Friedrich Carl Heman: Die Juden in der Türkei (1908/1927)

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Angesichts der jüngsten, besorgniserregenden Verschlechterung im lange Jahre über als vorbildlich geltenden Verhältnis Israel – Türkei, erscheint es angebracht einen Blick zurück zu werfen, auf die langen Jahre ersprießlichen, jüdisch-osmanischen bzw. jüdisch-türkischen Miteinanders. Mögen die Erkenntnisse aus der gemeinsamen Geschichte beim Leser, sei er Türke, Israeli oder Deutscher, zumindest zum Nachdenken anregen und mit dazu beitragen, die Beziehungen allmählich wieder zu ‚normalisieren‘…

Von Robert Schlickewitz

Über die Juden in der Türkei liegen sehr verschiedene und sich manchmal widersprechende Arbeiten, Aufsätze, Beiträge aus fast allen Epochen vor. Keine der mir vorliegenden Studien kann als erschöpfend bezeichnet werden und deshalb sei davor gewarnt, sich alleine auf diese oder die nächste, oder die übernächste solche, ausschließlich, zu verlassen, sondern es sei vielmehr geraten, zu vergleichen, und sich seine eigene Meinung zu bilden. Stets sei auch der Hintergrund des jeweiligen Autors bei einer Beurteilung (oder Verurteilung!) zu berücksichtigen. Cui bono – wem nützt es, von wem ist ein Historiker oder Publizist abhängig, in wie fern spielen bei seinen Aussagen seine Abstammung, sein familiärer Hintergrund bzw. seine persönliche religiöse (oder konfessionelle) Bindung eine Rolle? – Ohne die Miteinbeziehung solcher Fragen, wird man schwer ein gerechtes Urteil fällen können.

Friedrich Carl Heman, der Autor des unten wiedergegebenen Originaltextes, war ein evangelischer Geistlicher, Professor für Philosophie und Pädagogik, Vorsitzender des Vereins „Freunde Israels“, Publizist sowie Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen. Er wurde 1839 in Grünstadt in der Pfalz geboren.

Die Pfalz gehörte bis zur Neuordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu Bayern („Bayern und Pfalz, Gott erhalt’s!“) und war, dies ein Erbe napoleonischer Besetzung und Verwaltung, eines der Gebiete in Deutschland mit den liberalsten Judengesetzen. Dementsprechend lebte lange Zeit über ein großer Teil der bayerischen Juden in der Pfalz.

Hemans Vater war vom Judentum zum Protestantismus konvertiert und leitete ein Missionshaus für konversionswillige Juden.

Nach seinem Studium der Philosophie und Theologie in Basel, Erlangen, Tübingen und Speyer bekleidete Friedrich Carl Heman zunächst die Stelle eines Stadtvikars in der Pfalz, später die eines Pfarrers. 1874 folgte er seinem inzwischen verstorbenen Vater im Amt eines Proselytenerziehers in Basel nach. 1883 habilitierte er sich ebendort, um 1888 eine außerordentliche Professur für Philosophie und Pädagogik anzunehmen. Glaubt man den Angaben des hier herangezogenen Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikons, so unterstützte Heman 1897 Theodor Herzl bei der Vorbereitung des ersten Weltzionistenkongresses.

Wissenschaftlich beschäftigte sich Heman außer mit Philosophie, evangelischer Theologie, Pädagogik – auch mit der Geschichte des Judentums. Dementsprechend lauten die Titel einiger seiner Aufsätze und Bücher: „Die historische Weltstellung des Judentums und die moderne Judenfrage“, Die religiöse Weltstellung des jüdischen Volkes“, „Was soll man vom Zionismus halten? – Gedanken eines Nichtjuden“, „Kant und Spinoza“, „Mission unter Juden“, „Geschichte des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems“, „Die religiöse Wiedergeburt des jüdischen Volkes“. Das oben genannte Kirchenlexikon enthält noch folgende weitere Information zu Heman: „Es war ihm ein theologisches Anliegen, den Juden zu zeigen, ‚daß die christliche Kirche ein Herz voll Liebe für das Wohl und Heil desselben (sic!) hat‘ (…). Dennoch tragen viele seiner Schriften und Vorträge zeittypische Züge, die man heute wohl ‚antisemitisch‘ nennen würde.“ Auch der Wikipedia-Eintrag „Endlösung der Judenfrage“ nimmt Bezug auf den Pfälzer Gelehrten: „Er (Heman) befürwortete wie Herzl einen ‚Judenstaat‘ und veröffentlichte dazu 1897 das Buch Das Erwachen der jüdischen Nation: Der Weg zur endgültigen Lösung der Judenfrage.“

1919 ist Friedrich Carl Heman in Basel verstorben.

Das Kapitel „Die Juden in der Türkei“, das seinem von O. von Harling überarbeiteten Buch „Geschichte des jüdischen Volkes“ entnommen ist, steht neben weiteren solchen, die das Leben der Juden in Palästina, im Islam, in Spanien, Frankreich, England, Italien, Deutschland, Polen sowie in anderen Teilen der Welt beschreiben.

Heman stellt seine persönliche, christliche, protestantische, möglicherweise auch heute noch als provokativ empfundene, Sichtweise den von jüdischen Gelehrten vertretenen Ansichten gegenüber. Er greift in seinem Buch gleich mehrfach den anerkannten jüdischen Historiker Heinrich Graetz (Grätz) an, den er falscher Schlussfolgerungen bzw. falscher Behauptungen bezichtigt und dem er mit eigenen Hypothesen begegnet. Im Kapitel „Die Juden in der Türkei“ konfrontiert er sehr ausführlich mit detaillierten Informationen zu Sabbatai Zewi und Spinoza. Dabei ist Heman jedoch sehr wohl in der Lage zu differenzieren, etwa wenn er zugibt, dass auch Christen der Massenhysterie um den falschen Messias verfallen waren. Grundsätzlich verfährt er in dem Bewusstsein, dass er niemandem aus der Welt seiner jüdischen Vorfahren etwas schuldig ist und dass er keine Rücksichten zu nehmen braucht, die gegen seine religiösen Überzeugungen stehen.

Platte Stereotypen, daran muss man sich bedauerlicherweise bei vielen deutschen Autoren des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewöhnen, gehören ebenso zum Inventar Hemans wie seine auf deutschen Traditionen wurzelnde, etwas unkritische Sympathie für die Türkei.

