchs nur zur  Einfügung eines einzigen Wortes führte.

Text und Bilder beschreiben den Alltag im KZ Buchenwald, die Lagerappelle, die Schikane der Wachmannschaften und die Versuche der Häftlinge, sich ein menschliches Antlitz zu bewahren und den Widerstand zu organisieren. Pippig und André entdecken in einem Koffer, den ein neuer Häftling mit sich schleppt, einen kleinen Jungen. Sie schalten den tumben Wachmann Krummnagel (!) in der Kleiderkammer aus und verstecken den Jungen. Der Junge, den sie gegen alle Gefahren und Einsatz des eigenen Lebens verteidigen, wird für sie zum Sinnbild des Lebens.

Literatur:

(Die Literatur bezieht sich auf den Zeitraum bis 2001; am Ende dieser Literaturliste werden einige aktualisierte Angaben hinzugefügt.)

1. Besprochene Bilderbücher:

David A. Adler: The Number on My Grandfather’s Arm. New York: UAHC Press, 1987 (deutsche Ausgabe als Beilage zu „Die Grundschulzeitschrift“ geplant).

Ilse Burfeind (Text), Sylvia Hebisch (Bilder): Das Kind im Koffer. Eine Geschichte aus dem KZ Buchenwald. Hamburg: Kinderhaus e.V., 1987.

Joe Hoestlandt (Text), Johanna Kang (Bilder): Die große Angst unter den Sternen (aus dem französischen). München/Wien: Carl Hanser Verlag 1995.

Roberto Innocenti: Rosa Weiss. Frankfurt: Ali Baba Verlag 5. Auflage 1992 (englische Ausgabe u.d.T. Rose Blanche. Creative Education); als Begleitmaterial für Lehrkräfte erschien im selben Verlag: Kinder als Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Rolf Beckmann,  Albrecht Klare und Rainer Koch. Frankfurt 1986.

Judith S. Kestenberg (Text), Vivienne Korland: Als Eure Großeltern jung waren: Mit Kindern über den Holocaust sprechen. Hamburg: Krämer, 1993.

Elisabeth Reuter (Text und Illustration): Judith und Lisa. München: Verlag Heinrich Ellermann, 1988.

Tomi Ungerer Otto. Autobiographie eines Teddybären. Zürich: Diogenes, 1999.

2. Erwähnte Jugendbücher:

Gehrts, Barbara: Nie wieder ein Wort davon. München 1978.

Pausewang, Gudrun: Reise im August. Ravensburg 1992.

Richter, Hans-Peter: Damals war es Friedrich. München 1981 (zahlreiche Auflagen).

3. Sekundärliteratur:

Abram, Ido/Mooren, Piet: Erziehung nach Auschwitz… mit und ohne Auschwitz?, in: Der Holocaust a.a.O., S.93-109.

Armbröster-Groh, Elvira: Wie Grundschüler/innen mit Bilderbüchern zum Thema Holocaust umgehen, in: Die Darstellung des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur. Beiträge Jugendkultur und Medien, 10. Beiheft 1999, S.91-97.

Beck, Gertrud: Holocaust als Thema in der Grundschule, in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 97, 1996, S. 11-17.

Begegnung mit Kinder- und Jugendliteratur aus Israel (Ausstellungkatalog), hrsg. von Mirjam Morad. Wien 1994.

Dagan, Batsheva: Wie können wir Kindern helfen, über den Holocaust zu lernen. Ein psychologisch-pädagogischer Zukunft, in: Der Holocaust a.a.O. S.36-50.

Freiling, Harald: Der Holocaust als Thema amerikanischer Schulcurricula, in: Internationale Schulbuchforschung 3/1989, S.255-282.

Freiling, Harald: Kinder- und Jugendbücher im Unterricht über die Judenverfolgung und die Schoah, in: Judentum und jüdische Geschichte im Schulunterricht nach 1945, hrsg. von Thomas Lange. Wien, Köln, Weimar 1994, S.279-291.

