Die Entwicklung des Zionismus bis zur Staatsgründung Israels (Teil 1)

1
83

Im Vergleich zu den mehr als zwei Millionen ostjüdischen Immigranten, die seit den 1890er Jahren den nordamerikanischen Kontinent erreicht hatten, nahm sich die europäisch-jüdische Einwanderung in das zur osmanischen Provinz Damaskus gehörende Palästina zunächst bescheiden aus…

Von Martin Kloke

Das jüdische Palästina zu Beginn des Ersten Weltkriegs

Zwischen 1882 und 1903, der ersten zionistisch motivierten Einwanderungswelle, kamen etwa 20.000 bis 30.000 Menschen in das Land zwischen Mittelmeer und Jordan, das im europäisch-christlichen Abendland als „Heiliges Land“ firmiert. War die erste Alija ((Mit „Alija“ (pl. „Alijot“, „Aufstieg [nach Zion]“) werden die jüdischen Einwanderungswellen nach Palästina bezeichnet.)) noch maßgeblich vom ökonomischen Wechselspiel zwischen privatkapitalistischen Plantagenbesitzern und arabischen Landarbeitern geprägt, so trat die 2. Alija (1904 bis 1914) unter völlig anderen ideologischen Vorzeichen an: Viele der ca. 35.000 bis 40.000 Einwanderer waren von einer romantischen Mischung aus zionistischen und sozialistischen Ideen beseelt. Zu den antikapitalistisch argumentierenden Vordenkern dieser jüdischen Arbeiterbewegung zählten so unterschiedliche Protagonisten wie Ber Borochov (1881–1917), ((Borochov, Sozialismus und Zionismus 1932.)) Mitbegründer der russischen „Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Poale Zion“, sowie der in der Tradition des russischen Dichters Lev Tolstoj (1828–1910) stehende öko-religiöse Sozialist und zionistische Praktiker Aharon David Gordon (1856–1922). ((So sagte Gordon im Jahr 1916/1917: „Unser Weg führt zur Natur durch das Mittel der körperlichen Arbeit.“ Ausführlich in: Gordon, Erlösung durch Arbeit 1929.)) Enttäuscht über die misslungene russische Revolution von 1905–1907, die kein Ende der blutigen Pogrome in Aussicht zu stellen vermochte, öffneten sich vor allem jene Einwanderer den Ideen des Zionismus, die den kleinbürgerlichen Milieus des ostjüdischen Prekariats entstammten. Mit einer Entschlossenheit, wie sie nur in einer utopisch-revolutionär aufgeladenen Gemengelage denkbar ist, begannen die jungen Pioniere („Chaluzim“) die landwirtschaftliche Erschließung Palästinas aufzunehmen. Ihr Ziel war es, die Sozialstruktur der jüdischen Gemeinschaft zu „normalisieren“, um ein Volk wie jedes andere zu werden. Unter dem Motto „Eroberung der Arbeit“ bildete der Aufbau genossenschaftlicher Produktions- und Vertriebsstrukturen – insbesondere die Gründung kollektiver landwirtschaftlicher Dörfer (Kibbuzim) – den ökonomischen Grundstock des sozialistischen Zionismus in Palästina. Da die Pioniere die seit 1909 vom Jüdischen Nationalfonds zielstrebig erworbenen Böden genossenschaftlich bearbeiteten, konnten sie jede Form der ihnen verpönten kapitalistischen Lohnarbeit (nicht zuletzt die der billigeren arabischen Lohnarbeit) vermeiden.

