Vortrag in Dýyarbakir: Die noble und tragische Geschichte der Kurden in der Türkei

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Ich würde gerne mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Es ist eine sehr bewegende Erfahrung für mich hier zu sein. Ich habe die noble und tragische Geschichte der Kurden in der Türkei in den letzten Jahren mit allem was ich finden konnte so gut wie möglich verfolgt, besonders in den letzten zehn Jahren. Aber es ist etwas ganz anderes die eigentlichen Gesichter der Menschen zu sehen, welche Widerstand leisten, und um Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen…

von Noam Chomsky, Dyyarbakir 2002

Ich bin oft gebeten worden meine Meinung über die Rechte von Menschen ihre Muttersprache zu sprechen zu äußern. Als Linguist habe ich keine Meinung dazu. Als menschliches Wesen gibt es nichts zu diskutieren. Es ist zu offensichtlich. Das Recht die eigene Muttersprache in jeder Hinsicht frei nach belieben zu verwenden – in der Literatur, auf öffentlichen Versammlungen, in jeder anderen Form – ist ein grundlegendes und essentielles Menschenrecht. Es gibt nichts weiter dazu zu sagen.

Die Kampagne der letzten Wochen, geführt von Studenten, Müttern und Vätern, das Recht Wahlfächer in der eigenen Sprache abhalten zu können zu verlangen, bestätigt wiederum einfach ein elementares Menschenrecht, welches nicht unter Diskussion stehen sollte. Man kann die Courage der Menschen welche die Kampagne unterstützen nur bewundern, wenn man die Repression und Feinseligkeit betrachtet.

Jenseits der kulturellen Rechte, welche außerhalb der Diskutierbarkeit liegen – offensichtliche Rechte -, liegt die Welt der schwierigen, verwickelten Fragen der politischen Rechte. Diese Themen kommen überall auf der Welt vor.

Eine der gesunden Entwicklungen welche zur Zeit in Europa stattfinden ist die Erosion des Nationalstaatensystems mit vermehrter Regionalisierung. In den Gebieten Katalonien und Schottland gibt es ein Wiederaufleben ihrer traditionellen Sprache, Kultur und Bräuche, und ein Maß politischer Autonomie, welche zu etwas führt, was eine Verbindung von regionalen Gebieten werden könnte – und wie ich meine, werden sollte -, die grundsätzlich autonom, innerhalb eines föderalen Zusammenschlusses, sind. Tatsächlich so etwas wie das alte Osmanische Reich. Mit dem Osmanischen Reich war vieles nicht in Ordnung, aber manche Dinge an ihm waren im Prinzip korrekt: hauptsächlich die Tatsache, dass es ein hohes Maß an regionaler Autonomität und Unabhängigkeit innerhalb einer Struktur gestattete, welche unglücklicherweise autokratisch, korrupt und brutal war, aber wir können diesen Teil ausschließen, und die positiven Aspekte des Osmanischen Reiches sollten wahrscheinlich in irgendeiner Art wiederhergestellt werden.

Und innerhalb dieser Struktur, von der ich hoffe, dass sie sich entwickelt, kann man, so denke ich, auf ein autonomes Kurdistan hoffen, welches die Kurden aus dieser Region, die vielen Millionen Kurden aus dieser Region, in eine selbstverwaltete, autonome, kulturell unabhängige und politisch aktive Region zusammenbringen kann, und zwar als Teil einer größeren Föderation von – wie man hofft – freundschaftlichen und kooperativen nationalen, ethnischen und kulturellen Gruppen.

Die nächste Frage die aufkommt hat mit den verwendeten Methoden der Arbeit zu tun um solche Ziele zu erreichen. Hier ist die Hauptfrage ob diese Methoden gewaltvoll oder gewaltfrei sein sollten. Dabei haben wir zwei Arten von Fragen zu unterscheiden: Moralische Fragen und taktische Fragen. Bezüglich der moralischen Fragen ist meine persönliche Ansicht, dass eine sehr hohe Beweislast von jedem zu tragen ist, der Gewalt befürwortet oder ausübt. Meiner Ansicht nach, kann dieser Beweis fast nie geliefert werden. Gewaltfreier Widerstand ist sowohl moralisch, als auch taktisch angemessener. Es gibt jedoch ein fundamentales Prinzip der Gewaltlosigkeit: „Du predigst nicht Gewaltlosigkeit, wenn du nicht auch gewillt bist neben den Menschen zu stehen, welche die Unterdrückung erleiden“, sonst kannst du diesen Ratschlag nicht geben. Ich bin nicht in der Lage neben den Menschen, welche die Unterdrückung erleiden, zu stehen, also kann ich nur meine Meinung abgeben, aber keinen Rat.

