Mirjam Pressler zum 70. Geburtstag

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Mirjam Pressler wurde am 18. Juni 1940 in Darmstadt geboren. Sie wuchs in einer Pflegefamilie und im Kinderheim auf. In Frankfurt am Main und in München studierte sie Malerei und Sprachen. Danach arbeitete sie in einem Kibbuz in Israel. Nach der Rückkehr nach Deutschland heiratete sie und bekam drei Töchter. Seit 1980 arbeitet sie als freischaffende Autorin und Übersetzerin und lebt seit 1995 mit ihrem zweiten Mann in der Nähe von München…

Mirjam Pressler hat über 60 Bücher geschrieben und zahlreiche Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem Niederländischen, Flämischen, Hebräischen, Englischen und Afrikaans ins Deutsche übersetzt.

In ihrem literarischen Werk beschäftigt sich Mirjam Pressler mit Kindheit und Jugend. Sie wendet sich an den jungen Leser, deren Welt sie beschreibt – sie ortet die Lebensgefühle einer Generation. Ihr stark ausgeprägtes Einfühlungsvermögen ermöglicht ihr, Menschen nachvollziehbar und authentisch zu schildern.

(c) Karen Seggelke/Beltz & Gelberg

Bereits in ihrem Erstlingswerk Bitterschokolade (1980) ist der Grundton ihres Schreibstils vorhanden. Diese realistische Geschichte rund um ein Mädchen, das unter Bulimie leidet, wurde 1980 mit dem Oldenburger Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Pressler möchte die Probleme von Jugendlichen beschreiben, ohne zu verharmlosen. „Bei Kindern bin ich noch bereit, Konzessionen zu machen, also zu überlegen, was kann man einem Kind zumuten, was kann es aushalten und verstehen“, erklärt sie im Interview. „Bei Jugendlichen mache ich das nicht mehr. Was Jugendliche lesen wollen, können sie auch aushalten. […] Literatur bedeutet ja nicht ausschließlich Erheiterung.“

Mirjam Presslers eigene Vergangenheit ist sicher weit entfernt von einer „normalen“ Kindheit, in der alles stimmte. Warum also sollte sie ihren Lesern eine normale Welt präsentieren?

Es gibt sie nicht, diese heile Kinderwelt

„Als Autorin ›lebe‹ ich von meinen Erfahrungen, meiner Biographie. Was ich schreibe, muss stimmen, muss meiner Realität, meiner sozialen Wirklichkeit entsprechen. Meine biographischen Erfahrungen für diese Arbeit sind: 1940 wurde ich als uneheliches Kind in Deutschland geboren, wuchs bei Pflegeeltern im Oma- und Opa-Alter auf, die selbst zur sozialen Unterschicht gehörten. Ich bin geschieden und habe meine nun fast erwachsenen Töchter allein großgezogen. Die Liste der Berufe, die ich ausgeübt habe, ist lang. Meine ersten Bücher habe ich nachts geschrieben, neben Beruf, Familie, Haushalt. Geschlecht, Herkunft, soziales Umfeld, fast zwanzig Jahre als Mutter und Ernährerin, Judentum, das ist meine Realität. Meine eigene Kindheit und Jugend, Erlebnisse mit meinen Kindern, mit den Freunden und Freundinnen meiner Töchter, sind Erfahrungen, die zwangsläufig einfließen, wenn ich über Kinder und von Kindern schreibe. Die ›soziale Wirklichkeit‹ in meinen Büchern ist darum keine Zerstörung von ›heiler Kinderwelt‹, kein Versuch, irgendeine pädagogische Absicht zu erreichen. Ich schreibe über das, was ich kenne, die Realität von Kindern, so wie ich sie selbst bzw. vermittelt durch meine (und viele andere) Kinder erlebt habe.“

In all ihren Büchern schöpft Mirjam Pressler aus persönlichen Erfahrungen – dennoch kann man keinen Roman als ausschließlich biographisch bezeichnen. Am ehesten trifft dies jedoch auf Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (1994) zu. Halinka lebt in einem Heim, ohne Freuden und Freunde. Zum Glück kann sie sich in ihr Versteck zurückziehen und dort der Phantasie freien Lauf lassen.

Einen Höhepunkt ihrer Schaffenskraft stellt der Roman Malka Mai aus dem Jahr 2001 dar. Mirjam Pressler geht dafür in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurück und schildert die Flucht einer jüdischen Ärztin mit ihren beiden Töchtern von Polen nach Ungarn. Dieser Roman basiert auf der wahren Lebensgeschichte einer Frau, die heute in Israel lebt.