Zwischen 1904 und 1914 hatte sich die Zahl jüdischer Siedler und Siedlungen verdoppelt, obwohl ein Teil der Einwanderer angesichts der schwierigen ökonomischen und gesundheitlichen Verhältnisse das Land wieder verlassen hatte bzw. nach Amerika weitergezogen war. Auch zeigte die große Mehrheit der jüdischen Diaspora in Europa und Amerika zunächst nur wenig Interesse am zionistischen Projekt. Nicht jüdischer Nationalismus und Zionismus, sondern Assimilation und Integration in die jeweiligen Nationalstaaten waren die geistigen Bezugspunkte des modernen und zunehmend säkular ausgerichteten Kulturjudentums. Andererseits investierten private Anleger in dieser Zeit trotz der noch wenig lukrativen Kapitalanlagen im rückständigen Palästina 100 Millionen Franc. Dabei sprossen im Umfeld der genossenschaftlichen Siedlungen kleine Industrieunternehmen und Baufirmen. 1908 richtete die Zionistische Weltorganisation (ZWO) unter Leitung von Arthur Ruppin (1876–1943) ein sogenanntes Palästina-Amt ein. Zwischen 1907 und 1912 unternahm der deutsch-jüdische Philanthrop Paul Nathan (1857–1927), Direktor des nichtzionistischen „Hilfsvereins“, zielstrebige Vorbereitungen zur Erichtung eines Technologischen Instituts (Technion) in Haifa. ((Tatsächlich allerdings konnte der reguläre universitäre Betrieb erst 1924 aufgenommen werden.)) Wie ernst es die Einwanderer mit ihrer „Rückkehr“ in das Land ihrer Vorfahren meinten, sollte sich 1909 insbesondere an den Dünen des Mittelmeers erweisen, als die Stadt Tel Aviv („Frühlingshügel“) ihren Anfang nahm – die erste jüdische Gründung eines urbanen Zentrums in der Neuzeit.

Der Erste Weltkrieg und die Balfour-Deklaration 1917

Als sich das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg schon früh (am 29. Oktober 1914) auf die Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns schlug, spitzte sich der Kampf der Großmächte um die Vormachtstellung im Nahen Osten zu. Wider Erwarten brach das Osmanische Reich, der „kranke Mann am Bosporus“, nicht zusammen, sondern stieß – mit deutscher Unterstützung – bis zum Suezkanal vor. Vor diesem Hintergrund bediente sich Großbritannien einer Doppelstrategie, indem es sowohl jüdisch-zionistische als auch arabische Hoffnungen nährte: Um die Araber zum Aufstand gegen den türkischen Sultan zu motivieren, versprachen die Briten 1915 in einem Brief des Hochkommissars in Ägypten, Sir Henry Arthur McMahon (1862–1949), an den Großscherifen des Hedschas und Mekkas, Hussein ibn Ali (1853–1931), die Unabhängigkeit der ost-arabischen Territorien im Rahmen eines großarabischen Reiches, sobald das Osmanische Reich zerschlagen sei. „Von Palästina war freilich nicht ausdrücklich – oder ausdrücklich nicht? – die Rede gewesen.“ ((Meier-Cronemeyer, Geschichte des Staates Israel 1997, S. 50.)) Insofern ist bis heute umstritten, ob die in McMahons Brief bezeichneten „nicht rein arabisch(en) Distrikte“ im Westen, die von seinem Versprechen ausgenommen waren, auch Palästina einschließen sollten oder nicht. Doch ungeachtet der proarabischen Rhetorik dieses Briefes – aber auch entgegen der späteren zionismusfreundlichen Balfour-Deklaration von 1917 ((Tophoven, Konflikt 1999, S. 24.)) – trafen Großbritannien und Frankreich in alt-kolonialer Manier geheime Absprachen, die in das sogennante Sykes-Picot-Abkommen (16. Mai 1916) mündeten: Sie teilten die den Arabern versprochenen Gebiete des heutigen Irak, Syriens, Jordaniens und Palästinas in Einflusssphären auf; die Kerngebiete Palästinas mit den heiligen Stätten des Christentums sollten internationalisiert werden.

Die russische Herkunft vieler jüdischer Einwanderer lieferte den türkischen Behörden den Vorwand, sie als „feindliche Ausländer“ zu drangsalieren. Viele der ca. 18.000 ausgewiesenen Juden suchten Zuflucht in den USA, darunter die zionistischen Aktivisten David Ben Gurion (1886–1973) und Jizchak Ben Zwi (1884–1963) von der Partei „Poale Zion“. Selbst Einwanderer österreichischer Provenienz litten unter Repressalien, mussten Zwangsarbeit im Eisenbahnbau leisten und ihre Pferde sowie Getreide nahezu verschenken – als dann auch noch eine Heuschreckenplage dazukam, führte dies bald zu einer Hungersnot.