Es ist ein auffälliges Merkmal in der Geschichte, dass Unterdrückung zu Widerstand führt, und Widerstand oft zum gewalttätigen Widerstand wird. Wenn das geschieht, wird jener Widerstand stets Terrorismus genannt. Das gilt in allen Fällen, sogar bei den brutalsten Massenmördern der Welt. Zum Beispiel beschrieben die Nazis ihre Aktivitäten in Europa als die Verteidigung der Bevölkerung gegen den Terrorismus der Partisanen, welche von außerhalb geleitetet würden. Das selbe gab es mit den Japanern in der Mandschurei. Sie verteidigten die Bevölkerung vom Terrorismus der Chinesischen Banditen. Propaganda, egal wie einfältig, enthält immer ein Stückchen Wahrheit, wenn es überhaupt glaubwürdig sein soll. Und sogar im Fall der brutalsten Massenmörder, wie den Nazis oder den japanischen Eindringlingen, gab es ein Element der Wahrheit in ihren Behauptungen. So waren ihre Argumente in einer bestimmten entarteten Weise legitim, und das selbe kann über andere gesagt werden: Die Vereinigten Staaten, die Türkei und andere Länder, die behaupten ihre Bevölkerung gegen Terrorismus zu verteidigen.

Bezüglich dem Begriff des Terrorismus gibt es zwei Ausdrücke: Der eine ist „Terror“, und der andere ist „Gegenterror“. Wenn man z.B. in den Handbüchern der US Armee nachsieht findet man, dass sie „Terror“ und „Gegenterror“ definieren. Und das Interessante dabei ist, dass diese Definitionen im Prinzip identisch sind. Terror ist offensichtlich genau das gleiche wie Gegenterror. Der Hauptunterschied liegt im Urheber der terroristischen Gewalt. Wenn es jemand ist den wir nicht mögen ist es Terror. Ist es jemand den wir mögen, ist es Gegenterror. Aber abgesehen von dieser Definition sind die Handlungen ziemlich das selbe.

Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen Terror und Gegenterror ist, dass das was „Gegenterror“ genannt wird üblicherweise von Staaten ausgeführt wird. Es ist der Terrorismus den Staaten ausführen. Und Staaten haben Ressourcen die es ihnen ermöglichen weitaus gewalttätiger und zerstörerisch zu sein als private Terroristen. Also ist das Endergebnis, dass der staatliche Terrorismus denjenigen jeder anderen Person oder Gruppe auf der Welt bei weitem überholt. Wir lesen ständig, dass Terrorismus die Waffe der Schwachen ist. Das ist absolut falsch, genau das Gegenteil der Wahrheit. Wie jede andere Waffe wird Terror von den Starken viel effektiver genutzt, und besonders oft von den mächtigen Staaten, welche überall auf der Welt die Führer im Terrorismus sind, abgesehen davon, dass sie es „Gegenterror“ nennen.

Derzeit hören wir jeden Tag, dass es einen „Krieg gegen den Terror“ gibt, der von den allermächtigsten Staaten ausgerufen wurde. Tatsächlich ist er sogar erneut ausgerufen worden. Er wurde im Jahr 1981 deklariert, vor zwanzig Jahren. Als die Reagon-Verwaltung ins Amt kam, bestimmte sie, dass der Kern der US Außenpolitik staatlich gesponserter internationaler Terrorismus sein würde, die Plage der Neuzeit; Sie verkündeten, dass sie das Böse aus der Welt vertreiben würden. Der Krieg ist wiederum ausgerufen worden, mit der selben Rhetorik, und fast von den selben Leuten. Unter den Führern des ersten „Krieges gegen den Terror“ vor zwanzig Jahren sind diejenigen, welche den derzeitigen „Krieg gegen den Terror“ führen, mit der selben Rhetorik und sehr wahrscheinlich auch mit den selben Konsequenzen.