Giere, Jacqueline: „Der große Schatz des armen Volkes”: Die Schule der Überlebenden, in: „Für ein Kind war das anders”. Traumatische Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland, hrsg. von Barbara Bauer und Waltraud Strickhausen. Berlin 1999, S.177-191.

Grünewald, Dietrich: Ein gutes Buch, trotz der Probleme… Warum das Bilderbuch Rosa Weiss“ den Deutschen Jugendliteraturpreis 1987 nicht bekam, in: Lieber lesen. 5. Almanach der Kinder- und Jugendliteratur. München 1988, S.91-94.

Heyl, Matthias (1996): Mit Kindern im Grundschulalter über den Holocaust sprechen, in: Die Grundschulzeitschrift Heft 97, 1996, S.24-43.

Heyl, Matthias (1998): „Nein aber…” oder: Warum?, in: Der Holocaust, a.a.O., S.120-141.

Der Holocaust – Ein Thema für Kindergarten und Grundschule?, hrsg. von Jürgen Moysich und Matthias Heyl. Hamburg 2. Auflage 1998.

Kaminski, Winfried: Kinder hinter Stacheldraht, in: FAZ vom 14.10.1989.

Kammler, Clemens: Strategien des Erinnerns. Zur „Erziehung nach Auschwitz” im Literaturunterricht der neunziger Jahre, in: Der Deutschunterricht 4/1997, S.58-69.

Kestenberg, Judith (1984): Kinder von Überlebenden der Naziverfolgungen, in: Psyche, 2/84, S.249-265.

Kestenberg, Judith (1992): „Als eure Großeltern klein waren” – Mit Kindern über den Holocaust sprechen, in: Das Echo des Holocaust. Pädagogische Aspekte des Erinnerns, hrsg. von Helmut Schreier und Matthias Heyl. Hamburg 1992, S. 145-155.

Kestenberg, Judith (1998): Vorwort zur deutschen Ausgabe , in: Kinder der Opfer. Kinder der Täter, hrsg. von Martin S. Bergmann, Milton E. Jucovy, Judith S. Kestenberg. Frankfurt 1998 (mit weiteren Beiträgen der Autorin über die Psyche überlebender Eltern und ihrer Kinder).

Kliewer, Ursula: Holocaust in der israelischen Jugendliteratur, in: Die Darstellung des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur. Beiträge Jugendkultur und Medien, 10. Beiheft 1999, S.64-82.

Leuzinger-Bohleber, Marianne: Holocaust – ein Thema, das menschliches Verstehen übersteigt, in: Die Grundschulzeitschrift Heft 97, 1996, S. 46-50; das Interview führte Ariane Garlichs.

Reichmayr, Johannes: Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse. Frankfurt/M.1990.

Reiter, Andrea: Die Funktion der Kinderperspektive in der Darstellung des Holocaust, in: „Für ein Kind war das anders”. Traumatische Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland, hrsg. von Barbara Bauer und Waltraud Strickhausen. Berlin 1999, S.215 – 229.

Rodenhäuser, Elke: Anne Frank im Unterricht einer Grundschule, in: Die Grundschulzeitschrift Heft 97, 1996, S.18-21.

Sahr, Michael: Wieviel Wahrheit brauchen Kinder? Elisabeth Reuters realistische Lebensgeschichte von „Judith und Lisa”; in: Praxis Deutsch Heft 111/1992, S.27-35.

Schmidt-Dumont, Geralde: Jugendbücher zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust 1945 – 1999. Lesebiografien, in: Die Darstellung des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur. Beiträge Jugendkultur und Medien, 10. Beiheft 1999, S.98-110.

Shavit, Zohar: Die Darstellung des Nationalsozialismus und des Holocaust in der deutschen und israelischen Kinder- und Jugendliteratur, in: Die Darstellung des Dritten Reichs im Kinder und Jugendbuch, hrsg. von Malte Dahrendorf und Zohar Shavit. Frankfurt 1988, S.11- 40.