Der osmanische Druck auf die Einwanderer begünstigte die Radikalisierung der jüdischen Arbeiter Palästinas. Eine Minderheit um Wladimir Zeev Jabotinsky (1880–1940) und Josef Trumpeldor (1880–1920) sympathisierte mit terroristischen Formen des Widerstands oder betrieb, mehr oder weniger konspirativ, die Aufstellung einer Jüdischen Legion; in den USA agitierten auch Ben Gurion und Ben Zwi für eine solche Einheit. Doch die britische Armee nahm diese Offerte eher zögerlich auf – erst 1917 begann die britische Regierung, die Bildung eines „Ersten Jüdischen Regiments“ zu akzeptieren, das als Feldzeichen eine Menorah, einen siebenarmigen Leuchter, trug.

Die Mehrheit der Arbeiter antwortete auf die türkischen Repressalien „zionistisch“, indem sie das praktizierte, was Borochov 1918 im Sinne des praktischen Zionismus auf den Punkt brachte: „Schafft Tatsachen, […] – das ist der Grundstein politischer Weisheit. Tatsachen überzeugen besser als Gedanken. Taten wirken nachhaltiger als Losungen. Opfer haben eine größere Werbekraft als Resolutionen. […] Ein gefallener Wächter hat an der Verwirklichung des Zionismus einen größeren Anteil als alle unsere Deklarationen.“ ((Zitiert nach Meier-Cronemeyer, Geschichte des Staates Israel 1997, S. 47.))

Hatten die amerikanischen Juden vor dem Krieg noch kaum Interesse und Anteilnahme am Zionismus gezeigt, so weckten die Verfolgungen in Osteuropa und Palästina Mitgefühl und Solidarität. Dem von Schmarja Levin (1867–1935) gegründeten Hilfskomitee gelang es, den populären jüdischen Antikorruptionsanwalt Louis Dembitz Brandeis (1856–1941) als Präsidenten zu gewinnen. Nachdem US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) den säkularen Brandeis 1916 zum „Associate Justice of the Supreme Court“ berufen hatte, intervenierte dieser mit Erfolg in Konstantinopel und Berlin zugunsten der palästinensischen Juden: Die Mittelmächte begannen nunmehr mäßigend auf die türkische Regierung einzuwirken.

Die Aktivisten der ZWO und anderer zionistischer „Komitees“ setzten sich sowohl bei den Regierungen Deutschlands und Österreichs als auch bei denen der Entente für die Unterstützung ihrer territorialen Aspirationen in Palästina ein: Deutsch-zionistische Zirkel unter Max Bodenheimer (1865–1940) gingen noch einen Schritt weiter und ergriffen offen Partei zugunsten der Mittelmächte. Sie setzten ihre Hoffnungen auf eine Befreiung der russischen Juden. Mit dieser Grundorientierung befanden sie sich zwar in Übereinstimmung mit der Gesamthaltung der deutschen Juden; doch setzte sich innerhalb der weltweiten Zionistischen Organisation ein neutraler Kurs durch – maßgeblich inspiriert von Max Nordau (1849–1923), der als „feindlicher Österreicher“ von Paris nach Madrid vertrieben worden war.