Der Fokus des ersten Krieges gegen den Terror war Zentralamerika und der Nahe Osten. Beide Regionen waren in den 80er Jahren die Schauplätze von massivem Terrorismus, der größte Teil von diesem, bei weitem der größte, ist von den Vereinigten Staaten und ihren Klienten und Verbündeten ausgegangen, in einem Ausmaß, das nur wenige nahe zurückliegende Vorgänger in diesen Regionen hat. Es ist jetzt nicht genug Zeit um auf die Details einzugehen, aber im Nahen Osten war z.B. der brutalste Terrorakt die Israelische Invasion des Libanon – unterstützt, bewaffnet und verteidigt von den Vereinigten Staaten – in welcher ungefähr 20000 Menschen für politische Zwecke ermordet wurden. Es gab dafür keinen Vorwand. Es wurde in Israel ganz offen erkannt, dass dieser Krieg ein Teil der US-Israelischen Politik zur Sicherung der effektiven Kontrolle über die besetzten Gebiete Israels war. Und das ist nur ein Beispiel vom Terrorismus in dieser Region, der entweder von den USA ausgeführt oder entscheidend unterstützt wurde – andere Fälle bei weitem übertreffend.

In Zentralamerika versuchte die Reagan-Verwaltung zuerst das Modell, das John F. Kennedy in Südvietnam anwandte, durchzuführen, was gemeint hätte Zentralamerika direkt anzugreifen – unter der Benutzung von chemischer Kriegsführung, Napalm, Bombardierung mit B52 Bombern und einer Invasion mit Amerikanischen Truppen. Sie mussten sich jedoch von dieser Absicht zurückziehen da die Bevölkerung der USA in den dazwischen liegenden zwanzig Jahren in bedeutender Weise zivilisierter geworden war – durch Aktivismus, Protest und Organisation. Deswegen musste die Reagon-Verwaltung von einem direkten Angriff wie in Südvietnam ablassen und sich anstelle dessen zum internationalen Terrorismus wenden. Sie schufen das außergewöhnlichste internationale Terroristennetzwerk, das die Welt jemals gesehen hatte. Wenn ein Land wie Lybien einen Terrorakt durchführen will, engagiert es ein Individuum wie Carlos den Jackal. Wenn ein großer mächtiger Staat wie die USA internationalen Terrorismus durchführen will, engagiert es terroristische Staaten: Taiwan, Israel, Argentinien unter den Neo-Nazi Generälen, Großbritannien, Saudi-Arabien. Andere terroristische Staaten führen zusammen mit ortsansässigen Helfern den größten Teil der Arbeit aus. Die USA stellt Finanzierung, Training und die allgemeine Planung zur Verfügung. Die Ergebnisse waren furchtbar: hunderttausende Menschen getötet, jede vorstellbare Art von Folter, alles was Sie schon von der südöstlichen Türkei in den letzten zwanzig Jahren wissen. Und schließlich war er erfolgreich in der Niederschlagung des Widerstandes der Bevölkerung. Es war sogar eine Art des „Kampf der Kulturen“ vorhanden, um eine zurzeit modische Phrase zu benutzen: die USA kämpften gegen die Katholische Kirche. Die Kirche hatte nämlich einen schweren Fehler begangen: Es hatte die „von den Armen bevorzugte Option“ gewählt, eine Verpflichtung zum Wohl der Armen, der großen Mehrheit, zu arbeiten. Das war inakzeptabel. Der Krieg ist zu einem großen Teil gegen die Kirche gerichtet gewesen. Die schreckliche Dekade fing mit dem Mord eines Erzbischofs an. Die Dekade endete mit dem Mord von sechs führenden Jesuitischen Intellektuellen. Dazwischen wurden viele Priester, Nonnen und Laienarbeiter getötet, und natürlich zehntausende Bauern, Arbeiter, Frauen und Kinder – die üblichen Opfer.

Der Terror war so extrem, dass es zu einer Verurteilung der USA für internationalen Terrorismus durch den Weltgerichtshof kam und zu einer Anordnung mit dem Verbrechen aufzuhören und Reparationen zu zahlen. Es gab eine unterstützende Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die alle Staaten zur Einhaltung des internationalen Rechts aufrief, gerichtet an die USA – wie jeder verstand. Die Entscheidung des Weltgerichtshofs wurde mit Verachtung beiseite geschoben und der Krieg wurde augenblicklich eskaliert. Die Resolution des Sicherheitsrates, die alle Staaten zur Einhaltung des internationalen Rechts aufrief, wurde per Veto abgelehnt.

