Dirk Niebel oder Zurück auf Los

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Da kommt zusammen, was nicht zusammengehört. Dirk Niebel fliegt in den Nahen Osten, wickelt in Jerusalem und in Ramallah das übliche Besuchsprogramm ab – und wird sogar, ganz gegen
Gepflogenheiten im streng hierarchisch orientierten Protokoll, von Staatspräsident Shimon Peres empfangen – und beabsichtigt, als Minister für Entwicklungshilfe in Gaza-Stadt eine Kläranlage zu besichtigen, die mit Geldern aus seinem Ministerium finanziert wird. So weit, so gut, möchte man meinen, doch weit gefehlt…

Ein Kommentar von Reiner Bernstein

Nehmen die Bundeskanzlerin und ihr Außenminister, wenn auch erkennbar zurückhaltend, Niebel gegen eine aufgeregte Kritik im In- und Ausland in Schutz, so entwickelt sich in deutschen Medienspalten eine schwer nachvollziehbare Kontroverse, die auf den ersten Blick höchst unpassend zu sein scheint, wenn sie nicht ein Zentralproblem internationaler Wahrnehmungen zur Politik Israels gegenüber den Palästinensern betreffen würde, das freilich wieder einmal kaum reflektiert wird: Warum drücken sich die westlichen Hauptstädte allzu gern vor der Frage, weshalb ihre Bemühungen für den Frieden so erfolglos geblieben sind, dass seine Erwähnung bei Israelis und Palästinensern unter den Schimpfwörtern rangiert? Eine einzige Rakete aus dem Gazastreifen dürfte ausreichen, um Israel zum Widerruf der erleichterten Warenlieferungen zu veranlassen.

Hamas hin oder her, durch Wahlen demokratisch legitimiert oder von Grund auf eine Terrororganisation –: In den von Yasser Arafat unterschriebenen Osloer Vereinbarungen von 1993 und 1995 taucht das Wort „Staat Palästina“ nicht auf. Vielmehr wird das Ende des Verhandlungsprozesses auf 1999 datiert, mithin die politische Unebenbürtigkeit auf Jahre hinaus festgeschrieben – mit allen Optionen zugunsten einer Fortsetzung der Siedlungspolitik, die mit Terrorakten beantwortet wird –, und statt „Rückzug“ ist von einer „Umgruppierung“ („redeployment“) der israelischen Truppen in den palästinensischen Gebieten die Rede. Mit anderen Worten: Die palästinensische Führung von damals hat sich nicht um das internationale Völkerrecht gekümmert, weil sie davon überzeugt war, dass die von Oslo ausgehende politische Dynamik ihrem Volk den souveränen Staat in den Schoß legen werde.

In Erkenntnis des gescheiterten Automatismus laufen die westlichen Hauptstädte, in denen Oslo neben der Road Map des Nahost-Quartetts immer wieder als Leitplanke gewürdigt wird, seither einem Dogma der israelischen Politik hinterher, das argumentativ schwer aus den Angeln zu heben ist. Es speist sich – aus dem Mandat des Völkerbundes für Palästina zwischen Mittelmeer und Jordansenke, – aus der Annexion der Westbank und Ost-Jerusalems durch Jordanien, die auch in der arabischen Welt keine Anerkennung fand,

– aus dem militärischen Sieg im Junikrieg 1967,
– aus der Übergabe der Westbank 1988 durch König Hussein an die PLO, der die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt fehlte, und
– aus eben jenen Osloer Vereinbarungen, deren juristische Feinheiten und dehnbare Interpretationsspielräume Arafat verhasst waren.

Aus diesem Prämissen heraus haben die Regierungen in Jerusalem den Anspruch abgeleitet, dass alle palästinensischen Gebiete zur Verhandlungsdisposition stehen („disputed territories“) – bei dem obwaltenden Ungleichgewicht der Kräfte eine geradezu verheerende Ausgangslage für jedweden Verhandlungserfolg, ob unter Führung von Machmud Abbas und Salam Fayyad oder unter der Ägide einer Regierung im Gazastreifen. Denn tatsächlich sind sämtliche palästinensischen Gebiete belagert, ob durch Siedlungen, durch Sperrgebiete, durch Trennungsmauern sowie durch Boden-, Luftund Seestreitkräfte.

Deshalb sind die nicht bindenden Resolutionen der UNVollversammlung am israelischen Standpunkt prinzipieller Souveränität regelmäßig ebenso abgeprallt wie zuletzt die Absichten der Aktivisten der internationalen „Freiheitsflotte“, die die Blockade des Gazastreifens aufbrechen wollten. Vor dieser Herausforderung des israelischen Anspruchsdenkens hat Dirk Niebel gestanden wie vor ihm die Außenminister Frankreichs, Irlands und der Türkei.

Finanzielle Hilfen wie jüngst erneut die dreistelligen Millionenbeträge aus Washington und aus Europa für die Bevölkerung des Küstenstreifens, an denen natürlich auch Hamas durch Entlastung
von ihren Aufgaben Anteil hat, sind willkommen, Inspektoren von Nicht-Regierungorganisationen wird der Zugang eingeräumt, politische Avancen jedoch bleiben unterbunden.

Stichtag 25. September 2010

So starrt die internationale Staatengemeinschaft, so scheint’s, wie gebannt auf den 25. September 2010, an dem das von Benjamin Netanyahu zugestandene neunmonatige Siedlungsmoratorium ausläuft, welches allerdings von vornherein weder für Ost-Jerusalem noch für die vier Siedlungsblöcke im Norden, Osten und Süden der Westbank gilt. Auch Barack Obama droht an diesen aufgetürmten Hürden zu scheitern, nachdem alle US-Präsidenten mit Ausnahme von George H.W. Bush – wenn auch dieser letztlich inkonsequent – den israelischen Territorialansprüchen ihren Segen gegeben hatten.