 Während des Weltkriegs avancierte der aus Weißrussland stammende Chemiker und langjährige zionistische Aktivist Chaim Weizmann (1874–1952) zur Galionsfigur des Zionismus in Großbritannien: Weizmann, der seine wissenschaftliche Karriere 1904 an der Universität Manchester aufgenommen und durch neue kriegswichtige chemische Verfahren die Aufmerksamkeit der politischen Eliten in Großbritannien erregt hatte, ging zielstrebiger und systematischer als die deutschen Zionisten vor. Schon 1907 hatte er sich auf dem Achten Zionistischen Kongress in Den Haag für eine Verbindung von politischem und praktischem Zionismus stark gemacht. Sein „synthetischer Zionismus“ stieß auf breite Zustimmung in der Bewegung, denn er verband politisch-diplomatische Aktivitäten mit praktischer Kolonisationsarbeit in Palästina. Als günstig sollte sich auch Weizmanns Fähigkeit erweisen, zionistische Ansprüche mit den außenpolitisch-imperialen Interessen Großbritanniens kompatibel zu gestalten. Seine Ziele hatte Weizmann schon 1915 Charles Prestwich Scott (1846–1932), dem Herausgeber des „Manchester Guardian“, schmackhaft zu machen versucht: „Die Juden übernehmen das Land, die ganze Last der Verwaltung fällt ihnen zu, doch für die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre arbeiten sie unter einem zeitweiligen britischen Protektorat.“ ((Weizmann, Memoiren 1953, S. 263f.)) Weizmann setzte sich an die Spitze eines Netzwerkes, dem u.a. der Bankier, Zoologe und liberale Politiker Lord Walter Rothschild (1868–1937) angehörte, der zeitweise auch Präsident der englischen Zionistischen Föderation war. Vor diesem Hintergrund wurde der Zionismus spätestens in der zweiten Hälfte des Weltkriegs in Kreisen der britischen Aristokratie nicht nur gesellschaftsfähig, sondern ein beliebtes Gesprächsthema.

In mehrmonatigen, inoffiziellen Verhandlungen mit britischen Regierungsvertretern – an ihrer Spitze der Generalsekretär des Kriegskabinetts Mark Sykes (1879–1919) – setzte sich Weizmann für die britische Anerkennung der zionistischen Bestrebungen ein. Seine Formel für eine britische Sympathieerklärung enthielt die Formulierung „Reestablishment of Palestine as the national home for the Jewish people“. Im Gegenzug sollten die Briten mit dem Protektorat über Palästina betraut werden und damit nicht nur das Erbe der Türken antreten, sondern auch den im Sykes-Picot-Abkommen sanktionierten französischen Einfluss zurückdrängen. Schwierigkeiten machten Weizmann die Vertreter des assimilierten britischen Judentums. Zwar hatten diese keine grundsätzlichen Einwände gegen das zionistische Projekt, doch wandten sie sich gegen jede Formulierung, aus der die Anerkennung einer jüdischen „Nation“ hätte geschlussfolgert werden können. So drängten die britischen Regierungsvertreter darauf, das geschichtsmetaphysische „Reestablishment of Palestine as the national home“ auf ein bescheiden-pragmatisches „Establishment of Palestine as a national home“ zu reduzieren. Als Ergebnis der Verhandlungen schrieb Außenminister Arthur James Balfour (1848–1930) am 2. November 1917 den legendären Brief an Walter Rothschild, der als „Balfour-Deklaration“ in die Geschichte einging:

 „Mein lieber Lord Rothschild!
Zu meiner großen Genugtuung übermittle ich Ihnen namens S. M. Regierung die folgende Sympathieerklärung mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen, die vom Kabinett geprüft und gebilligt worden ist:
Seiner Majestät Regierung betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei klar verstanden wird, dass nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte. Ich bitte Sie, diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Föderation zu bringen.“ ((Tophoven, Konflikt 1999, S. 24.))

Auch wenn diese Deklaration zunächst kaum mehr als eine unverbindliche Absichtserklärung war, so bildete sie doch die erste völkerrechtlich relevante Grundlage des zionistischen Projekts in Palästina. Entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis stellte das Dokument jedoch keine Staatlichkeit, sondern nur die Bildung einer nationalen „Heimstätte“ in Aussicht – unter Berücksichtigung der Rechte der nichtjüdischen Gemeinschaften. Gleichwohl leiteten zionistische Interpreten daraus weitergehende Visionen ab:

„Ich erklärte, dass wir unter einer jüdischen nationalen Heimstätte die Schaffung solcher Bedingungen in Palästina verstünden, die es uns ermöglichten, 50.000 bis 60.000 Juden jährlich ins Land zu bringen und sie dort anzusiedeln, unsere Institutionen, unsere Schulen und die hebräische Sprache zu entwickeln und schließlich solche Bedingungen zu schaffen, dass Palästina genau so jüdisch sei, wie Amerika amerikanisch und England englisch sei.“ ((So Weizmann bei einer Anhörung auf der Pariser Friedenskonferenz am 23.02.1919. Zitiert nach Ullmann, Israels Weg 1964, S. 265.))