 „Die Juden in der Türkei“ kann als ein Dokument der Haltung einer relativ (!) aufgeschlossenen, mitteleuropäischen, christlichen Elite sowohl dem Judentum, als auch dem Islam gegenüber, angesehen werden. Wobei von besonderem Interesse das Maß der christlichen Toleranz gegenüber den beiden anderen Religionen, bzw. die Beantwortung der Frage wie ausgeprägt die Bereitschaft zu ehrlichem Verständnis für die ‚anderen‘ tatsächlich ist.

Dass aus einem bireligiösen Thema, wie es der Titel dieses Beitrags zunächst suggeriert, rasch eines wird, in welches alle drei großen monotheistischen Religionen involviert sind, kann nur Uneingeweihte verwundern. Zu tief, zu vielfältig und zu zahlreich laufen die interreligiösen und interkulturellen Aktionen seit vielen, vielen Jahrhunderten ab.

Die Juden in der Türkei

Als die Türken die Balkanhalbinsel erobert hatten, gewannen die Juden eine neue Zuflucht(s)stätte, wo sie ungestört ihr Wesen treiben konnten, während in den übrigen Ländern Europas die Verfolgungen immer zunahmen. Die Auswanderung nach Palästina war im 15. Jahrhundert eine Zeitlang vom Papste untersagt. Die Juden hatten sich vom Pascha die Davidskapelle in Jerusalem zusprechen lassen. Darüber beklagten sich die Minoriten, die dort ansässig waren. Darauf ließ der Papst ein Verbot ergehen, daß die venetianischen Schiffer keine Juden als Passagiere nach Palästina aufnehmen dürften. Das Verbot wurde aber nicht lange beobachtet.

Bei der steten Zuwanderung aus Afrika konnte es nicht fehlen, daß auch in der Türkei das Talmudstudium Förderung erhielt und daß zwischen Talmudisten und Karäern öfter Streitigkeiten ausbrachen. Aber weder die Anhänger des Talmud noch seine Bestreiter konnten den Juden geistiges Leben einhauchen. Auch in Jerusalem gerieten die Juden öfter in Streitigkeiten untereinander, weil die Eingesessenen sich gegen die Einwanderer gewisse Vorrechte anmaßten.

Als die spanischen Juden nach ihrer Vertreibung aus der Heimat zu Tausenden nach Algier, Tunis, Tripolis, Ägypten und der Türkei auswanderten, erlangten sie durch ihre höhere Bildung überall das Übergewicht. Sie nahmen ihre spanische Sprache überall mit hin und behielten sie bei; und ihr Einfluß war so groß, daß in Saloniki, Konstantinopel, Alexandrien, Kairo, Venedig und anderen Handelsplätzen die Juden alle ihre Geschäfte in spanischer Sprache machten. Diese spanischen Juden wurden Sephardim genannt, im Gegensatz zu den nach dem Orient eingewanderten deutschen Juden, welche Askenasim genannt wurden. Die Sephardim behielten aber überall das geistige Übergewicht und nehmen bis heute den übrigen Juden gegenüber eine vornehme Stellung ein. Auch in Nordafrika von Marokko bis Kairo brachten es einzelne sephardische Juden zu hohen Stellungen an den Höfen der zahlreichen mohammedanischen Fürsten; die Mehrzahl aber verarmte wie alle Juden unter dem Islam. Selbst in Damaskus bildeten die spanischen Juden einen besondern Teil der Judenschaft; sie mehrten sich bis zu 500 Familien und erbauten eine prachtvolle Synagoge.

Unter Selim I. und Suleiman II. taten sich die vertriebenen spanischen Juden besonders hervor. Und gerade die Marranen waren es, welche die Türken mit europäischen Waffen versahen. Sie gossen ihnen Kanonen, lehrten sie Pulver machen, unterrichteten sie in der europäischen Kriegskunst und setzten sie in den Stand, die Grenzen ihres Reiches nach Norden immer weiter auszudehnen und nach Ungarn und Österreich vorzudringen. Auch als Leibärzte waren sie bei den Sultanen beliebt. In Konstantinopel lebten 30 000 Juden; sie besaßen 24 Synagogen; es gab da kastilianische, aragonische und portugiesische Gemeinden, ja sogar die Juden aus Cordova, Toledo und Lissabon bildeten je ihre eigenen Genossenschaften (Kahals); daneben gab es noch deutsche und italienische und griechische Juden mit besonderen Synagogen. Sie zahlten eine Kopfsteuer und eine von den Rabbinern festgesetzte Vermögenssteuer. Auch gründeten sie Spitäler und Armenkassen für ihre Angehörigen. Vor dem großen Brand von Konstantinopel im Jahre 1560 sollen sie 44 Synagogen, im Jahre 1575 nur noch etliche dreißig besessen haben. Die sephardischen Juden hatten auch wie die türkischen Juden ihr Oberhaupt, das unter Suleiman im Divan Zutritt hatte.

Eine förmliche Judenstadt wurde aber Saloniki durch seinen Handel und Hafen. Es gab da zehn meist sephardische Gemeinden in 36 Gruppen und mehr jüdische als andere Einwohner. Neben ihrer Talmudkenntnis, Arzneikunst und Astrologie wurde hier besonders auch die Geheimlehre der Kabbala gepflegt und die Hoffnung auf das baldige Eintreffen des Messias genährt.

In der Blütezeit des türkischen Reiches hatten auch die Juden ihre besten Tage. Sie nahmen da dieselbe Stellung ein, wie vordem bei den mohammedanischen Fürsten in Cordova und bei den christlichen Fürsten in Toledo und Saragossa oder bei den Kalifen in Bagdad. Juden waren allenthalben die Zollpächter; zugleich lagen der Großhandel und die Schiffahrt in ihren Händen, und je weiter die türkische Macht sich nach dem Westen ausbreitete, um so mehr machten sie den Venetianern Konkurrenz. Sie waren die Reichsten und Wohlhabendsten in Konstantinopel und allen übrigen Städten und besaßen am Goldenen Horn die schönsten und größten Häuser und Gärten. Nach der Türkei flüchteten sich auch die letzten jüdischen Gelehrten und Dichter aus Spanien und Italien vor den Scheiterhaufen der Inquisition, wie umgekehrt die christlichen Gelehrten aus Byzanz vor dem Schwert der Türken nach dem Westen ausgewandert waren. Aber diese jüdischen Kulturträger leisteten nichts zur geistigen Hebung der Türken, denn ihre eigene Kultur war schon im Sinken und Erlöschen. In der Türkei entstanden weder bedeutende Talmudisten noch Dichter noch Geschichtsschreiber unter den Juden.

