Zur Psychologie des Terrors im totalitären System der DDR

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Bereits 1946, kurz nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald, schrieb Ernst Federn: „Doch bin ich überzeugt, dass letzten Endes Verstand und wahrhaftige Gesinnung  sich durchsetzen  und meine Erfahrungen, die ich  hier niedergeschrieben habe, von Nutzen sein können. Ist doch die menschliche Natur ein dauernder Kampf mit unseren  ursprünglichen Trieben, und, wie Freud gezeigt hat, muß man diese  wissenschaftlich zu verstehen suchen…“

Von Sieglinde Eva Tömmel

Ernst Federns spezifische Wahrnehmung des Terrors  im Nationalsozialismus so wie sein theoretischer Beitrag  zu dessen Verständnis bildet die Voraussetzung zu den folgenden Ausführungen.

Bereits 1946, kurz nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald, schrieb Ernst Federn:

Doch bin ich überzeugt, dass letzten Endes Verstand und wahrhaftige Gesinnung  sich durchsetzen  und meine Erfahrungen, die ich  hier niedergeschrieben habe, von Nutzen sein können. Ist doch die menschliche Natur ein dauernder Kampf mit unseren  ursprünglichen Trieben, und, wie Freud gezeigt hat, muß man diese  wissenschaftlich zu verstehen suchen. Er hatte damit nur von neuem bestätigt, was große Religionsstifter  und Philosophen vor ihm schon gesagt haben. Eben weil der Mensch eine besonders bösartige  Spezies ist, ist es so wichtig zu erkennen, daß er aber auch die Fähigkeit besitzt, seine „Bestialität“ zu überwinden  und die ursprünglichen Triebe  zu kulturvollem Tun umzugestalten.
(Ernst Federn, Versuch einer Psychologie  des Terrors, 1946/ 1989, S. 37).

Und weiter schreibt Federn, „dass es den Individuen und Gesellschaften, die  von ihren  atavistischen Trieben und ihrer Gewalt Kenntnis besitzen, zweifellos  leichter fallen wird, diese Triebe zu besiegen und  sie in etwas umzuwandeln, was kulturellen Nutzen stiftet. Insofern sei es  wichtig, in den schrecklichen Geschehnissen nicht nur  blindes Wüten unbekannter Mächte zu sehen,  sondern notwendige Folgen von psychischen und sozialen Bedingungen“ (ebda).

Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde Deutschland in vier Zonen aufgeteilt: in die amerikanische, die britische, die französische und die sowjetisch besetzte Zone. Im Rahmen der drei erstgenannten Zonen wurde versucht, demokratisches Bewusstsein zu  wecken. Heute, fast 60 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, lässt sich formulieren, dass dies in hohem Maße gelungen ist. Ich persönlich glaube nicht, dass Deutschland derzeit von rechtsradikalen Kräften in der Substanz bedroht ist, wenngleich die letzten Umfragen zur Wahl im Osten Deutschlands nicht nur optimistisch stimmen können (vgl. Tömmel 2002).

In der sowjetisch besetzten Zone, später der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), entstand nicht lange nach Kriegsende ein neuer totalitärer Staat, begleitet von neuem Terror, dieses Mal legitimiert von einer linken Ideologie. Erst schleichend, dann mit den Jahren immer deutlicher, überzog  subtiler und vor allem psychologisch geschickt inszenierter Terror die DDR.

Mit anderen Autoren kann man sagen, dass „charakteristisch für die DDR wie die anderen Staaten des Ostblocks .. eine sozialistische Parteidiktatur (war), deren Herrschaft nicht durch  freie Wahlen legitimiert, sondern die Gesellschaft durch die systematische  Verletzung  von Menschenrechten und die zentrale Lenkung und Überwachung der Wirtschaft und fast aller Lebensbereiche des Einzelnen charakterisiert war. … Das Alltagsleben  der Bürger war durch eine umfassende politisch-ideologische Beeinflussung  und die Verfolgung von politisch Andersdenkenden gekennzeichnet“ (Kerz-Rühling, Plänkers & Fischer 2000, S. 38).