 
Konsolidierung und Aufschwung: das zionistisch-sozialistische Projekt unter britischem Mandat

Bereits am 9. Dezember 1917 marschierten britische Truppen unter General Edmund Henry Hyndman Allenby (1861–1936) in Jerusalem ein. Im September 1918 gelang es ihnen, die letzten osmanischen Bastionen in Palästina einzunehmen. Mit dem britischen Einmarsch in Palästina und weiteren arabischen Regionen war – in Zusammenarbeit mit französischen Verbänden – die vierhundertjährige Herrschaft der Türken im Nahen Osten beendet.

Im Januar 1919 keimten am Rande der Pariser Friedenskonferenz Hoffnungen auf eine jüdisch-arabische Verständigung auf: In einem Freundschaftsvertrag mit Chaim Weizmann akzeptierte Emir Feisal (ca. 1885–1933), ein Sohn des Großscherifen Hussein von Mekka, die jüdische Einwanderung nach Palästina unter Federführung einer zionistischen „Körperschaft“. Ausdrücklich bezogen sich Feisal und Weizmann in ihrem Abkommen auf die Balfour-Deklaration. In einem handschriftlichen Vermerk stellte Feisal sein Zugeständnis allerdings unter den Vorbehalt einer Realisierung arabischer Unabhängigkeit auf der Arabischen Halbinsel und in Syrien. ((Zum Wortlaut des Abkommens vgl. Tophoven, Konflikt 1999, S. 24.))

Da jedoch die Franzosen auf der Einhaltung des Sykes-Picot-Abkommen von 1916 bestanden, zogen sich die Briten im Dezember 1919 aus dem Libanon zurück; sie wurden unmittelbar danach durch französische Truppen ersetzt. Nun machte sich unter den Arabern eine explosive Stimmung breit: Im März 1920 rief der „Syrische Nationalkongress“ Emir Feisal zum König aus – unter der Voraussetzung, dass er sich von der Übereinkunft mit Weizmann distanzierte. Feisal lenkte ein und fortan wurden auch die Araber Palästinas von einer nationalen Begeisterungswelle erfasst: Palästina sollte nicht nur nicht jüdisch werden, sondern – ebenso wie der Libanon – als südliche Provinz in das arabische Syrien integriert werden. Fanatisierte Muslime drangen am 4. April 1920 mit Rufen wie „Tod den Juden!“ und „Lang lebe Feisal!“ in das jüdische Viertel Jerusalems ein. Unter den Augen britischer Soldaten, die dem Pogrom nicht Einhalt geboten, wurden sieben Juden ermordet und 200 zum Teil schwer verletzt.

Gleichwohl bereiteten die Siegermächte des Weltkriegs im April 1920 auf der Konferenz von San Remo eine politische Neuordnung des Nahen Ostens vor, die die arabischen Erwartungen enttäuschen sollte: Syrien und der Libanon wurden französisches „Mandat“. Bereits am 20. Juli 1920 vertrieben französische Truppen König Feisal aus Damaskus; Großbritannien erhielt die Kontrolle über Palästina – dieses Gebiet umfasste damals auch das heutige Jordanien und die Golanhöhen – und den Irak zugesprochen. Die Alliierten nahmen die Balfour-Deklaration nicht nur in den Friedensvertrag mit der Türkei auf, sondern auch in das Völkerbundsmandat für den Irak und Palästina, das der Oberste Rat der Allierten den Briten am 25. April 1920 übertrug. Am 24. Juli 1922 betraute der Rat des Völkerbundes die Briten offiziell mit dem Mandat für Palästina – es sollte solange gelten, bis das Land seine vage in Aussicht gestellte Unabhängigkeit erlangen würde.