Nur einer hat dem Rabbinismus ein Werk geliefert, das die Jahrhunderte überdauerte. Joseph Karo, Rabbiner in Safet, der damals angesehensten Judenstadt in Palästina, war zwar ein fanatischer Anhänger der Kabbala wie alle damaligen Juden, aber zugleich ein gründlicher Kenner des Talmud. Als Knabe war er mit seinen Eltern aus Spanien ausgewandert und von früh im Talmud gründlich unterrichtet. Eine Frucht seiner umfassenden Talmudstudien war ein zusammenfassendes Gesetzeswerk, aus dem nun die Juden aller Welt ihre Gesetzeskenntnis und die Rabbiner ihre gesetzlichen Urteilssprüche schöpfen bis auf den heutigen Tag. Das Werk verdient seinen Namen Schulchan Aruch „gedeckter Tisch“; denn in ihm sind alle gesetzlichen Bestimmungen des Talmud, wie sie damals üblich waren, kurz und bestimmt in guter sachlicher Ordnung zusammengefaßt. Es ist ein wirkliches Lehrbuch des jüdischen Rechts, ein Handbuch, aus dem jeder Rabbiner sich Rat holen konnte über das, was unter den Juden als Gesetz und Recht gültig war und gültig sein sollte.

Darum gewann es auch überall Verbreitung und Ansehen und trat für die meisten Rabbiner an Stelle der mühsamen Erforschung der im Talmud überlieferten, sich oft widersprechenden Meinungen der talmudischen Gelehrten. Es zeigt präzis und genau, in welchen Fällen, unter welchen Umständen, bei welchen Verhältnissen diese oder jene Entscheidung dieses oder jenes Rabbi anwendbar ist. Während vorher sehr oft die rabbinischen Gerichte sich erst Gutachten bei berühmten Talmudgelehrten einholen mußten und die meisten Rabbiner sich eben dadurch ihren Ruhm als Talmudkenner erwarben, daß sie in schwierigen Fällen Urteile fällten nach Maßgabe der Entscheidungen der im Talmud genannten Rabbiner, so kam nun das immer mehr in Abgang. Die jüdischen Richter sprachen ihre Urteile nach den Vorschriften des Schulchan Aruch. Alle Rabbiner, die ihren Schulchan Aruch zu studieren hatten, urteilen nun in gleicher Weise; denn sie haben einen gedeckten Tisch, der ihnen die Norm ihrer Urteile bietet. Und so blieb es bis zur Gegenwart.

Ein solches Werk hatte aber nur ein spanischer Jude im Morgenlande schreiben können; denn unter den Juden des Orients grassierte nur der ausschweifendste, abergläubischste und phantastischste Mystizismus, von dem sogar Karo je länger je mehr seinen Geist umspinnen ließ. Was seit Jahrtausenden der Orient in Syrien und den Euphratländern, in Ägypten und Arabien an Geheimlehren phantastischster Art, an Geisterspuk und Geisterbeschwörungen, an Visionen und Traumdeuterei, an Besessenheit und Zauberei, Magie und Wahrsagerei, an Seelenwanderungsglauben und Seelenvereinigung mit Gott und Engeln und Menschen geübt und getrieben hatte, das erneuerten die Kabbalisten und führten es ins Judentum ein, so daß das Judentum vom Aberglauben ganz durchseucht und verdorben wurde. Solche Männer waren Salomo Molcho, Joseph Taytasak, Jakob Berab, Issak Lurja, Chajim Vital Calabrese und viele andere. Was Mose de Leon im Sohar gelehrt hatte, das übertrafen ihre schwärmerischen Theorien weit und das spannen sie ins Ungeheuerliche aus. Sie wollten alle ihre Lehren von Gott oder einem Engel oder Mose oder Elia oder Simon ben Jochai offenbart erhalten haben, und ihr Geist war so umnachtet, daß sie ihre Halluzinationen selber glaubten. Wie eine Pest verbreitete sich diese geistige Seuche von Palästina aus nach den westlichen Ländern.

Daß bei solcher Geisteszerrüttung der östlichen Juden auch die Messiashoffnungen die verkehrteste Gestalt annahmen und in geradezu jämmerlicher Weise nach Verwirklichung drängten, konnte nicht ausbleiben. Im 17. Jahrhundert zur selben Zeit, als die Rabbiner zu Amsterdam einen Spinoza mit dem großen Bann belegten, war die Verwilderung im Orient so hoch gestiegen, daß da ein Messias auftrat, der in der nichtsnutzigsten und geistlosesten Weise seine Rolle spielte, aber trotz alledem alle Juden des Erdkreises in begeisterte Bewegung versetzte. Es war das letzte und weitest verbreitete, aber zugleich trübste und planloseste Aufflackern des Messiasgedankens. Seitdem blieb auch vom Messiasglauben bloß eine abgeblaßte Idee zurück, die nur noch im synagogalen Gebet ihre Fortdauer fristete, an deren praktische Verwirklichung aber niemand mehr dachte.