Dies alles ist von der Geschichte verschwunden. Es ist Geschichte, aber es ist nicht die Geschichte von der wir erfahren. Seit derselbe Krieg am 11. September erneut ausgerufen wurde – viele Leute sind dieselben und mit der gleichen Rhetorik – sind endlose Stöße Papier produziert worden, die dem neuen „Krieg gegen den Terror“ gewidmet sind, aber man hat es sehr schwer irgendeine Information darüber zu finden, was im ersten „Krieg gegen den Terror“ passiert ist, den die selben Leute durchgeführt haben. Das ist verschwunden, und es ist aus sehr einfachen Gründen verschwunden: Terror ist beschränkt auf das, was die anderen uns antun. Was wir ihnen antun, auch wenn es tausendmal schrecklicher ist, zählt nicht und verschwindet. Das ist das Gesetz der Geschichte, so lange die Geschichte von den Mächtigen geschrieben wird, und von den gelehrten Klassen weitergegeben wird, welche es vorziehen die Diener der Macht zu sein.

Ich werde nun auf den Nahen Osten eingehen. Die Briten haben den Nahen Osten natürlich für eine lange Zeit verwaltet. Sie waren die führende Macht und hatten einen Rahmen innerhalb dessen sie die Region kontrollieren konnten. Zuerst wurde sie direkt durch Streitkräfte kontrolliert. Aber nach dem Ersten Weltkrieg war Großbritannien geschwächt, und es war nicht länger in der Lage das Gebiet durch direkte Gewaltausübung zu beherrschen. Also wandten sie sich an andere Techniken. Die militärische Technik, die sie wählten, war die Benutzung von Luftstreitkräften zur Attacke von Zivilisten. Die Luftmacht war gerade erst verfügbar, also begann Großbritannien mit der Bombardierung von Zivilisten von Fliegern aus. Es wandte auch Giftgas an, hauptsächlich unter dem Einfluss von Winston Churchill, der ein wirklich brutales Monster war. Churchill ordnete als Kolonialsekretär die Benutzung von Giftgas gegen das an, was er „unzivilisierte Stämme“ nannte: Das sind Kurden und Afghanen. Er ordnete die Benutzung von Giftgas gegen diese „unzivilisierten Stämme“ deswegen an, weil – wie er sagte – , es einen „lebhaften Terror“ hervorrufen und Britische Leben retten wird. Das war die militärische Seite. Es ist Wert sich daran zu erinnern, dass Giftgas nach dem Ersten Weltkrieg als die schlimmste Grausamkeit galt.

Die Details davon werden wir nicht erfahren. Der Grund dafür ist, dass die Britische Regierung vor zehn Jahren eine „offene Regierungs-Politik“ verkündete, um die Regierung für die Bevölkerung transparenter zu gestalten; Bürger konnten mehr über sie erfahren. Die erste Handlung der offenen Regierungs-Politik war es diejenigen Dokumente vom Büro für Öffentliche Dokumente zu entfernen, welche mit der Benutzung von Giftgas gegen unzivilisierte Stämme zu tun hatten. So ist dieser Teil von der Geschichte entfernt.

Es gab auch eine politische Seite bezüglich der Kontrolle dieser Region. Das Britische Konzept war die Erschaffung dessen, was sie „Arabische Fassade“ nannten: Das heißt schwache Staaten, die von der Britischen Unterstützung abhängig sein würden und als ein „konstitutioneller Anschein“ dienen würden, hinter welchem die Briten die eigentliche Macht ausüben könnten.