Großbritannien schickte 1920 erstmals einen „Hochkommissar“ nach Palästina, den jüdisch-stämmigen liberalen Politiker und Diplomaten Herbert Louis Samuel (1870–1963). Samuel traf am 1. Juli in Jaffa ein. Er war nach 2.000 Jahren der erste Jude, der Palästina, das historische „Land Israel“, regieren sollte. Von Anfang an bemühte er sich um einen Interessenausgleich von Juden und Arabern. Zwar brachen noch am 21. Mai 1921 in Jaffa blutige Unruhen zwischen beiden Volksgruppen aus, bei denen 47 Juden ermordet wurden; blutige Zusammenstöße gab es auch in Haifa, Hadera, Petach Tikva, Rechovot und Jerusalem – eine arabische Reaktion auf provokante Mai-Demonstrationen jener sozialistischen Zionisten, die von den feudalistisch geprägten Arabern aufgrund ihrer kommunistisch-atheistischen Ideen als soziale und politische Unruhestifter wahrgenommen wurden. Dennoch gelang es Samuel, die aufgeregten Gemüter in den Parallelgesellschaften Palästinas in der ersten Hälfte der 1920er Jahre einigermaßen zu beruhigen; zeitweilig verhängte der Hochkommissar Einwanderungsbeschränkungen für Juden; zudem ernannte er den radikal-islamischen Religionsführer Mohammed Amin al-Husseini (1893–1974) zum Großmufti von Jerusalem.

Als 1921 Kolonialminister Winston Spencer Churchill (1874–1965) Palästina besuchte, war es seine erklärte Absicht, britische Interessen abzusichern: Einerseits machte Churchill keinen Hehl aus seinen Sympathien mit dem Zionismus; andererseits sah er angesichts der enttäuschten arabischen Hoffnungen die Notwendigkeit, den Arabern entgegenzukommen. Überraschend schlug er die Teilung des Landes vor: 1922/1923 wurden alle Gebiete östlich des Jordans – vier Fünftel Palästinas – ausgegliedert und in ein halbautonomes Staatsgebiet unter der Herrschaft Emir Abdallahs I. (1882–1951), des ältesten Sohnes Husseins, umgewandelt. Formell blieb „Transjordanien“ zwar gemäß den Mandatsbestimmungen des Völkerbundes Teil Palästinas; ((Vgl. Art. 25 des Völkerbundmandates für Palästina (http://avalon.law.yale.edu/20th_century/palmanda.asp); vgl. auch Marcus, Palästina 1929, S. 262–269.).)) doch politisch war es nun eine quasi selbstständige Entität. ((1946, zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels, erhielt das östliche Palästina – Transjordanien – seine volle Unabhängigkeit; Abdallah I. nahm den Königstitel an.)) Eine weitere Veränderung leiteten die Briten 1923 ein, als sie die Golanhöhen den französischen Behörden in Syrien unterstellten. Zudem begrenzten die Briten die Einwanderung: In einer Grundsatzerklärung (Churchill-Weißbuch) vom Juni 1922 legten sie fest, die jüdische Einwanderung fortan der wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit des Landes anpassen und ein letztlich binationales „arabisch-jüdisches Palästina“ errichten zu wollen. ((Vgl. Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land? 1992, S. 254.)) Gleichwohl beteuerten die Briten, an ihrer Politik des jüdisch-arabischen Ausgleichs festhalten zu wollen.

Die Zionisten zeigten sich enttäuscht über diese Entwicklungen, sahen sie doch ihre historischen Ansprüche ebenso wie ihre territorialen und demografischen Hoffnungen schwinden. Nicht zuletzt sorgten sie sich um die langfristigen Entwicklungschancen der jüdischen „Heimstätte“ einschließlich einer gesicherten Wasserversorgung. Dennoch ließen sich die tonangebenden Pioniere durch die äußeren Begrenzungen nicht entmutigen, sondern konzentrierten ihre Anstrengungen auf die Konsolidierung und Institutionalisierung ihres Projekts: Schon 1920 hatten sie den jüdischen Gewerkschaftsbund (Histadrut) gegründet. 1921 riefen sie angesichts der arabischen Unruhen die „Hagana“ ins Leben, eine militärische Untergrundorganisation, die das Gewaltmonopol der Briten in Frage stellte. Mit britischem Einverständnis gründeten 1924/1925 bildungsbeflissene Repräsentanten des „Jischuws“, der jüdischen Gemeinschaft in Palästina, die Hebräische Universität von Jerusalem und in Haifa die Technische Universität „Technion“.