Sabbatai Zewi ist im Jahre 1626 im Smyrna in Kleinasien geboren und soll spanischer Abkunft gewesen sein. Sein Äußeres verschaffte schon dem Jüngling Sympathien. Er war groß und wohlgestaltet, schön von Gesicht und mit angenehmer Stimme und einnehmendem Gesang, von schwärmerischer Gemütsart, gemischt mit Eitelkeit und Ehrgeiz. Das Talmudstudium lockte ihn nicht an, um so mehr die Phantastereien der Kabbala. Um auch Offenbarungen und Visionen zu erhalten, ergab er sich der Askese. Nach jüdischem Brauch war er schon jung verheiratet; aber seine Abneigung gegen die Ehe veranlaßte seine erste und dann seine zweite Frau, sich von ihm scheiden zu lassen. Seine Verehrer behaupteten, daß von seinem Leib ein Wohlgeruch ausströme. Durch seine Entsagung von allen Genüssen und sein eifriges Studium der Kabbala erregte er bald die Aufmerksamkeit, und es sammelte sich ein Kreis Gleichgesinnter um ihn, die seinen Gesang kabbalistischer Stellen bewunderten. Smyrna erhielt gerade um diese Zeit eine besondere Bedeutung. Infolge des Krieges der Venetianer mit den Türken gründeten christliche Kaufleute ihre Niederlassungen in Smyrna, und Juden waren dabei ihre Agenten. Solche Stellung nahm auch Sabbatais Vater ein und kam zu großem Wohlstand, was er dem Verdienst seines frommen Sohnes zuschrieb. Er und andre verehrten den Jüngling als Heiligen. Im Hause seines englischen Herrn hörte der Agent auch viel vom Kommen des tausendjährigen Reiches, das damals viele Fromme in England erwarteten. Im Jahre 1666 sollte es beginnen; da werde Christus als der Messias der Juden erscheinen und sie nach Jerusalem zurückführen. Solche schwärmerische Gedanken zündeten im Geiste des jungen Sabbatai, und bald glaubte er sich berufen, die messianische Zeit herbeizuführen. Aus dem Sohar wollten die Kabbalisten herausgerechnet haben, daß die dem Kommen des Messias vorausgehende Erlösung und Versöhnung der himmlischen und der irdischen Welt im Jahre 5408 der Welt, also im Jahre 1648, ihren Anfang nehmen werde. Sabbatai schrieb sich nun diese messianische Erlöserrolle zu und glaubte sie zustande bringen zu können dadurch, daß er den allerheiligsten Gottesnamen ausspreche. Seit uralten Zeiten nämlich ist es den Juden verboten, die heiligen vier Buchstaben, welche den Namen des Gottes Israel bedeuten, wörtlich auszusprechen; wo in der Bibel dieser Name geschrieben steht, müssen sie dafür Adonai, „der Herr“, sagen. Die Kabbalisten erfanden für dieses Verbot eine Menge mystischer Gründe und legten ihm tiefe Bedeutung bei. Die Erlösungszeit, die Zeit vollkommener Harmonie der oberen und unteren Welt, die Zeit, da die Sündhaftigkeit der Menschen abgetan und Israel in Herrlichkeit versetzt werde, beginne dann, wenn die vier Buchstaben zusammengerückt und in ihrer Einheit ausgesprochen würden. Indem Sabbatai den allerheiligsten Namen laut und öffentlich ausgesprochen habe, sei offenbar, daß er der Bringer der messianischen Zeit sei.

Allein eben darum sprachen nun die Rabbiner von Smyrna den Bann über ihn und seine Anhänger aus, und er und sie mußten die Stadt verlassen. Dies Martyrium verschaffte ihm aber nur um so mehr Anhänger, denn auf die Erniedrigung des Messias folge seine Erhöhung und Herrlichkeit. Einer seiner Anhänger bestärkte ihn noch in seinem Messiaswahn, indem er eine angeblich alte Schrift ihm in die Hände spielte, worin von ihm mit Namensnennung geweissagt sei, daß er den großen Drachen töten werde, daß er der Messias sei und ohne Waffen Krieg führen werde. Sabbatai schenkte dieser Schrift, die von ihm zeugte, bereitwillig Glauben. Er begab sich darauf nach Saloniki, wo die Kabbala viele Anhänger hatte. Als er aber hier die mystische Vermählung zwischen ihm, dem Messias, und der Thora, dem Gesetz, das die Himmelstochter bedeutete, in einer prunkhaften Festfeier vollzog, taten ihn auch hier die Rabbiner in den Bann, und er mußte die Stadt verlassen. Er wandte sich nun nach Kairo. Hier fand er am jüdischen Zollpächter und Münzmeister des Landes, Raphael Joseph Chelebi, einen Mann von großem Reichtum, einen begeisterten Anhänger; denn auch dieser führte trotz seines Reichtums ein kabbalistisches Büßer- und Heiligenleben, fastete und betete und badete viel und war eifrig im Studium der Kabbala. Hier heiratete Sabbatai Zewi eine schöne, aber unsittliche Person, die sich schon in Italien für die zukünftige Frau des Messias ausgegeben hatte. Mit großem Gefolge zog er dann nach Jerusalem. Hier fand der neue Messias auch seinen Elias, der ihm vorangehen, seine Würde verkünden und Bahn bereiten sollte. Da er hier mit den Geldern des Raphael Chelebi freigebig umging, gewann er sich großen Anhang. Sein Elias veröffentlichte die abenteuerlichsten Weissagungen: Sabbatai werde vom Fluß Sabbation die zehn Stämme nach Jerusalem zurückführen, auf einem Löwen reitend, der den siebenköpfigen Drachen im Maule tragen werde. Fast alle Juden Jerusalems und der Umgegend glaubten an ihn. So konnte Sabbatai von Jerusalem eine gute Zahl Sendboten in alle Welt senden, die sein Kommen als Messias überall ansagten. Indessen kehrte er in seine Vaterstadt Smyrna zurück, wo seine Anhänger ihn mit Jauchzen und Hörnerschall in der Synagoge empfingen unter dem Ruf: „Es lebe unser König, unser Messias.“ Die Menge wetteiferte in Zeichen der Verehrung und Liebe. Der Taumel ergriff die ganze Stadt. Bald ging er aber in Raserei über. Weiber und Kinder gerieten in Verzückung und verkündeten ekstatisch, Sabbatai sei der verheißene Messias. Alle bereiteten sich zum Auszug nach Jerusalem. Alle Geschäfte und alle Arbeit hörten auf. Man fastete, wachte, betete Tag und Nacht. Um die Sünden zu tilgen, sprachen sie zur Mitternachtsstunde die kabbalistischen Gebete und Zaubersprüche, badeten sich in der Winterkälte zur Reinigung von Sünden im Meer. Andre begingen im ausgelassensten Jubel Freudenfeste zur Ehre des Messias, zogen singend durch die Straßen: „Die Rechte des Herrn ist hoch, die Rechte des Herrn erhält den Sieg.“ Der Messias durchschritt die Straßen immer in Prozession, und wen sein Fächer berührte, war des Himmelreichs gewiß. Jede seiner Bewegungen und jedes seiner Worte erregte Freudentaumel, galt als Gottesoffenbarung, wurde als Wundertat ausgebreitet. In Smyrna, in Saloniki und andern Orten verheirateten die Juden schnell noch ihre 12jährigen Kinder, damit noch schleunig die Zahl der Menschheit voll werde und das ewige Messiasreich anfangen könne; denn das könne erst eintreten, wenn alle Seelen verleiblicht und geboren seien. Auch die Erwachsenen feierten Orgien, und Männer und Weiber tanzten rasend durch die Stadt. Alt und jung geriet in Verzückung und Taumel. Niemand wagte Widerstand zu leisten.

