Reise durch die Mauer: Meine Begegnungen mit Palästinensern und Israelis

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»Genug geredet. Es ist Zeit, zu handeln«, schrieb Gideon Levy im September 2008. »Nach 15 Jahren Verhandlungen und endlosen Friedensplänen ist nichts ungesagt oder undiskutiert geblieben«, so der israelische Journalist. Zu viel wertvolle Zeit sei von Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verschwendet worden: »Die Besatzung und der palästinensische Terror sind unterdessen immer gnadenloser und brutaler geworden.«…

Alexandra Senfft in „Fremder Feind, so nah

Levy forderte seine Regierung auf, sich rasch auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen und die Flüchtlingsfrage im Austausch für Frieden zu lösen. Im Nahen Osten sei nichts gefährlicher als eine weitere Runde gescheiterter Verhandlungen – nun seien Taten gefragt.

Genau drei Monate nach Levys Appell erfolgten Taten: Die israelische Luftwaffe führte eine Großoffensive gegen die islamistische Bewegung Hamas im Gazastreifen, um sich gegen die fortgesetzten Raketenangriffe auf Süd-Israel zu wehren. Letztendlich traf sie dabei aber vor allem die Zivilbevölkerung. Rund 1400 Palästinenser kamen ums Leben, 5000 wurden verletzt und über 3000 Gebäude zerbombt. Die materiellen Zerstörungen sind bis zum heutigen Tag nicht beseitigt, von den psychologischen Folgen ganz zu schweigen.

Die Israelis zogen aus der Gesamtentwicklung und ihrem Mangel an Vertrauen in die Gegenseite ihre Konsequenzen und wählten am 10. Februar 2009 eine stark rechtsgerichtete Regierung, die gegenüber den Palästinensern, auch im eigenen Land, äußerste Härte demonstriert. Die palästinensische Führung ist derweil tief gespalten und scheint die jahrelange israelische Behauptung, es gebe keinen palästinensischen Verhandlungspartner, allmählich in eine sich selbsterfüllende Prophezeiung zu verwandeln. Bleiben, nachdem alles gesagt und ausgehandelt ist, am Ende nur Raketen und Bomben? Ist der Frieden zwischen Palästinensern und Israelis eine Utopie? (…)

Von einigen der zahlreichen Dialoge zwischen Palästinensern und Israelis außerhalb der parlamentarischen Politik handelt das Buch „Fremder Feind, so nah„. Die Idee dazu entstand während eines dreijährigen internationalen Trainingsseminars mit dem israelischen Psychologen Dan Bar-On, seiner Kollegin Tal Litvak-Hirsch und der Frankfurter Soziologin Lena Inowlocki von 2006 bis 2008 in der Hamburger Körber-Stiftung. Bei »Storytelling in Conflict« ging es darum, durch das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte und durch einen eigenen inneren Dialog einen Dialog mit der verfeindeten Gegenseite zu beginnen. Ich habe von Dan Bar-On viel gelernt: über die Vielschichtigkeit von Identitäten, über Kommunikation, über die Dynamik von aktuellen Konflikten und Post-Konflikt-Situationen sowie über Konfliktmanagement. Er starb knapp 70-jährig am 4. September 2008 in Tel Aviv an seinem Krebsleiden. Den Gazakrieg, der all seinen Vorstellungen zuwiderlief, hat er nicht mehr erleben müssen.

(…)

Ich erwähne diese Zusammenhänge, um meinen Standort als Autorin zu benennen. Deshalb habe ich auch die »Ich-Form« gewählt, anstatt in einem distanzierten und scheinbar neutralen Stil zu schreiben, der den Eindruck erwecken könnte, ich legte hier empirisch erforschte »Wahrheiten« nieder. Ich will damit zugleich die Grenzen der in diesem Buch dargelegten Sichtweisen und Interpretationen deutlich machen. Die israelische Gesellschaft besteht aus vielen verschiedenen, oft nicht miteinander korrespondierenden Strömungen: europäisch und westlich geprägten Juden, Juden aus arabischen und muslimischen Ländern, Juden aus Osteuropa, Russen, Äthiopier, säkulare, orthodoxe oder ultra-orthodoxe Juden und andere. Auch unter den Palästinensern gibt es die unterschiedlichsten Prägungen: Christen und Muslime, gläubige, säkulare, »fundamentalistische«, moderne und traditionelle Menschen im Gazastreifen, in der Westbank, in Israel und im Exil. Sie alle leben mit unterschiedlichen Erfahrungen, Werten und Normen. Jede ihrer Lebensgeschichten verwebt die Vergangenheit mit der Gegenwart und die persönlichen Erfahrungen mit den kollektiven.