Als die USA Großbritannien verdrängte übernahm sie im Prinzip das Britische Modell. Die Region soll durch eine Arabische Fassade von schwachen, korrupten Staaten geführt werden, welche für ihr Überleben auf äußere Unterstützung angewiesen ist; sie sollen die Region verwalten. Im Hintergrund steht die USA mit ihrem militärischen Muskel falls dies notwendig sein sollte. Und die USA hat eine Art Kampfhund, welcher „England“ genannt wird und welcher manchmal als ebenso unabhängiger Staat erscheint wie die Ukraine unter der Sowjetischen Herrschaft. Seine Hauptfunktion ist es die Dienste zu erledigen, die es in seiner jahrhunderte langen Erfahrung gelernt hat – diejenigen Dienste welche vom führenden Britischen Staatsmann Lloyd George beschrieben wurden, als er im vertraulichen schrieb, dass „Wir uns das Recht vorbehalten müssen, Nigger zu bombardieren“. Das ist wichtig, und das ist die Britische Rolle wenn der Meister etwas Beihilfe braucht, oder den Vorwand, dass er für die „Internationale Gemeinschaft“ handelt – ein Ausdruck welcher die USA und jedes Land das mit ihr mitzieht meint.

Die USA fügten eine neue Erfindung hinzu. Sie erweiterten es mit einer Ebene von dazwischen liegenden Staaten, Staaten die „abrufbereite Polizisten vor Ort“ sind, Polizisten die auf den Straßen arbeiten. In diesem Fall sind die „örtlichen Polizisten“ Hilfsstaaten. Das Polizeihauptquartier liegt in Washington. Die Türkei war der erste. Die Türkei ist der „abrufbereite Polizist“ mit der Aufgabe die Arabische Fassade vor ihrer eigenen Bevölkerung zu beschützen, welche der gefährlichste Feind ist. Die Türkei war unter diesen, der Iran unter der Schah war ein anderer. Nach 1967, als Israel das Zentrum des Arabischen Nationalismus zerstört hatte, wurde es ein Mitglied der Allianz. Pakistan war für lange Zeit ein Teil davon. Die Grundidee ist es nicht-Arabische Staaten zur Verfügung zu haben, die militärisch stark sind und die Arabische Fassade von denjenigen inneren Kräften verteidigen können, die seltsame Ideen haben: z.B. die Idee, dass der Reichtum und die Ressourcen der Region ihnen zugute kommen sollte, anstatt zu den reichen Leuten im Westen und ihren Verbündeten zu fließen. Solche Ideen werden „radikaler Nationalismus“ genannt und müssen unterdrückt werden: und zwar durch die „abrufbereiten Polizisten vor Ort“, welche die vorläufige Verantwortung haben, und wenn das nicht als genügende Drohung dient kommen die USA und ihr Kampfhund und benutzen die örtlichen Polizeiländer als Basen.

Öl war der Hauptgrund für das Interesse am Nahen Osten. Es gibt nun einen zweiten Grund der ziemlich wichtig ist. Das ist Wasser, das enorm wichtig ist und in Zukunft noch viel wichtiger werden wird, da die Wasserressourcen sich erschöpfen. Hierbei wird die Rolle der Türkei sogar noch grundlegender, da die Türkei, und im besonderen die südöstliche Region der Türkei, die Hauptquelle von Wasser in dieser Gegend ist. Und die Kontrolle über das Wasser befähigt zu dem was die US-Planer vor 50 Jahren „Vetomacht“ nannten, genauso wie die Kontrolle über Öl. Wenn man den Wasserfluss in andere Länder unterbrechen kann wird sie das auf die gewünschte Linie bringen. Das ist wohl ein entscheidender Zweck von Dämmen und anderen Projekten: Zu versichern, dass die Kontrolle über das Wasser in den Händen von Klienten der Vereinigten Staaten sein wird, welche die Kontrolle über diese Region und wahrscheinlich auch über die Vetomacht über widerspenstige Elemente garantieren.