Durch Sendschreiben und Wanderprediger drang die Kunde von Ort zu Ort, von Land zu Land; überall fand sie Glauben, erweckte (sie) Begeisterung; überall gerieten die Juden in den gleichen Taumel. Die englischen und holländischen Kaufleute berichteten über diese sonderbare Erregung der Juden nach ihrer Heimat. Wie eine Epidemie griff der Taumel um sich. In Konstantinopel, auf der Insel Elba verfielen betagte Männer in Hüpfen und Tanzen und weissagten in ihrer Verzückung das Kommen des Messias in der Person Sabbatais. Auch die Rabbiner und Männer von Bildung und Wissenschaft wurden Opfer ihrer Leichtgläubigkeit und ihres Wahnes. Die Bewegung kam über Alexandria nach Venedig, Livorno und andere Hafenstädte Italiens; denn überall gab es Kabbalisten, die den Unfug förderten. Aber auch die großen Judengemeinden in Hamburg und Amsterdam kamen in Erregung. Glaubwürdige christliche Kaufleute bestätigten den Juden, welch außerordentliche Vorgänge in Smyrna sich ereigneten und was dort vorgehe. Der deutsche Gelehrte Heinrich Oldenburg zu London schrieb an Spinoza: „Alle Leute sprechen hier von dem Gerücht der Rückkehr der mehr als 2000 Jahre verbannten Israeliten in ihr Vaterland. Sollten sich die Nachrichten bestätigen, so dürften sie einen Umschwung in allen Dingen herbeiführen.“ Rabbiner und Bankiers, Gelehrte und Handelsleute, selbst Freunde Spinozas wurden Gläubige Sabbatais. Auch in der Synagoge zu Amsterdam feierte man die Ankunft des Messias mit Tanz und Musik einerseits und mit Fasten und Beten andrerseits. Überall wurde Sabbatais Bild verbreitet, und weil jeder nun fromm werden wollte, um am Messiasreich Anteil zu bekommen, konnten nicht genug hebräische, spanische und portugiesische Gebetbücher gedruckt werden. In Hamburg trieben es die Juden noch toller. Die alten, ehrwürdigen Rabbiner hüpften, sprangen, tanzten mit den Thorarollen im Arm wie wahnsinnig in den Synagogen herum. Die angesehensten Männer betrugen sich wie Knaben vor Freude, daß nun der Messias gekommen sei. An vielen Orten rüsteten sich die Juden zum baldigen Auszug.

Hätte Sabbatai Zewi nur einigermaßen Verstand und Klugheit, Tatkraft und Energie besessen, er hätte bei der allgemeinen Begeisterung der Juden, bei ihrer Hingebung und Opferfreudigkeit Großes bewirken können. Er hätte sein zerstreutes Volk sammeln, organisieren, ausrüsten und zu nationaler Einheit bringen können. Aber diesem unwissenden, energielosen, nur in kabbalistischen Träumereien versunkenen Mann, der doch schon vierzig Jahre alt war, fehlten alle Eigenschaften zu einem Volksführer und nationalen Helden, noch mehr die ethischen und religiösen Eigenschaften, um als Prophet und Priester oder gar Messias-König aufzutreten. Am allerwenigsten befähigte ihn zu solcher Rolle sein kabbalistischer Irrwahn, und außerdem besaß er ja nur noch eine große Gestalt, schönes Gesicht und wohlklingende Stimme. Auch seine ganze Umgebung bestand aus gänzlich unfähigen Leuten, die ihn noch an tollen Wahnideen übertrafen. Es ist daher ganz unbegreiflich und unfaßlich, wie die ganze Judenschaft, zu deren angebornen Erbgütern ja Klugheit und Scharfsinn in hohem Maße gehören, sich hat so bezaubern lassen, daß alle, alle mit ganz wenigen Ausnahmen, die man fast totgeschlagen hätte, in die Stricke dieses hohlköpfigen Menschen fallen konnten. Ja auch nichtjüdische Kreise wurden von dieser Bewegung berührt. Spinoza freilich, dem die Synagoge so übel mitgespielt hatte, mag sich wohl immer skeptisch verhalten haben. Er schreibt im Jahre 1670 in seinem theologisch-politischen Traktate zwar: „Wenn die Grundlagen der jüdischen Religion ihren Geist nicht verweichlichten, so würde ich sicher glauben, daß sie einst bei passender Gelegenheit und beim Wechsel der menschlichen Schicksale ihr Reich wieder aufrichten werden und Gott sie von neuem erwählen werde;“ aber eben durch das „Wenn“ deutet er an, daß er die Juden seiner Zeit durch ihre religiös-kabbalistische Schwärmerei geistig und religiös für zu verweichlicht gehalten hat, als daß sie „ihr Reich“ wieder aufrichten könnten. Er würde das nur glauben, wenn sie nicht so verweichlicht wären. <Fußnote: Grätz hat daher den Ausspruch Spinozas völlig mißverstanden, wenn er (…) meint, auch Spinoza habe bereits die Möglickeit der Wiederaufrichtung ihres jüdischen Reiches ins Auge gefaßt bei „dieser“ günstigen Gelegenheit. Im Gegenteil, als Spinoza im Jahre 1670 seine Schrift veröffentlichte, war die günstige Gelegenheit längst vorüber, denn Sabbatai war schon vier Jahre früher Mohammedaner geworden, und Spinoza will hier den Grund angeben, warum die sabbataische Bewegung resultatlos habe verlaufen müssen: eben weil die Juden seiner Zeit dazu viel zu verweichlicht gewesen seien gerade durch ihre Religion. Für Spinoza war die Kabbala immer ein verweichlichter Irrwahn, wodurch die religiöse Kraft der Juden geschwächt wurde.>

Dagegen gab es sogar Christen, welche durch ihre schwärmerisch-mystische Frömmigkeit auch geistig und religiös so geschwächt und verweichlicht waren, daß sie durch den sabbataischen Taumel fast an ihrem Christenglauben irre geworden wären. In Hamburg nämlich kamen fromme Christen zu dem Prediger Esdras Edzard, einem in der orientalischen und talmudischen Literatur sehr gelehrten Manne, der durch seine Frömmigkeit und Gelehrsamkeit viele Juden zum Glauben an Christum brachte, und sagten: „Wir haben nicht nur Juden, sondern auch von unsern christlichen Korrespondenten in Smyrna, Aleppo, Konstantinopel und anderen Orten der Türkei ganz gewisse Nachrichten, daß der neue Judenmessias so viele Wunder tue und die Juden der ganzen Welt sich zu ihm sammeln, wo bleibt denn nun die christliche Lehre und der Glaube von unsrem Messias?“ Edzard erklärte alles für Lug und Trug. Aber daß auch Christen solche Nachrichten aus dem Orient erhielten, bestärkte die Juden in ihrem Wahn. Nicht bloß in Nordafrika wurden die Juden durch ihre Hoffnung auf die Messiasherrschaft so übermütig, daß der Emir Gailan gegen sie einschreiten mußte, sondern auch in Mähren gab es Aufläufe und Reibereien zwischen Juden und Christen, daß der Landeshauptmann die Bevölkerung beruhigen mußte.

