Amira Hass: Auf Augenhöhe

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Es ist die Journalistin Amira Hass, die für die liberale israelische Tageszeitung »Ha’aretz« schreibt. Als sie 1991 nach dem Golfkrieg als einzige Jüdin nach Gaza zog, um von dort aus zu berichten, wohnte sie die ersten Tage bei mir. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt bereits ein Jahr als Pressesprecherin der UN im Gazastreifen gearbeitet…

Alexandra Senfft
in [Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis]

Die israelische Journalistin Amira Hass lebt und arbeitet in den palästinensischen Gebieten

Amira hat ein Standardwerk über ihre Zeit in Gaza und andere Bücher geschrieben. Unermüdlich berichtet sie detailgenau über die Folgen der Besatzung, über Repressionen und die militärischen Absperrungen, aber auch über Machtmissbrauch und Korruption auf palästinensischer Seite und über die Zusammenarbeit zwischen den israelischen und palästinensischen Behörden, die sich oft doppelt belastend auf die Bevölkerung auswirkt. »Ich beobachte aus nächster Nähe die Politik von Besatzung und Kolonisierung und wie sich diese sui generis in ein System von Apartheid entwickelt hat«, beschreibt die Journalistin ihre Arbeit. Für viele Israelis ist sie »zu ideologisch« und zu unbequem, denn sie schreibt über Dinge, die man lieber verdrängt.

Kurz darauf holt Amira mich mit dem Wagen ab. (…) Vorsichtig fragt Amira, ob ich Interesse hätte, mir mit ihr die Situation am Ort anzusehen, solange wir noch ein bisschen Tageslicht hätten – es sei wichtig für sie, dass ich verstünde, was hier geschehe. Ich bin sehr froh über das Angebot und habe nur nicht darum zu bitten gewagt, weil ich weiß, wie beschäftigt meine Freundin immer ist.

Wir verlassen den zentralen Bereich Ramallahs, das geschäftige Treiben liegt hinter uns. Einige Straßenzüge wirken wie ausgestorben – nur hier oder dort ein gebückter Greis mit Kuffieh, der arabischen Kopfbedeckung, ein paar Kinder auf rostigen Fahrrädern und wilde Hunde auf Futtersuche. Die Absperrungen und »Sicherheitsstraßen« des israelischen Militärs haben dazu geführt, dass viele Bewohner in Sackgassen leben, weil ihre Straßen blockiert wurden und abrupt an einem Hindernis enden. Um von Punkt A nach Punkt B zu gelangen, die mitunter direkt nebeneinander liegen, müssen sie kilometerlange Umwege fahren, manchmal Stunden. Es ist nicht nur die Menschenleere, die auffällt, sondern auch die resignierte Stimmung. Amira bezeichnet Ramallah als »Fünf-Sterne-Gefängnis«, weil sich in dieser Stadt das gesamte politische, ökonomische, kulturelle und gesellschaftliche Leben der Westbank ballt. Es gibt Restaurants, Konzerthallen, Galerien und viele kulturelle Angebote. Die meisten Bewohner können sich jedoch nicht frei bewegen: Immerzu ist da dieses Gefühl, von Kontrollpunkten, militärischen Sicherheitsstraßen und Siedlungen umzingelt zu sein. Der Weg nach Jerusalem ist vollkommen gesperrt und nur für jene mit speziellen Genehmigungen passierbar.

(…)

Rattengrau frisst die »Trennmauer« sich durch das hügelige Westjordanland. Sie halbiert oder viertelt Gemeinden und parzelliert kostbare landwirtschaftliche Flächen, die die Bauern deshalb oft nicht mehr nutzen können. Die nackte Betonfront, stellenweise bis zu acht Meter hoch, und elektronische Stacheldrahtzäune sollen die Palästinenser daran hindern, nach Israel einzudringen.

420 Kilometer der Mauer hat die israelische Regierung bereits fertigstellen lassen, und das sind nur knapp 60 Prozent der geplanten Gesamtlänge. (…) Für die Palästinenser ist der deprimierende Koloss eine »Apartheidmauer«. Aus israelischer Sicht soll der »Sicherheitszaun« Selbstmordattentäter fernhalten.