Aus guten Gründen hat es lange gedauert, bis in Westdeutschland der Mut gefunden wurde, die Diktaturen Hitlers und Stalins zwar nicht gleich zu setzen, aber doch einen Vergleich zu wagen: Hannah Arendt, deutsche Jüdin,  Schülerin des nicht unumstrittenen Martin Heidegger und Doktorandin des unbestechlich aufrechten Philosophen Karl Jaspers, konnte dies allerdings bereits in den 50er Jahren tun.

In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 1951 in englischer Sprache in New York erschienen, in deutscher Übersetzung 1955, hat sie sowohl eine Geschichte  als auch eine Theorie des Totalitarismus geschrieben. Besonders beeindruckend sind ihre Ausführungen über die eigentümliche  und zunächst überraschende Strukturlosigkeit totaler Regierungen. Mit Hannah Arendts Beobachtungen und theoretischen Schlüssen wurde der bis dahin fast selbstverständlich vorherrschende Eindruck des monolithischen Charakters totalitärer Herrschaft gründlich erschüttert.

Das Nebeneinander von alten und eilig neu geschaffenen Herrschaftsinstrumentarien bediente gleichzeitig  mehrere  Bedürfnisse: das nach unbeschränkter und unkontrollierbarer Machtausübung, nach Aufrechterhaltung alter Legitimationsinstanzen, welche die Bevölkerung täuschen sollte über den wahren Charakter der totalitären Herrschaft, und, nicht zuletzt,  nach Terror zur Abschreckung der Bevölkerung.

So schreibt Hannah Arendt: „Betrachtet man nun diesen Herrschaftsapparat wirklich nur als ein Machtinstrument und lässt man alle Fragen  verwaltungsmäßiger, industrieller und wirtschaftlicher  Kapazitäten beiseite, so stellt sich heraus, dass seine „Strukturlosigkeit“ sich vorzüglich dazu eignet, das zu verwirklichen, was die Nazis das Führerprinzip nannten. Die dauernde Konkurrenz von Instanzen, deren Funktionen sich nicht nur überschneiden, sondern die mit der gleichen Aufgabe betraut sind, macht  Opposition oder Sabotage nahezu unmöglich“(Arendt, 1951, S.841).

Wenn unklar ist, wer wann wie aus welchen Gründen die Macht verlieren oder gewinnen kann,  wer sich aufgrund irgendeines Anliegens an wen wenden kann, dann wird Verwirrung zum Alltag und  jede Opposition unmöglich.

1966 fügte Hannah Arendt zu ihrem Kapitel Totale Herrschaft ein neues Vorwort hinzu, in dem sie auf  die Bolschewisierung der Satelliten hinweist  und beschreibt, wie die Einparteiendiktaturen in diesen Ländern  errichtet wurden  (Vgl. auch Kerz- Rühling et. al. 2000, S. 38). De facto unterschieden sich diese nicht von ihrem Ursprungsland, wenngleich es einige nationale Besonderheiten gab.

Die sich entwickelnde DDR übernahm bald – getreu ihrem Vorbild  Sowjetunion – die dort vorherrschende  Struktur der Strukturlosigkeit. Der SED – Parteiapparat existierte stets neben dem Staatsapparat; daneben gab es den Geheimdienst, dessen Funktionen unklar waren. Daraus ergab sich für die Bevölkerung Undurchsichtigkeit und ein Mangel an Kontrollmöglichkeiten, die keinerlei  Souveränität des Volkes zuließen. So gab es keine Instanz, die wegen einer Klage, einer Beschwerde, eines Anliegens angesprochen werden konnte.