Indessen tat Sabbatai in Smyrna nichts zur Verwirklichung seiner Messiasherrschaft, er ließ sich an der Bewunderung, den Schmeicheleien und den ungemein vielen Gaben und Geschenken genügen, die ihm von überall zuflossen. Auch seine Umgebung, lauter unfähige Träumer und unpraktische Schwärmer, wußten nichts Besseres zu tun, als ihren kabbalistischen Irrwahn weiter auszubauen und die dogmatischen Konsequenzen zu ziehen. In der Gnadenzeit des Messias, so offenbarten sie, kommt alles in der Welt zu seiner rechten Ordnung, also bedarf es dann nicht mehr des Gesetzes über Verbotenes und Erlaubtes. Gesetz, Talmud und Schulchan Aruch sind überflüssig. Der Messias stelle die rechte Ordnung her. Sabbatai Zewi sei der gottgleiche Stellvertreter Gottes, des Alten der Tage. Die Sendschreiben, die ausgesandt wurden in alle Länder, trugen die Unterschrift: „Ich, der Herr, euer Gott, Sabbatai Zewi.“ Die Fasttage verwandelte er in Freudentage.

Dem türkischen Kadi in Smyrna scheint aber zuletzt die Sache zu arg geworden zu sein. Er soll Sabbatai Zewi drei Tage Frist gesetzt haben, um nach Konstantinopel abzureisen und sich dort vor dem Sultan zu stellen. Ehe Sabbatai abreiste, verteilte er unter seine 26 Hauptanhänger die Königreiche der Erde und setzte sie zu Fürsten ein. Die höchsten Würden erhielten seine zwei Brüder; der eine wurde König aller Könige der Gojim, der andere König aller Könige Israels. Zugleich bekamen seine Anhänger neue Namen mit ihrer neuen Würde, nämlich die Namen derer, deren Seele in sie gewandert sei. Dann begab er sich mit einigen Anhängern auf ein Schiff zur Fahrt nach Konstantinopel, wo er durch göttliche Wunder dem Sultan die Krone zu nehmen hoffte.

Es war im Jahre 1666. Seine Ankunft ließ er durch Boten vorausverkünden. Aber das Schiff hatte mit Unwetter zu kämpfen. Seine Anhänger priesen es, daß er durch göttliche Wunder dem Meere entronnen sei, denn Sturm und Wogen mußten dem Messias gehorchen. Aber als sein beschädigtes Schiff in den Dardanellen landen mußte, ließ ihn der Großwesir Achmed Köprili verhaften und in Fesseln legen. Seine von Konstantinopel herbeiströmenden Anhänger konnten dem Gefangenen durch ihre Geldspenden nur einige Erleichterungen verschaffen. Dann wurde er zu Wasser nach der Hauptstadt gebracht, wo der Landungsplatz ganz von Juden besetzt war. Der Pascha, der ihn in Empfang nahm, begrüßte ihn mit schallenden Ohrfeigen. Sabbatai soll ihm auch die andere Wange zum Schlage dargeboten haben. Vor den Wesir Mustafa Pascha geführt und nach seinen Absichten befragt, soll er sich dann für einen jüdischen Chacham (Weisen) ausgegeben haben, der gekommen sei, Almosen für seine Glaubensgenossen in Jerusalem zu sammeln. Er wurde darauf ins Gefängnis geführt. Seine Anhänger aber blieben ihm treu. Vor der Herrlichkeit mußten zuerst die „Leiden des Messias“ kommen. Obgleich die Mohammedaner sie in den Straßen verspotteten, eilten sie doch täglich zum Gefängnis, um einen Blick des leidenden Messias zu erhaschen. Nach zweimonatlichem Gefängnis wurde er nach einer Dardanellenfeste gebracht, wo Staatsgefangene in leichter Haft gehalten wurden. Seine nächsten Begleiter durften seine Haft teilen, und im Hafen wimmelte es von Schiffen, welche Anhänger und Gaben herführten, so daß nicht bloß die Fahrpreise stiegen, sondern Sabbatai mit seiner Frau eine förmliche Hofhaltung führen konnte. Wer ihn sehen wollte, mußte dem Wächter des Schlosses fünf bis zehn Taler zahlen. Diese leichte Haft vermehrte noch den Glauben an ihn; denn die Juden legten es aus, der Sultan habe Furcht vor ihm und werde sich doch noch vor ihm beugen und ihn anerkennen. Jetzt sei die Offenbarung der Herrlichkeit ganz nahe gerückt. Die Juden in Ungarn bereiteten sich zur Auswanderung vor. Handel und Wandel stockten; denn die Juden wollten keine neuen Geschäfte mehr anfangen. Überall brachten sie die Buchstaben S.Z. an, besonders in den Synagogen. Überall beteten sie öffentlich: „Segne unsern Herrn und König, den heiligen, gerechten Sabbatai Zewi, Messias des Gottes Jakob.“ In allen Gebetbüchern wurden Fürbitten für ihn gedruckt. Diejenigen, die zweifelten, wurden mit dem Tod bedroht, und in Amsterdam und Hamburg nötigte man sie beim Gebet für Sabbatai Zewi dazubleiben und laut „Amen“ zu sagen.