Die enorme Unterstützung der USA für die schweren Gräueltaten der 90er Jahre in diesem Gebiet, welche einige der schlimmsten der Welt in diesem Zeitraum waren, geht von der Rolle der Türkei innerhalb des Herrschaftssystems der USA über das Gebiet aus. Das passiert nicht wegen der Liebe für die Türken. Es passiert wegen der Liebe für die Dienste, welche die Türkei in dieser Region erfüllen kann. Wenn die Türkei einem „radikalen Nationalismus“ erliegt – das heißt Unabhängigkeit – wird es das gleiche Schicksal erfahren. Das gleiche gilt für die Unterstützung der USA für Israel und für andere Klientenstaaten. Wenn sie ihre Funktion erfüllen geht es ihnen gut. Wenn sie sich von der gewünschten Richtung wegbewegen wird das anders sein. Wir sehen das gleich nebenan im Irak. So lange Saddam Hussein nur Kurden vergast, Dissidenten gefoltert und Menschen im großen Stil abgeschlachtet hat war er in Ordnung. Großbritannien und die USA unterstützten ihn weiterhin. Nach seinen schlimmsten Grausamkeiten stellten sie ihm sogar noch weiter Mittel zur Verfügung um Waffenvernichtungswaffen zu produzieren, zusammen mit Hilfe und Unterstützung die er dringend brauchte, solange bis er einen Fehler machte: er widersetzte sich Befehlen. Das ist inakzeptabel, also muss er verschwinden, wahrscheinlich durch einen Ersatz mit irgendeiner ähnlichen Gestalt. Und genauso verhält es sich mit anderen Klientenstaaten. Sie sind akzeptabel egal wie viele Gräueltaten sie durchführen, so lange sie ihre Aufgaben innerhalb des Weltsystems erledigen: zu versichern, dass die Reichen und Mächtigen bekommen was sie verdienen, nämlich den Reichtum der Region, ihre Ressourcen, ihre Märkte, und so weiter.

Nun noch kurz zum letzten Thema: Der 11. September. Was wir immer wieder hören ist, dass nach dem 11. September alles anders geworden ist. Das ist eine zuverlässige Daumenregel: wenn irgendetwas immer und immer wieder wiederholt wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es offensichtlich falsch ist.

In diesem Fall heißt das, dass sich nach dem 11. September sehr wenig geändert hat. Die Politik, Ziele, Beunruhigungen und Interessen der großen Mächte bleiben wie sie waren. Es gab ein paar Veränderungen. Zum einen, gibt es nun eine günstige Gelegenheit für brutale und unterdrückende Elemente überall auf der Welt ihre Politik mit gesteigerter Intensität zu auszuüben, in Ausnutzung der Furcht und Beunruhigung ihrer Bevölkerungen, und im Wissen der Unterstützung Washingtons.

Wie immer löst Unterdrückung Widerstand aus, und das ist in diesem Fall genauso. In den USA ist die Bevölkerung, im Gegensatz zu dem was die Schlagzeilen und die Intellektuelle Gemeinschaft erzählen, offener und kritischer geworden, mehr in oppositioneller Meinung, vermehrt an Protesten beteiligt und interessierter für aktuelle Entwicklungen. Das gleiche spielt sich überall auf der Welt ab. Vor zwei Wochen gab es eine internationale Konferenz in Brasilien, das World Social Forum, welches ungefähr 60000 Menschen von der ganzen Welt versammelt hat, Bürgerbewegungen, Bauern, Arbeitern, Umweltschützern, Frauengruppen – ganz viele unterschiedliche Leute. Sie organisierten sehr ernsthafte und konstruktive Foren und Diskussionen, welche den großen Problemen der Welt gewidmet waren. Das ist der Kern des weltweiten zivilen Widerstands der sich entwickelt, und versucht Programme zu verwirklichen, die sich gegen die globale Politik stellen, mehr und mehr Reichtum und Macht in den Besitz derjenigen zu leiten, bei denen sich schon jetzt der Reichtum und die Macht konzentriert.

Das gleiche gibt es auch hier. In der Türkei widersetzen sich sowohl Türken als auch Kurden sehr mutig und arbeiten für Veränderungen welche die Gesellschaft offener, liberaler, freier und gerechter machen werden. Sie sind ein Modell, das von Westlichen Menschenrechtsaktivisten bewundert wird und von dem diese einiges lernen sollten. Sie geben ein inspirierendes Beispiel für das, was unter äußerst harten Bedingungen getan werden kann um die Unterdrückung und staatliche Gewalt zu überwinden und eine ehrwürdigere menschliche Gesellschaft zu erschaffen. Ihre Kämpfe und ihre Ziele sind Eingebungen für andere mehr zu tun. Und nochmals, deswegen ist es so ein unglaubliches Privileg und eine derartige Ehre für mich hier mit Ihnen einige Tage zu verbringen.

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert.

25.03.2002 — ZNet — Orginalartikel: CHOMSKY’S DÝYARBAKIR SPEECH – Übersetzt von: Matthias

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