Nach 1960, insbesondere nach dem Bau der Mauer 1961,  kann man von der DDR als einem „posttotalitären System“ sprechen, das aber keineswegs für seine Oppositionellen harmloser war als zuvor. Zwar gab es nun „Nischen“. Die Kontrolle der Bürger bis hin  zu ihrem Privatleben, das durch und durch durchdrungen sein sollte von Staat und Partei, wurde aufgegeben. Wer aber  Oppositionelles äußerte, gar gehen wollte, bei der Flucht erwischt wurde, riskierte Gefängnis, Degradierung und die Wegnahme seiner Kinder.

Im Folgenden werde ich einen Ausschnitt aus dem Leben einer Patientin erzählen, die einen  großen Teil ihres Lebens in der DDR verbrachte. Sie suchte erst nach der Wende 1989 eine Psychotherapie auf, obgleich sie schon lange  in der Bundesrepublik Deutschland lebte.

Nach meiner Beobachtung kann man in manchen Lebensgeschichten beobachten, dass sich die erlittenen Traumata verselbständigen: man gewinnt den Eindruck, dass die Person zur Funktion des Traumas wird, welches das gesamte Leben, das Denken, das Phantasieren und ( falls diese noch möglich ist) die Arbeit bestimmt. In allen Fällen, die mir bekannt sind, zerstörte die mit dem psychischen Terror verbundene Traumatisierung nicht nur die Lebensqualität der Personen, sondern richtete auch  in den folgenden Generationen großes Unglück an.

Nach einer nicht einfachen Kindheit wurde Vera Mangold, Tochter aus einer Arbeiterfamilie, 1947 in Halle geboren, aus der Bahn geworfen, als sie zu erkennen glaubte, dass die DDR sich in ihren Methoden, ihre Interessen durchzusetzen, kaum vom überwunden geglaubten nationalsozialistischen  Regime der Vergangenheit unterschied: Politisierung aller Lebensbereiche, von klein auf durch Kleiderordnung, Jugendverbände, Partei, Staatspolizei, Sippenhaft, Verfolgung von Andersdenkenden und Allmacht des Staates  und dessen Partei durchgesetzt, sofortige Unterdrückung  und Diskriminierung sogar der Angehörigen  bei bloßer Äußerung normaler kritischer Worte.

Die jugendliche Vera teilte ihren Eltern irgendwann mit, wie und was sie dachte: ihre Eltern reagierten entsetzt. Die Adoleszente fragte ihre Eltern, was diese in diesem Staat denn noch halte, der ebenso verbrecherisch sei wie das Nazi-Regime. Deren hilflose Reaktion war, Vera solle bloß den Mund halten  und zu keinem ein Wort sagen, sonst kämen alle noch in Schwierigkeiten. Die Reaktion der Tochter war, die Eltern zu verachten. Sie zog sich zurück und wollte fort, weit fort aus dem Elternhaus.

In dieser Zeit wurde Vera langsam immer misstrauischer, weil sie damit rechnen musste, als nicht linientreu eingeschätzt und denunziert zu werden. Sie begann jedem zu misstrauen, den sie nicht gut kannte. Angstgefühle kamen auf und das Gefühl, mit zwei Zungen sprechen zu müssen. Diese Doppelzüngigkeit im Denken und Fühlen, die sie bei vielen Erwachsenen erlebt habe, sei ihr besonders schwer erträglich gewesen.

Sie studierte Romanistik und Slawistik. Es war  Berlin, das sie zu einem endlich ungehorsamen Leben verführte. Sie schloss sich oppositionellen Gruppen an und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben freier. Sie lernte ihren späteren Mann, einen Theologiestudenten, kennen und nahm teil an den kulturellen Möglichkeiten der Hauptstadt der DDR. Ursprünglich hatte sie ihr Sprachenstudium mit dem Ziel für das Lehramt an höheren Schulen  aufgenommen, einen Beruf, dessen Anwärter und Inhaber strengen Überwachungen seitens der DDR- Bürokratie ausgesetzt waren. Bald fiel auf, dass sie aufgrund ihrer politischen und menschlichen Einstellung  für eine solche Tätigkeit in den Augen ihrer Beurteiler nicht in Frage kam. So ging sie zum Dienstleistungsamt für Ausländische Vertretungen in Berlin; sie arbeitete dort als Dolmetscherin in der kongolesischen Botschaft und in der Botschaft Kambodschas. Unter verhältnismäßig günstigen Bedingungen  blieb sie dort von 1970 bis 1974.