Drei Monate konnte Sabbatai Zewi auf dem Dardanellenschloß sich als Messias bewundern lassen und sich als zukünftiger König der Welt gebärden. Aber er tat nichts, als Feste feiern. Sogar den neunten Ab, den großen Trauertag der Zerstörung Jerusalems, machte er zum Freudentag. Endlich aber erreichte ihn das Schicksal. Er geriet mit einem andern, aus Polen zugereisten Schwärmer und Propheten über den Vorläufer des Messias, ob er schon gekommen sei oder nicht, in Streit. Der Pole aber reiste fort nach Adrianopel und verriet dem Pascha Mustafa, daß von Sabbatai Pläne gegen den Sultan und seine Herrschaft geschmiedet würden.  Die Sache wurde an Sultan Murad IV. berichtet, und der machte kurzen Prozeß. Ein Sendbote wurde nach dem Dardanellenschloß geschickt, und der brachte ihn nach Adrianopel. Er wurde zu des Sultans Leibarzt, Hekim Baschi, einem zum Islam übergetretenen Juden, geführt. Dieser stellte ihm alle grausamen Strafen vor, die seiner warteten; er werde gebunden mit brennenden Fackeln durch die Straßen gepeitscht werden, wenn er sich nicht durch Annahme des Islam retten werde. Sabbatai Zewi entfiel der Mut; er versprach dem Rat zu folgen. Am folgenden Tag, am 14. September 1666, wurde er vor den Sultan geführt. Er fiel vor dem Sultan nieder, warf seine jüdische Kopfbedeckung weg und setzte den Turban auf, der ihm gereicht wurde. Dann vertauschte er seine schwarze Judenkleidung mit einem grünen Oberkleid und vollzog damit seinen Übertritt. Der Sultan gab ihm den Namen Mehmed Effendi und ernannte ihn zum Türhüter mit einem kleinen Gehalt. Seine Frau ging ebenfalls zum Islam über und erhielt dafür von der Sultanin Geschenke. Dasselbe taten seine nächsten Begleiter und Anhänger. Sie wurden dadurch vor der Verachtung und Rache der Juden geschützt. An seine Brüder in Smyrna schrieb er: „Gott hat mich zum Ismaeliten gemacht; er befahl und es geschah. Am neunten Tag nach meiner Wiedergeburt.“

Eben hatten die Vorsteher und Rabbiner von Amsterdam allesamt ein Huldigungsschreiben an Sabbatai gerichtet, und hatte man zu Hamburg am Versöhnungstag in der Synagoge fünfmal über Sabbatai den Segen gesprochen, da langte die Nachricht von seinem Übertritt zum Islam an. Die Betäubung war gewaltig und allgemein; die Enttäuschung und Beschämung erdrückend, denn Christen und Mohammedaner wiesen allenthalben mit Fingern auf die leichtgläubigen und verblendeten Juden, verfolgten sie auf der Straße mit Spott und Hohn. Das Lächerliche an der ganzen Sache trat jetzt an den Tag. Verfolgungen hatten sie deshalb nirgends zu erleiden. Selbst der Sultan stand davon ab, die Juden dafür büßen zu lassen. Die ganze Bewegung war so harmlos, so unpolitisch, so unkriegerisch abgelaufen, war eine so heimliche, friedlich-theologische Schwärmerei gewesen, daß die Beschämung genügend Strafe war. Die eigentlich kabbalistischen Schwarmgeister wollten die Nachricht gar nicht glauben und verkehrten sie in eine Bestätigung ihres Glaubens an ihren Messias. Sie verbreiteten die Nachricht, Sabbatai sei gar nicht abgefallen, sondern eine Scheingestalt; er selbst sei in den Himmel entrückt oder zu den zehn Stämmen versetzt worden und werde bald wiedererscheinen, um sein Reich aufzurichten. In Smyrna fuhr man fort, für Sabbatai zu beten. Es nützte auch nicht viel, daß jetzt die Rabbiner die Anhänger Sabbatais mit dem Bann belegten, die Mystiker blieben heimlich bei ihrem Glauben an die Wiederkunft Sabbatais. Die schwärmerischen Propheten durchzogen den Orient und Okzident und schürten den heimlichen Glauben. Die vernünftigen und nüchtern gewordenen Talmudisten hatten Mühe, sich dieser mystischen Propheten zu erwehren und ihren Einfluß zu bannen.

Es gelang ihnen aber nicht; in Smyrna, Saloniki, Konstantinopel und ganz besonders in Polen blühte die kabbalistische Schwärmerei fort, ja in Polen richtete sie bald noch weitere Verwirrung an; denn die Frommen und religiös Gesinnten nährten immer mehr ihr religiöses Leben aus dem Sohar und andern kabbalistischen Schriften. Statt daß die Juden durch Sabbatais jämmerliches Ende ernüchtert worden wären, wurden sie dadurch in ihrem Aberglauben bestärkt. Nur im Westen konnte die Neuzeit ihren Einfluß auf sie geltend machen.

Mit Sabbatai Zewi haben aber die orientalischen Juden ihre Rolle ausgespielt. Das Judentum im Orient gewann keine Bedeutung mehr. Es versumpfte immer mehr, denn es fehlte ihm jegliche geistige Anregung. Beim allgemeinen Niedergang der orientalischen Länder verarmten auch die Juden daselbst.

Quelle:

F. Heman und O. von Harling, Die Geschichte des jüdischen Volkes, Stuttgart 1927, Kapitel 13: Die Juden in der Türkei, S.263-276:

Anmerkungen:

Der Text wurde in seiner Originalfassung belassen, Hervorhebungen des Autors (Heman) kursiv gesetzt, eine Fußnote, als solche kenntlich gemacht, an der betreffenden Stelle im Text in Klammern  <> wiedergegeben.

Der Name Heman kommt bereits im Alten Testament vor. Nach 1. Kön. 5, 11-12 handelte es sich bei einem Mann dieses Namens um einen berühmten Weisen und möglicherweise auch Lieddichter, der als Maßstab für die Kunst Salomos angeführt wird. – Nach 1. Chron. 6, 18 war Heman einer der Sänger am Hofe König Davids, auf den eine der drei Musikergilden am Tempel von Jerusalem zurückgeht.

Otto von Harling zeichnete verantwortlich für die Herausgabe der zweiten aktualisierten und gekürzten Fassung von „Geschichte des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems“. Seine Neuauflage erzielte, nun unter dem Titel „Geschichte des jüdischen Volkes“, der Häufigkeit, nach der sie heute in Antiquariaten angetroffen werden kann, eine relativ hohe Verbreitung. Harling gibt als Referenz für seine Neubearbeitung der Hemanschen Originalausgabe von 1908 die Werke „Die neueste Geschichte des Jüdischen Volkes“ von S. Dubnow sowie „Der Kampf um das Heilige Land“ von Wolfgang Weisl an. Als wohl typisch für jene Zeit ist folgender Satz aus von Harlings Vorwort zu bewerten: „Doch können ja auch die besten jüdischen Darstellungen den Wert einer christlichen Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes nicht aufheben; und für sie war uns in Heman der rechte Meister gegeben.