Zwischen 1919 und 1923 waren in der 3. Alija ca. 37.000 osteuropäische Juden ins Land geströmt. Viele von ihnen hatten sich schon in ihren Herkunftsländern in sozialistisch-zionistischen Jugendorganisationen betätigt: „Der Einwanderer von 1919 war ein Kind des revolutionären Zeitalters und daher wahrscheinlich ungeduldiger, außerdem hatte die Balfour-Deklaration die Verwirklichung des Traumes viel näher gerückt. Er war im Denken radikaler und neigte weniger zu Kompromissen.“ ((So Laqueur, Staat Israel 1975, S. 312.)) Es sollte sich allerdings um die letzte Einwanderergeneration handeln, die Palästina in eine homogene sozialistische Mustergesellschaft verwandeln wollte. Viele der Pioniere hatten bereits in Europa im Rahmen jüdischer Lohnarbeitergenossenschaften eine landwirtschaftliche Ausbildung erworben. Die Angehörigen dieser sogenannten „Hachscharah“-Bewegung waren von sozialistischen Vorstellungen ebenso inspiriert wie von den Ideen der Jugendbewegung. Beseelt von den Prinzipien radikaler Gütergemeinschaft und sozialer Gleichheit zeigten sich die Revolutionäre entschlossen, ihre Kompetenzen für das jüdisch-sozialistische Projekt in Palästina einzusetzen. Unter den Neueinwanderern befanden sich auch die ersten Mitglieder des „Haschomer Hazair“ („Der junge Wächter“), einer in Galizien entstandenen Jugendbewegung, die frei von familiären oder anderen sozialen Bindungen eine revolutionäre Existenz führen wollten. Ihre geistigen Mentoren waren Karl Marx (1818–1883) und Sigmund Freud (1856–1939), aber auch Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) und Martin Buber (1878–1965). 1930 zählte der Haschomer Hazair weltweit 34.000 Mitglieder und forcierte als tonangebende jüdische Jugendbewegung die Kibbuz-Idee in ihren radikalsten wirtschaftlichen und sozialen Ausprägungen.

Mit der 4. Alija strömten Zehntausende polnischer Juden ins Land, die weniger von zionistischen als von utilitaristischen Motiven bestimmt waren, hatten doch die USA – zu jener Zeit für jüdische Migranten noch immer das bevorzugte Reiseziel – 1924 eine Einwanderungssperre verhängt. Viele von ihnen, die den antisemitischen Schikanen in Polen entfliehen wollten, waren keine idealistischen Pioniere, sondern Angehörige der Mittelschicht; sie trugen entscheidend zum industriellen, kommerziellen und kulturellen Aufschwung des Jischuws bei. Allein Tel Aviv schwoll zwischen 1921 und 1925 von 3.600 auf 40.000 Bewohner an. Zugleich konnten bürgerliche Rechtsparteien an Einfluß gewinnen. Die Revisionisten unter Wladimir Zeev Jabotinsky  und vor allem ihre Jugendorganisation „Beitar“, die die britische Entscheidung der Abtrennung des Ostjordanlandes „revidieren“ wollten, setzten auf einen harten Kurs gegenüber den Arabern. Nie wieder, so ihr Credo, sollten Juden ihren Peinigern wehrlos ausgesetzt sein.