Der harte Kurs aus Jerusalem hat Angela Merkel nicht davon abgehalten, nach dem Einreiseverbot für ihren Minister das deutschisraelische Verhältnis für intakt zu erklären, selbst nachdem der
Sprecher des israelischen Außenministeriums noch einmal bestätigt hatte, dass es im Hinblick auf Gaza „eine klare Politik“ gebe. Dieses Urteil ist nur dann verständlich, wenn auf die Erfahrung der Shoah zurückgegriffen wird, die indes mit der Politik Israels gegenüber den Palästinensern nichts zu tun hat. Erstaunlicherweise hat Oppositionsführer Frank-Walter Steinmeier dem Entwicklungshilfe-Minister „Hemdsärmlichkeit und vordergründige Inszenierungen“ vorgeworfen, während andere Mitglieder seiner Fraktion wie Gernot Erler, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Ruprecht Polenz und die frühere Staatsministerin im Auswärtigen Amt Kerstin Müller mit Kritik an der israelischen Entscheidung nicht sparen wollten. Zeitgleich – welch eine öffentlich vollzogene Volte, um Ängste in der eigenen Bevölkerung vor einer politischen Neujustierung zu schüren – sieht Netanyahu die Legitimität der Existenz Israels untergraben, obwohl ihn sein Verteidigungsminister Ehud Barak kurz zuvor noch aufgefordert hatte, glaubwürdige politische Schritte einzuleiten, um der israelischen Isolierung weltweit Einhalt zu gebieten.

Man mag Niebel die Absicht unterstellen, mit seinen Planungen die Grenze des israelischen Eingreifens auszutesten. Man mag ihm vielleicht sogar persönliche Profilhascherei vorhalten. Er habe doch wissen müssen, lautet das Argument, wie harsch die israelische Regierung auf sein Ansinnen reagieren werde. All diese Behauptungen mögen zutreffen. Doch ändern sie an dem zentralen Problem nichts: Die deutsche Nahostpolitik hat – um noch einmal Steinmeier zu zitieren – zwar „Vertrauen … in vielen Jahrzehnten bei allen Konfliktparteien erworben“, doch hinter einem solchen Glücksgefühl verbirgt sich das Versagen bei der politischen Nutzung dieser positiven Ergebnisse. Diese Einsicht fällt augenscheinlich schwer.

Die Aktuelle Stunde im Bundestag am 10. Juni und die bevorstehende Debatte um den Entschließungsantrag aus den Fraktionen von Union, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen mag die Gelegenheit bieten, über die politischen und diplomatischen Defizite und Versäumnisse der Vergangenheit nachzudenken. Dass sie dazu verhelfen können, die israelisch-palästinensische Zweistaatenregelung zu befördern, darf niemand erwarten. So steht über den Reden im Parlament allzeit das Schwert des Damokles: Zurück auf Los. Die über Jahrzehnte hochgehaltene Option der zwei Staaten für zwei Völker wird durch Obama nicht wahrscheinlicher, wenn er auf eine Umarmungstaktik setzt und im Zuge der Bürgschaft für die Existenz Israels im Angesicht einer iranischen Nuklearbedrohung Netanyahu zu entscheidenden territorialen Zugeständnissen auffordert.

Denn ein solcher Ansatz übersieht, dass eine israelische Abkehr von den palästinensischen Gebieten kein ernsthaftes Problem für die nationale Sicherheit aufwirft. Vielmehr geben ideologisch geprägte Eigentumsambitionen den ausschlaggebenden Faktor her. So wird in der Knesset gegenwärtig über einen Antrag beraten, wonach Kinder, Jugendliche und Studenten von als unliebsam geltenden Lerninhalten ferngehalten werden sollen, zu denen linke, liberale und universalistische Werte wie die der Demokratie und der Menschenrechte gerechnet werden. An ihre Stelle soll ein neu definierter Zionismus mit religiösen Determinanten treten, bei dem die „Liebe zur Heimat“ auf der pädagogischen Prioritätenliste ganz oben rangiert. In solchen Curricula ist für eine Zweistaatenregelung ebenso wenig Platz wie für die politische und gesellschaftliche Ebenbürtigkeit von Juden und Arabern in Israel selbst.

2 Kommentare

  1. Nun, Herr Bernstein, Juden und Araber sind ebenbürtig, weil alle Menschen dieser Welt gleich und ebenbürtig sind. Die Zwei – Staaten – Lösung aber ist eine Illusion. Die Palästinenser sind nicht imstande, eine eigenen souveränen Staat zu gründen; sie sind zerstritten, instabil. Es wäre für den Staat Israel ein unkalkulierbares Risiko, einen unabhängigen Palästinenserstaat auf der Westbank und im Gazastreifen ( unter der Herrschaft der Hamas ? ) zu dulden.
    Sehen Sie sich die Gebiete der arabischen Staaten an ! Eine riesige Fläche. Mehr Platz als genug für alle Palästinenser. Der Streit um das kleine, überwiegend von Juden bewohnte Israel, er ist lächerlich, er ist unglaubwürdig. Dieser Streit ist nicht real, er ist nicht aufrichtig, er ist fundamentalistisch !

  2. Vielleicht ist Niebels Vorhaben gar nicht so verkehrt, also ich denke seine Kritik ist wirklich konstruktiv und ganz und gar nicht antisemitisch.

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