Glossar:

Adrianopel == heute: Edirne

Jakob Berab == (1474-1546); Talmudgelehrter; führte nach seiner Vertreibung von 1492 ein Wanderleben; Gründer einer Jeschiwa in Safed, Autor von Streitschriften, Glossen, Responsen u.a.

Christum == Vierter Fall (Akkusativ) von Christus; früher gebräuchlich.

Divan == „Sammlung“; oriental. Herrschersitz; Kombination von oberstem Gericht und Ministerrat.

Esdras Edzard == auch: Edzardus, (1629-1708); deutscher Orientalist und selbst ernannter Judenmissionar; seine missionarischen  Tätigkeiten führten nicht selten zu Konflikten mit Hamburger Juden; die von ihm gegründete „Proselytenanstalt“ existiert heute noch.

Hekim Baschi == Leibarzt des Sultans, erster Arzt des Türkischen Reiches

Karäer == „Leute der heiligen Schrift“; jüdische Sondergemeinde, im 8. Jh. entstanden, zunächst nur im Orient, später auch auf der Krim, in Litauen, Polen, Israel.

Joseph Karo == (1488-1575); Kodifikator des jüd. Religionsgesetzes und Kabbalist; Hauptwerke: „Beth Joseph“, Kommentar zu „Arba Turim“, „Schulchan Aruch“.

Ahmed Köprili == Köprülü, (1635/36-1676); Großwesir des Sultans aus osman. Geschlecht mit albanischen Wurzeln; erfolgreicher Heerführer gegen Österreich und Polen.   

Isaak (ben Salomo Aschkenasi) Luria == (1534-1572); Kabbalist, der die Kabbala grundlegend neu interpretierte.

Minoriten == ein Zweig des Franziskanerordens; als eigener Orden päpstlich anerkannt.

Salomo Molcho == (um 1500-1532); Marrane, Kabbalist, „messianischer Schwärmer“; von der „heiligen“ Inquisition verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Murad II. == (1609-1640); Sultan; ließ im Zeitraum 1632-1637 an die 25 000 Menschen hinrichten, deren Vermögen er sich bemächtigte. 

Heinrich Oldenburg == Henry Oldenburg, (1618-1677); Diplomat und Naturphilosoph; langjähriger Sekretär der Londoner Royal Society; sein Vater, Heinrich O. war Lehrer in Bremen und Professor an der Universität von Dorpat gewesen.

Raphael Joseph Chelebi == Celebi; Kämmerer des ägyptischen Vizekönigs, Münzmeister und Aufseher über sämtliche Bankaktivitäten, wohlhabender und angesehener Jude im Saloniki des 17. Jh.; unterstützte die Anhänger Isaak Lurias

Selim I. == „Der Grausame“, (1467/1470-1520); Sultan, Begründer der Vormachtstellung des Osman. Reiches; unterwarf Syrien, Libanon, Palästina, Ägypten.

Simon ben Jochai == bedeutender Gelehrter und Lehrer der Halacha der nachhadrianischen Zeit in Galiläa.

Sohar == „Lichtglanz“, Zohar; Hauptwerk der Kabbala; anonym von Mose de Leon um 1300 verbreitet und dem Simon Ben Jochaj (2. Jh. n. d. Zr.) zugeschrieben; Erstdrucke stammen von 1558-1560.

Spinoza, Baruch de == (1632-1677); niederländ.-jüdischer Philosoph, Hauptwerk: „Ethik. Nach geometr. Methode dargestellt“; besonders in Deutschland fand sein Gedankengut Anklang (Leibniz, Lessing, M. Mendelssohn, Jacobi, Goethe, Fichte, Herder, Schleiermacher, Schelling u.a.).

Süleiman II. == (1642-1691); Sultan.

Joseph Taytasak == auch Taitazak, (16. Jh.); Talmudist, ab etwa 1520 herausragender Lehrer und halachische Autorität in Saloniki.

Vital, Chajim Calabrese == (1543-1620); Rabbiner, Kabbalist, bedeutendster Schüler Isaak Lurias; Hauptwerk: „Baum des Lebens“.

Literatur und Internetquellen:

Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung, 5 Bde., Tübingen 1910, Stichwort: „Heman, Friedrich Karl“.
http://www.kirchenlexikon.de/h/heman_j_f_c.shtml
http://de.wikipedia.org/wiki/Endlösung_der_Judenfrage
http://www.spiegel.de/lexikon/57199915.html
http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/vjw/Turkey.html
http://tr.wikipedia.org/wiki/Yahudi
http://tr.wikipedia.org/wiki/Türkiye’de_Yahudilik
http://tr.wikipedia.org/wiki/Sabetay_Sevi
http://www.yenivatan.com/Geschichte-der-tuerkischen-Jud.35.0.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Türkische_Juden
https://www.hagalil.com/europa/tuerkei.htm
http://www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-478/_nr-910/i.html
http://www.perlentaucher.de/buch/30529.html
http://en.wikipedia.org/wiki/History_of_the_Jews_in_Turkey
http://en.wikipedia.org/wiki/Jewish_Museum_of_Turkey
http://www.haruth.com/jw/JewsTurkey.html
http://www.turkeytravelplanner.com/special/jewish/index.html
http://www.theworld.org/2010/06/03/turkeys-jews/
http://www.jpost.com/JewishWorld/JewishNews/Article.aspx?id=177341
http://www.google.de/images?hl=de&q=jews+turkey&um=1&ie=UTF-8&source=univ&ei=mAEWTKODAYebOPiqla8M&sa=X&oi=image_result_group&ct=title&resnum=11&ved=0CGkQsAQwCg
http://www.youtube.com/watch?v=3TWPL1SB9ls&NR=1
http://www.youtube.com/watch?v=t29fgtOOfAo&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=maWpV0y-ZTQ&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=XisbVcIyPgk
http://www.youtube.com/watch?v=UO4XE_XsDps
http://www.youtube.com/watch?v=8REepsqhAHM&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=WyuSTIwL1RI&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=2VclC-bgt80&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=Cg2J6K9dFUc&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=A4BJ-nond6E&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=EdDZFetD30I&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=qAE50V5S3cE&feature=related