Oberflächlich hatte es den Anschein, als bliebe die Lage zwischen Juden und Arabern ruhig. Selbst als in der Wirtschaftskrise von 1926/1928 vorübergehend (1927) die Auswanderung die Einwanderung überstieg, sollte sich daran nichts ändern. Doch im Herbst 1928 rückte der Großmufti immer mehr ins Blickfeld der arabisch-jüdischen Rivalität. Die sich abzeichnende wirtschaftliche Erholung des Jischuws ließ unter den Arabern die Befürchtung wachsen, das zionistische Projekt könne auf Dauer angelegt sein: Nun initiierte der Mufti an der Westmauer des Herodianischen Tempelareals, der sogenannten Klagemauer, gewaltsame Übergriffe: Betende Juden wurden belästigt – verbal und mit Steinwürfen. Als im Sommer 1929 Beitar-Angehörige demonstrativ fahnenschwenkend zur Klagemauer zogen und die zionistische Hymne „Hatikwa“ („die Hoffnung“) anstimmten, eskalierte die Situation. Nur eine Woche später lieferten sich Muslime und Juden erbitterte Kämpfe, während die britischen Polizeibehörden vor der Gewalt der Straße zurückwichen. In Hebron, wo in der arabischen Gemeinschaft das Gerücht umherging, „die Juden“ hätten die islamischen Heiligtümer Jerusalems unter ihre Kontrolle gebracht, töteten Muslime 67 Männer, Frauen und Kinder. Die Überlebenden des Massakers, die zum Teil bei arabischen Nachbarn Zuflucht gefunden hatten, gaben das jahrhundertealte jüdische Viertel Hebrons auf, indem sie die Stadt fluchtartig verließen.

Die zionistische Seite war geschockt von der Welle der Gewalt: Die Revisionisten setzten auf gegenterroristische Mittel zur Eindämmung der Übergriffe und längerfristig auf die kompromisslose Gründung eines jüdischen Staates in Palästina. Auf dem äußeren linken Pol des zionistischen Spektrums dagegen gründeten idealistische Akademiker und Linkssozialisten einen „Friedensbund“, der die Entwicklung jüdischer und arabischer „Kantone“ befürwortete – im Rahmen eines binationalen Staates. Beide Positionen waren im Jischuw jener Jahre nicht mehrheitsfähig. Die Mehrheit der sozialistisch orientierten Strömungen plädierte, jenseits von hemmungsloser Gewalt oder illusionären Friedensträumen, für maßvolle Reaktionen und wollte die Spirale der Gewalt stoppen, ohne das zionistische Projekt insgesamt zu gefährden. So setzte sich die realpolitische Schule um David Ben Gurion durch: Im Bewusstsein, dass die jüdischen und arabischen Bestrebungen unvereinbar seien, könne man dennoch mit den Arabern verhandeln. Der Dialog solle ohne Illusionen, aber stets in der Hoffnung unternommen werden, Spielräume ausloten und den Konflikt begrenzen und entschärfen zu können.

Infolge des Aufstiegs und der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland kamen allein 1933 ca. 38.000 Neueinwanderer ins Land. Zwischen 1932 und 1939 gewann die Histadrut 73.000 neue Mitglieder, so dass die organisierte Arbeiterschaft für die sozioökonomische und politische Entwicklung des Jischuws immer bedeutender wurde. Mehr und mehr expandierte und konsolidierte sich die zionistische Infrastruktur Palästinas – einschließlich wirtschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher, pädagogischer und kultureller Institutionen, die ein Gemeinwesen gemeinhin auszeichnen. 

>> Teil 2

Dieser Grundlagenbeitrag wird Ende 2010 im Rahmen eines größeren Publikationsprojekts der Uni Mainz freigeschaltet werden, Martin Kloke: Die Entwicklung des Zionismus bis zur Staatsgründung Israels, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz, Dezember 2010. Fachherausgeber: Matthias Morgenstern. Redaktionell betreut von: Lisa Lande.

Dr. Martin Kloke, geboren 1959, Studium der Ev. Theologie, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 1989 Promotion am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften („Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses“, 1990/1994); 1989-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto Benecke Stiftung in Bonn; 1993/94 Studienreferendariat in Köln; seit 1995 Redakteur im Fachbereich Kulturwissenschaften der Bildungsmediengruppe Cornelsen in Berlin.

1 Kommentar

Kommentarfunktion ist geschlossen.