Das gilt auch für die in diesem Buch porträtierten, sehr verschiedenen Persönlichkeiten. Sie spiegeln freilich nur einen Bruchteil der sehr komplexen und partikularisierten Gesellschaften auf beiden Seiten des Konflikts wider. Ich habe sie ausgewählt, weil sie an verschiedenen Orten, in Projekten, Organisationen, Initiativen oder privat Wege für sich gefunden haben, für Verständigung zu arbeiten. Ihre Dialoge überwinden verschiedene Grenzen: die persönlichen, die, die innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften bestehen, und die Waffenstillstandslinie von 1949, die »Grüne Linie« zwischen Israel und Palästina. Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh sagt: »Vernünftige Menschen finden immer leicht einen Kompromiss, wenn ihnen die wichtigsten Anliegen der anderen Seite bewusst sind.« Wichtig war mir zudem ein Blick aus der Diaspora oder dem Exil, weshalb ich auch engagierte Menschen in London vorstelle. Zugleich habe ich noch eine weitere Dialogebene einbezogen: die zwischen mir und meinen Protagonisten. Das Buch endet in Berlin mit dem Theaterstück »Dritte Generation«, was einer weiteren Standortbestimmung gleichkommt.

Dialoge und Dialogprojekte zwischen Israelis und Palästinensern gibt es zwar zahlreiche, doch die wirklich konstruktiven und dauerhaften finden paritätisch, ohne Gönnerhaftigkeit, auf Augenhöhe statt. »Frieden ist nur möglich, wenn zwischen uns, den Israelis, und den Palästinensern Gleichberechtigung besteht«, sagte Dan Bar-On, kurz vor seinem Tod über seine Dialogerfahrungen befragt. »Wir haben eine dominante Haltung gegenüber den Palästinensern, die Machtverhältnisse sind asymmetrisch. Zugleich haben wir aber auch Angst, dass die Palästinenser die Nachfolger derer sein könnten, die uns in Europa verfolgt haben. Es bestehen zwei gegensätzliche Ungleichheiten: das physische Ungleichgewicht am Ort, unsere Kontrolle über die Palästinenser; und das zweite Ungleichgewicht, unsere Angst vor ihnen. Wenn man diese beiden Missverhältnisse nicht begreift, kann man auch nicht verstehen, warum dieser Konflikt kein Ende nimmt.« Der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten ist kompliziert, weil verschiedene historische und politische Entwicklungen sowie religiöse und ethnische Strömungen gegeneinander zu arbeiten scheinen. Der Holocaust, die Naqba (die Vertreibung der Palästinenser), der Zionismus und der palästinensische Nationalismus, die muslimischen Staaten und westliche Interessen, Öl und Erdgas, Religionen, Traditionen, ethnische, soziale und kulturelle Unterschiede, Antisemitismus, Islamphobie, Rassismus, muslimischer und jüdischer Extremismus und Terrorismus, der Kampf um Ressourcen und Land, hegemoniale Ansprüche und viele andere Faktoren spielen eine Rolle. Diese Situation schafft die unterschiedlichsten Dialogebenen, Allianzen und Feindschaften. Weil auch die deutsche und europäische Vergangenheit und Gegenwart mit dieser umkämpften Region eng verknüpft ist, beschäftigt uns der Nahostkonflikt mehr als die meisten anderen Konflikte in der Welt, obwohl es weitaus grausamere Auseinandersetzungen als die zwischen Palästinensern und Israelis gibt.

Je mehr man von der Komplexität begreift, umso verwirrender kann die Beschäftigung mit diesem Thema sein. Es verleitet dazu, nach Eindeutigkeit zu suchen und zu polarisieren. Diese leider nicht seltene Haltung ist jedoch kontraproduktiv und selbst Teil des Problems. Erst, wenn wir erkennen, dass es keine einfachen Lösungen und nicht auf jede Frage Antworten gibt, wenn wir lernen, die Ambivalenzen und Spannungen zuzulassen und auszuhalten, können wir dem Nahostkonflikt und den in ihm gefangenen Menschen angemessen begegnen und ihnen gerecht werden.

Gekürzter Auszug aus: Alexandra Senfft: Fremder Feind, so nah
Begegnungen mit Palästinensern und Israelis mit Fotografien von Judah Passow
© edition Körber-Stiftung, Hamburg 2009

Im Andenken an Dan Bar-On und Haidar Abdel-Shafi

1 Kommentar

  1. „Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh sagt: »Vernünftige Menschen finden immer leicht einen Kompromiss, wenn ihnen die wichtigsten Anliegen der anderen Seite bewusst sind.«“

    Der erste Schritt für Gespräche ist allerdings meistens der, zunächst einmal die Gesetze einzuhalten. In diesem Fall zählte nicht das Israelische Gesetz, sondern die UN – Resolutionen.

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