Gleichzeitig wurde dem inzwischen verheirateten jungen Paar immer klarer, dass es  sein Geburtsland verlassen wollte. Vera und Michael verkauften unauffällig ihre Bücher, ihre bis dahin gesammelten Antiquitäten, verschenkten ihre Möbel an ihre Freunde.

Vera Mangold, ihr Mann und etliche Freunde versuchten, versteckt in einem Kofferraum von Personenautos über eine angeblich sichere Grenze zu fliehen. Sie  wurden trotz aller konspirativen Vorsorge Anfang April 1974 entdeckt, aufgegriffen, verhaftet und in die Untersuchungshaft  der Staatssicherheit nach Berlin gebracht.

Es gibt zahlreiche Berichte über die Untersuchungshaft der Staatssicherheit; sie ist berüchtigt (z. B. Jürgen Fuchs 1990). Ihr Ziel war, durch Desorientierung  den Widerstand der Verhafteten zu brechen und  damit die Gefangenen zu demoralisieren.

Kam es in den Nachkriegsjahren in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR zu brutalen physischen Misshandlungen der Häftlinge, so wurde im Verlauf  der Jahre darauf zunehmend zugunsten der leisen Methoden des MfS (Ministerium für Sicherheit) verzichtet, die in immer ausgefeilteren  psychischen Zersetzungsmaßnahmen ihren Ausdruck  fanden (Hölter 2003, vgl. auch Behnke und Fuchs 1995).

Im Gegensatz zu früheren und anders strukturierten Diktaturen traten der DDR- Staat und seine Helfer und Helfershelfer nicht offen aggressiv und gewalttätig auf, sondern bedienten sich perfider psychologischer Methoden und einer im Laufe der Jahre immer verlogener sich entwickelnden Ideologie des Realen Sozialismus. Überzeugend hat Vaclav Havel die Natur des posttotalitären Systems im sowjetischen Machtbereich beschrieben, das im Gegensatz zu den klassischen Diktaturen

„…mit seinen Ansprüchen den Menschen fast auf Schritt und Tritt (verfolgt). Es verfolgt ihn freilich in ideologischen Handschuhen. Deshalb ist das Leben  in diesem System von einem Gewebe der Heuchelei und der Lüge durchsetzt: die Macht der Bürokratie wird die Macht des Volkes genannt; im Namen der Arbeiterklasse wird die Arbeiterklasse versklavt; die allumfassende Demütigung des Menschen  wird als seine definitive Befreiung ausgegeben; Isolierung von der Information wird als Zugang  zur Information ausgegeben; die Manipulierung durch die Macht nennt sich öffentliche Kontrolle der Macht und die Willkür nennt sich Einhaltung der Rechtsordnung“ (Havel 1979,S.18).

Anderthalb Jahrzehnte später wird auch die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley diese Kultur der Schlechtesten  ähnlich der Beschreibung Vaclav Havels auf den Begriff bringen:

„Am meisten erschüttert die Zerstörung und der Verschleiß menschlicher Gefühle. Hier sind der Verrat, die Untreue, Heimlichkeit, Hochmut, Überheblichkeit, die Lust auf Macht und die Kriecherei, Angst und die Feigheit belohnt worden. Die Staatssicherheit zeigte sich für die gute Zusammenarbeit zwischen offiziellen und inoffiziellen  Mitarbeitern erkenntlich. Buchpreise für die Intellektuellen, kurze Urlaubsreisen für die Reiselustigen, geringe Geldbeträge für die Habgierigen, einen Schlag auf die Schulter für die Zweifelnden, ein Glas Champagner für die Karrieresüchtigen und ein vertrauliches Gespräch mit Handschlag unter Genossen für die Machtgierigen. Die Staatssicherheit war der große volkseigene Zauberer, er machte aus Recht Unrecht, aus Verrat Liebe, aus Untreue Treue, aus Angst Mut, aus Lüge Wahrheit, aus Betrug Verantwortung, aus Egoismus Nächstenliebe“ (Bohley 1993, S. 43).