Kritiker indes sprechen von einer Ghettoisierung beider Gesellschaften, und nur die Optimisten sehen in der Mauer die künftige Grenze zwischen beiden Staaten.

»Dialog ist für mich ein leeres Wort«, sagt Amira mit der für sie typischen Entschlossenheit: »›Dialog‹, ebenso wie ›Frieden‹ oder ›Versöhnung‹.« Diese Begriffe seien in den vergangenen 15 Jahren inflationär und sinnentleert gebraucht worden – politische Schlagworte. Und trotzdem habe sich nichts zum Guten gewendet, ganz im Gegenteil. »Ein Dialog ist es nur, wenn es Grundlage und Ziel des Gesprächs ist, die Besatzung zu beenden«, betont Amira.

(…)

Als der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago während eines Besuches von Schriftstellern 2002 in der Westbank die Lage in Ramallah mit Auschwitz verglich, erwiderte ihm die mitreisende Amira zornig: »Wenn das so ist, wo, bitte schön, befinden sich dann die Gaskammern?« Vergleiche dieser Art lässt sie nicht unwidersprochen, und subtile Antisemitismen spürt sie sofort. »Seine Klischees über ›Auschwitz‹ und seine plakativen Urteile erschüttern nicht auf eine Weise, die den Menschen die Augen öffnet. Vielmehr bestätigen sie nur die Auffassung der gegenüber der Realität so widerspenstigen Israelis, sie seien diejenigen, die verfolgt würden, die Kritiker der kolonialistischen israelischen Besatzung dagegen seien Antisemiten«, so die Journalistin. Die Redakteure ihrer Zeitung strichen in ihrer Berichterstattung über den Besuch der Mitglieder des »Internationalen Parlaments der Schriftsteller« den letzten Satz: »Heute werden die Mitglieder der Delegation im Gaza-Streifen herumreisen, wo die Zeichen der Zerstörung und Belagerung viel klarer zu erkennen sind als in Ramallah. Die Frage lautet: Welche Metapher und welches Vergleichsobjekt wird Saramago heute verwenden?«

Viele Israelis interessiere »die nazideutsche Mordindustrie« nicht mehr, sagt Amira, zugleich werde der Holocaust allzu oft von den Politikern propagandistisch missbraucht. Für sie indes sei er eine tägliche Realität. Sie erzählt mir, wie ein Mizrahi (ein israelischer Jude aus einem arabisch-islamischen Land) ihren Vater auf einer Demonstration gegen die israelische Besatzung einst anpöbelte: So einen wie ihn hätte man in Auschwitz vernichten sollen! Amira schenkt mir das Buch ihrer Mutter, das 1982 unter dem Titel »Vielleicht war das alles erst der Anfang« auf Deutsch erschienen ist, und schreibt hinein: »Für Alex – das tragische Dreieck bringt auch schöne Freundschaften hervor«. (…)

Gekürzter Auszug aus: Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis
Im Fokus ihrer Berichte steht das, was Bar-On als das „Spannungsdreieck“ – Palästinenser, Juden/Israelis, Deutsche – bezeichnet hatte. Mit ihrem intellektuellen und beruflichen Hintergrund begab sich Alexandra Senfft auf den Weg nach Israel, in die Besetzten Gebiete, nach London und Berlin, um mit Menschen zu sprechen, die sich für eine Verständigung mit dem feindlichen Gegenüber einsetzen…

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1 Kommentar

  1. Herzlichen Dank und große Anerkennung dafür, dass HaGalil diese spannende und tiefgründige Reportage weiter gibt. Hätten wir nur mehr solche profunden Beiträge, dann wäre der Friedensprozess im Nahen Osten schon weiter. Dass wir von Deutschland aus einen kleinen Beitrag dazu leisten können, stimmt dankbar. Als langjähriger Freund Israels (15, zum Teil längere, Aufenthalte in Israel, auch während der letzten Intifada) freue ich mich über eine solche differenzierte Berichterstattung. Danke an HaGalil!
    Uwe Koch, Magdeburg

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