Werden nur die Opfer beleidigt?

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Immer noch trifft man die Ansicht, Antisemitismus und seine Bekämpfung sei Sache der Juden. Wir hören und lesen oft, ein antisemitischer Spruch könnte die Überlebenden des Holocaust oder deren Nachkommen kränken. Das ist zwar wahr, genügt aber nicht, denn es könnte dadurch der Eindruck entstehen, der wichtigste Grund warum man gegen Antisemitismus Stellung nimmt sei die Empfindlichkeit der Opfer und nicht weil Antisemitismus destruktiv ist und der Gesellschaft schadet. Nicht überraschend ist es, wenn solche Meinungen in Ungarn – oft genug nicht durchdacht oder sogar gutwillig – geäußert werden…

Von Karl Pfeifer*

Die Wahlen in Ungarn haben der teilweise völkischen Fidesz die zwei Drittel Mehrheit im Parlament und 16.67 Prozent für die national-sozialistische Jobbik gebracht. Wer gehofft hat, dass die neue Partei LMP (eine andere Politik ist möglich), die aus dem Stand 7,44 % der Stimmen errang und in Budapest mehr Wähler mobilisieren konnte als Jobbik entsprechend ihren Vorankündigungen einen konsequenten Standpunkt gegenüber Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus einnehmen wird, der wurde in einer Hinsicht enttäuscht.

András Schiffer Fraktionsvorsitzender  der LMP reagierte auf den Skandal, um das vom Jobbik-Vorsitzenden Gábor Vona bei der Vereidigung im Parlament getragenen Leibchen der Ungarischen Garde so: „Die LMP findet es problematisch, dass Gábor Vona mit dem Tragen des Garde-Leibchen einen solchen Verein popularisiert, der vom Gericht wegen des Schutzes der Rechte von anderen, ihrer Freiheit und ihrer Würde aufgelöst wurde; diese Gesten des Jobbik-Politikers kann den Opfern [Beleidigten] Schmerz verursachen.“ Schiffer betonte: „in dieser Frage hat der Präsident der Republik haargenau Stellung genommen, die Pflicht eines jeden Abgeordneten ist es, die Rechtsvorschriften einzuhalten und die Gerichtsurteile zu respektieren.“

Die Berufung des Fraktionschefs auf [Präsident] László Sólyom ist nicht zufällig. Denn beide haben nicht nur eine lange gemeinsame Vergangenheit, sondern vertreten auch seit geraumer Zeit die gleichen Ansichten.

Bereits 2007 am ersten Tag der Herbstsitzung des Parlaments sagte László Sólyom: „Ich erkenne an und nehme unter meinen Schutz diejenigen, die Zielpunkte und Opfer der rassistischen Diskriminierung und Verfolgung waren, die zum Tod bestimmt wurden, die aus der Nation herausgeschleudert und aus dem Land verschleppt wurden.
Ich werde vor der Angst der Holocaustüberlebenden stumm: da wäre es sinnlos rationale Argumente zu bringen, anzumerken, dass die historischen Umstände sich geändert haben, dass keine Gefahr besteht. […] Dass sie
[Jobbik] aus Achtung vor den Toten und den Schmerz der Überlebenden nicht die Árpádfahne [die auch von den Pfeilkreuzlern gebraucht wurde] als Symbol wählen sollen. Wer so seine Opposition ausdrücken will, oder dem für sein Ungarntum die nationale Fahne nicht genügt! Der sollen menschlich sein und daran denken, was er damit verursacht.“
Der Präsident der Republik sprach so, als ob das Schwenken der Arpadfahne lediglich die Juden berühren und bei nichtjüdischen Ungarn keine Angst und keine Empörung auslösen würde und bestärkte damit gerade Jobbik so weiterzumachen, wie bisher.

Und noch ein Zitat aus einem Artikel der Publizistin Zsófia Miháncsik Magyar Narancs (2009-07-23) zum Beweis, dass die seit der Wende [1990] willkürliche und doktrinär wiederholte Konzeption „es gibt keine Gefahr” , entscheidend dazu beigetragen hat, dass Gábor Vona und seine Partei heute im Parlament sitzen: Während [Schiffers] jahrzehntelanger TASZ-Aktivität führte er im Sinne von László Sólyom einen hartnäckigen Kampf für die absolute Freiheit der rassistischen-antisemitischen Rede und hat alles dafür getan, dass jede Polizeiaktion in diesem Sinne vor einer großen Öffentlichkeit in kleine Stücke gerissen wird.“ […] Diese sündhafte Unverantwortlichkeit, dieser die rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Diktion verteidigende, ihre strafrechtliche Unbegrenztheit bekennende und erzwingende Juristerei, hat zur Konsequenz, dass man mit dem Versprechen einer (arischen) Diktatur die auf Rassenhass und „reines Ungarntum“ aufbauende Infrastruktur schaffen konnte. […] So entstand – von niemandem gestört – nicht nur eine politische Partei, sondern auch eine paramilitärische Bewegung, eine Masse von Fernsehen, Zeitungen und Websites, ein ‚kulturelles’ Netz, mit Orchestern, Veranstaltungen, Buchverlagen, beispiellos aktive und hemmungslosen Sympathisantenlager und mehr als tragische politische Verbindungen mit dem Ausland und deren Finanzquellen. (siehe den Artikel von György Lázár über die Verbindungen von Jobbik zum Iran und Islamisten,  Élet és Irodalom 26. Juni 2009  http://www.es.hu/index.php?view=doc;23303)

Sólyom und Schiffer haben ihren Standpunkt seitdem nicht öffentlich überprüft. Obwohl es so scheint, dass sie heute schon die strafrechtlichen Sanktionen für Hetzreden akzeptieren würden. Dass es wirklich nur so scheint, beweist der zitierte Ausspruch des Fraktionschefs von LMP: der noch heute nicht begreift, dass Antisemitismus nicht Sache der Juden, Antiziganismus nicht Sache der Zigeuner ist, dass die „Gesten des Jobbik-Politikers“ nicht nur „den Opfern Schmerz verursachen“, sondern jedem Ungarn, der über gesunden Verstand und Moral sowie minimale Geschichtskenntnis verfügt.

Die Verharmlosung der Gefahren, die durch die rassistische und antisemitische Jobbik der ungarischen Demokratie drohen, unterschätzt gerade András Schiffer, der – so wie seine Vorgänger von der liberalen SZDSZ – vielleicht glaubt,  wegen seiner Haltung nicht zum Zielpunkt der antisemitischen Hetze von Jobbik zu werden.

* Siehe auch Zsófia Miháncsik A zsák és a folt – még egyszer Schiffer András mondatáról, 2010-05-16  http://galamus.hu/index.php?option=com_content&view=article&id=10187