Dieses Verbot, in der Wahrheit zu leben (Havel 1979), also in Übereinstimmung des Ich mit dem Über-Ich leben zu dürfen, zerstört bewusst und unbewusst  die innere Struktur der in einem solchen System lebenden Menschen.

Im Anschluss an die tagelangen Verhöre wurde Veras Gruppe nach Gera gefahren, wo ihr der Prozess gemacht wurde. Veras Mann erhielt sechseinhalb Jahre, Vera viereinhalb Jahre Gefängnis unter verschärften Bedingungen. Anschließend wurde ihr Mann im berüchtigten Gefängnis Bautzen, sie im benachbarten Hoheneck interniert.

Der Prozess, für dessen Durchführung ihr ein Pflichtverteidiger zugewiesen wurde, sei eine Farce gewesen und habe selbstverständlich nichts mit irgendeiner Art  von Rechtsstaatlichkeit zu tun gehabt. Generell sei nach ungefähr der Hälfte der Haftzeit ein Republikflüchtiger von Westdeutschland freigekauft und anschließend in den Westen abgeschoben worden. Da die Handhabung der Abschiebung nicht einheitlich gewesen sei,  konnte keiner der Gefangenen sicher sein, wie es um ihn persönlich bestellt sein würde: einige konnten bereits nach einem Jahr gehen, andere erst nach drei Jahren. Im Bereich des Möglichen lag immer auch, nach Verbüßung der Haftstrafe weiter in der DDR leben zu müssen. Die Kriterien der Auswahl waren für die Betroffenen bewusst undurchsichtig gehalten.

Die  Schriftsteller Erich Loest  und Günter Fritzsch beschreiben ihren  Aufenthalt in Bautzen mit beklemmender Genauigkeit (Loest 1984, Fritzsch 1993). Ernst Federn beschrieb bereits 1946 eine der Folgen dieser Art des Terrors:

„Das allgemeine Mittel seelischen Terrors ist der Entzug der persönlichen Freiheit. … Der Moment der Inhaftierung bedeutet zuerst einmal einen völligen Wechsel in der Einstellung des Betroffenen. Das eigene Handeln hört auf, die vordringlichste Bedeutung  zu bekommen, da sich alle Sinne auf die Personen  einstellen, von denen man bewacht wird“ (Federn 1946/1998, S.44).

Vera Mangold wurde in einer Großraumzelle interniert. Sie teilte einen Raum  mit 22 weiteren Frauen. In dem Raum gab es, neben 8 Stockbetten mit 2 Tischen mit jeweils 6 Hockern einen 8 Quadratmeter großen Waschraum, der mit 19 Frauen aus der Nachbarzelle geteilt werden musste. Pro Großraum gab es eine Toilette, nicht abgetrennt. Das Essen war miserabel, die tägliche Gefängnisarbeit wohl eher ein Segen als eine Plage. Keine der Frauen wusste,  wie lange der Aufenthalt für sie dauern würde.  So schien die Dauer des Gefängnisaufenthaltes endlos: auch dies war – im Rahmen der Rechtsunsicherheit aller Internierten – eine besonders perfide Methode, die Gefangenen zu demoralisieren.