Die Lebensgeschichte der Anne Frank hat Mirjam Pressler, die selbst Jüdin ist, zeitlebens fasziniert. Ende der Achtziger übersetzte sie die Kritische Gesamtausgabe der Tagebücher. Sie erforschte die Biographie, suchte nach dem ganzen Leben des Mädchens, das mit 15 Jahren von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. Aus dieser Beschäftigung heraus erschien 1992 ihr erstes Sachbuch Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank.

Auch in den Kinderbüchern geht es ihr darum, für die Belange der Leser zu kämpfen und sie mit ihren Sorgen ernst zu nehmen. Wichtig ist ihr, dass keine moralischen Höchstforderungen an Kinder gestellt werden, die nicht erfüllt werden können. Kurz gesagt: „Alle Kinder klauen und lügen“ – ihnen eine übertriebenen Gewissenserziehung angedeihen zu lassen, führt dazu, dass sie Ängste entwickeln. Im Roman Nickel Vogelpfeifer, in dem der Junge Nickel ein Fahrrad klaut, wird mit diesem Thema deshalb auch anders umgegangen – die moralische Bestrafung bleibt aus, ohne dass man ihm eine Zukunft als Verbrecher
voraussagen müsste.

Wie sehr Pressler auch als Vermittlerin der Literatur arbeitet, wird an ihren zahlreichen Übersetzungen deutlich. „Es geht beim Übersetzen, nicht nur um die bloße Benennung oder das korrekte Wort, sondern vielmehr um die Stimmung, die Atmosphäre und den Sprachduktus des Buches.“

Auszüge aus: Werkstattbuch Mirjam Pressler, 2001, BELTZ & Gelberg, Fotos: © Karen Seggelke; privat; Andreas Ebmer.

Beltz & Gelberg widmet seiner Autorin anlässlich ihres Geburtstages einen Jubiläumsband, der zwei ihrer autobiografisch geprägten Romane enthält, „Novemberkatzen“ und „Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen,“ sowie Mirjam Presslers Rede über ihr Leben und Schreiben „Eine Orchidee blüht im Continen-Tal“ und zum (Wieder-)Lesen dieser großartigen Autorin verführen möchte. Bestellen?

Auszeichnungen (Auswahl)

1980 Oldenburger Jugendliteraturpreis für »Bitterschokolade«
1994 Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Übersetzungswerk
1995 Deutscher Jugendliteraturpreis für »Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen«
1995 Zürcher Kinderbuchpreis La vache qui lit für »Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen«
1998 Friedrich-Bödecker-Preis
2001 Carl-Zuckmayer-Medaille für ihre »Verdienste um die deutsche Sprache«
2001 Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. Volkach
2001 Jahresluchs (ZEIT/ Radio Bremen) für »Malka Mai«
2002 Deutscher Bücherpreis für »Malka Mai«
2004 Deutscher Bücherpreis für das Lebenswerk
2008 Jane Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen bedeutender Werke aus dem Hebräischen
2009 CORINE 2009 – Jugendbuchpreis der Waldemar Bonsels Stiftung für »Nathan und seine Kinder«
2010 Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Nathan und seine Kinder«
Werke von Mirjam Pressler bei Beltz & Gelberg

Bitterschokolade, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1980
Kratzer im Lack, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1981
Nun red doch endlich, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1981
Novemberkatzen, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1982
Zeit am Stiel, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1982
Katharina und so weiter, Beltz & Gelberg, 1984
Nickel Vogelpfeifer, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1986,
„Ich sehne mich so.“ Die Lebensgeschichte der Anne Frank, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1992
Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen, Beltz & Gelberg, 1994
Geschichten von Jessi, Beltz & Gelberg, Weinheim, 1999
Neues von Jessi, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2000
Malka Mai, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2001
Für Isabel war es Liebe, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2002
Zeit der schlafenden Hunde, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2003
Guten Morgen, gute Nacht, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2005
Wundertütentage, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2005
Golems stiller Bruder, Beltz & Gelberg, Weinheim 2007
Shylocks Tochter, Beltz & Gelberg, Weinheim, 2008
Nathan und seine Kinder, Beltz & Gelberg, Weinheim 2009
Mirjam Pressler erzählt Geschichten, Beltz Gulliver, Weinheim 2010
Wenn das Glück kommt…, Novemberkatzen. (Sammelband), Beltz & Gelberg, Weinheim 2010

3 Kommentare

  1. Sehr geehrte, liebe M. Pressler,

    ich habe zwar keines Ihrer Bücher, aber zahlreiche Ihrer Artikel in deutschen Zeitungen gelesen. Ich bin froh, dass es Sie gibt !

    Shalom, alles, alles Gute wünscht Ihnen

    Gunnar Bluhm, Berlin, d. 19.06.2010

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