Steinlein, Rüdiger: Auschwitz und die Probleme narrativ-fiktionaler Darstellung der Judenverfolgung als Herausforderung der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur, in: Bücher haben ihre Geschichte, hrsg. von Petra Josting und Jan Wirrer. Hildesheim, Zürich, New York 1996, S.177-191.

Stender, Katrin: Schon im Vorschulalter?, in: Die Grundschulzeitschrift Heft 97, 1996, S.22-23.

Stender, Katrin: „Es war einmal ein kleiner böser Mann, der Hitler hieß“. Mit Kindern über die Nazizeit reden, in : Psychologie heute, August 1994, S. 38-42

Thiele, Jens: Von der Unmöglichkeit, den Holocaust im Bilderbuch darzustellen, in: Antisemitismus und Holocaust. Oldenburg 1988, S.137-147.

Weiß, Maria: Bilderbücher und Nationalsozialismus, in: Erinnerungsarbeit. Der Nationalsozialismus in der Kinder- und Jugendliteratur von 1945 bis heute; hrsg. von Wilma Aden-Grossmann. Ausstellungskatalog Kassel 1998, S. 18-40.

Wermke, Michael: Jugendliteratur über den Holocaust. Eine religionspädagogische, gedächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung. Göttingen 1998.

4. Aktualisierte Literatur: Neue (autobiographische) Kinderbücher zum Holocaust:

Appelfeld, Aharon: Blumen der Finsternis. Berlin 2008 (Rowohlt Verlag). http://buecher.hagalil.com/2009/01/appelfeld/

Boyne, John: Der Junge im gestreiften Pyjama. Eine Fabel. Frankfurt a. M. 2007 (Fischer TB).

Dreifuss, Tamara.: Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944. Ein jüdisches Mädchen überlebt den Holocaust in Europa. Köln 2010 (Betrieb für Öffentlichkeit), ISBN 978-3-932248-13-9, info@druckbetrieb.de

Krauß, Irma: Das Wolkenzimmer. München 2007 (cbj Verlag).

Marcovicz, Digine: Massel. Letzte Zeugen. München 2007 (Hanser).

Orlev, Uri.: Der Mann von der anderen Seite. Weinheim und Basel 2007 (Beltz).

Finkelgruen, Peter / Gertrud Seehaus: Opa und Oma hatten kein Fahrrad. Norderstedt 2008 (Books on Demand) http://www.buecher.hagalil.com/sonstiges/finkelgruen-1.htm

Springer, Jane: Genozid. Hildesheim 2007 (Gerstenberg).

Thor, Annika: Eine Bank am Seerosenteich. Hamburg 2002 (Carlsen).

Thor, Annika: In der Tiefe des Meeres. Hamburg 2003 (Carlsen).

Thor, Annika: Offenes Meer. Hamburg 2003 (Carlsen).

Thor, Annika: Eine Insel im Meer. Hamburg 2006 (Carlsen).

Toksvig, Sandi: Hitlers Kanarienvogel. Eine fast wahre Geschichte. 2006, Boje Verlag.

Voorhoeve, Anne C.: Liverpool Street. Ravensburg 2005 (Ravensburg).

Dieser Beitrag wurde dem von Roland Kaufhold und Till Lieberz-Groß (Hg. 2001) herausgegebenen psychosozial-Band: Deutsch-israelische Begegnungen, psychosozial Heft 1/2001, S. 55-66 entnommen und von R. Kaufhold für haGalil gekürzt.

Wir danken den Herausgebern sowie dem Inhaber des Psychosozial-Verlag, Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth für die freundlich erteilte Nachdruckgenehmigung.

Literatur:
Gewerkschaft Erziehung & Wissenschaft (Hg.) (2009): “Die Verantwortung aber bleibt” (Reader)
https://www.hagalil.com/2009/05/27/gew/
(Mindestbestellmenge 5 Exemplare) über
gew-shop@callagift.de, Fax: 06103-30332-20, Einzelexemplare über: broschueren@gew.de, Fax: 069/78973-70161

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