Nach zwei Jahren und  vier Monaten Gefängnis, 1976, wurde sie abgeschoben. Nach dem Aufenthalt in einem Auffanglager für DDR- Flüchtlinge  versuchte Frau Mangold, im Westen Fuß zu fassen.  Aber sie entwickelte schwere Symptome der Traumatisierung: eine Walze schien über sie hinwegzurollen, sie konnte die Straßen nicht mehr überqueren, sie verlor ihre Sprechfähigkeit, d. h. sie konnte buchstäblich kein Wort mehr herausbringen. Sie hatte die innere und die äußere Orientierung verloren. Die Ehe mit Michael Mangold ging in die Brüche. Um zu überleben, nahm sie verschiedene Jobs an. Nach dem Ende der akuten Sprachlosigkeit, die einige Wochen anhielt, versuchte sie, Englisch zu lernen. Später nahm sie das Studium für das Höhere Lehramt mit den Fächern Sport und Französisch wieder auf, schloss es auch ab. Aber arbeiten konnte sie nicht. Sie war im Nebel: „Ich war immer nur im Nebel, wie mit einer Augenbinde.“

Das Unvermögen, für das traumatisch Erlebte einen sprachlichen Ausdruck zu finden, hat nach neueren  Forschungsergebnissen der Hirnphysiologie eine neurobiologische Entsprechung:

„So bestätigt sich, dass aufgrund der bei der Traumatisierung überwältigenden Erregung die Kodierung der Erfahrung auf spezifische Weise eingeschränkt ist. Die Nutzung linguistischer Pfade wird herabgesetzt, die der sensomotorischen erhöht. (Die Broca-Region als Zentrum der Sprache ist bei hoher Erregung nicht arbeitsfähig.) Die abgekapselte traumatische Realität kann nicht symbolisch verarbeitet werden, sondern sie bleibt als Ansammlung  sensorischer Fragmente, gleichsam als Videos, Dias oder innere Tonbänder erhalten. Eben dadurch entstehen die nicht symbolisierten, unflexiblen Aktivierungsreize jenseits willentlicher Kontrolle, die durch Auslöser (Trigger) automatisch aktiviert werden können (Flashback)“ (Hölter 2003).

Das Ich erleidet einen Angriff von zwei Seiten: einmal von unkontrollierbaren Außenreizen, die es zu überschwemmen drohen, zum andern von innen aufgrund der Reaktivierung infantiler Ängste in Zusammenhang mit regressiven Prozessen, ausgelöst durch traumatische Erfahrung der Ohnmacht. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Autoren bin ich allerdings der Meinung, dass die totale  Auflösung der Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen Opfer und Täter nur dann passieren kann, wenn frühkindliche  Schäden bereits vorliegen. Ernst Federn würde in dieser Frage vermutlich zustimmen.

Erst nach vielen weiteren Jahren, mehr oder weniger im Nebel, suchte Vera Mangold eine analytische Therapie. Inzwischen, nach fünf Jahren gemeinsamer Arbeit, ist Frau Mangold eine 57jährige Frau, die wieder leben kann, nicht nur überleben muss. Aber die besonderen Umstände der  gesellschaftlichen Struktur der totalitären DDR haben, so darf man wohl sagen, ihr Leben fast zunichte, die Erfüllung ihres ursprünglichen Kinderwunsches unmöglich gemacht, ihr Ich beinahe zerstört.

Vaclav Havel formulierte in demselben Jahrzehnt, in dem Vera Mangold im Gefängnis Hoheneck saß:

„Der Totenschleier des Lebens in Lüge ist aus einem sonderlichen Stoff gemacht. So lange er die ganze Gesellschaft luftdicht  bedeckt, scheint er aus Stein zu sein. In dem Moment aber, wo ihn jemand  an einer einzigen Stelle  durchlöchert, wenn ein einziger Mensch `Der Kaiser ist nackt´, ruft, wenn ein einziger Spieler die Spielregeln verletzt  und somit als Spiel entlarvt, kommt plötzlich alles in ein anderes Licht, und der ganze Schleier  wirkt, als ob er aus Papier wäre – als ob er anfängt, unaufhaltsam in kleine Fetzen zu zerfallen“ (Havel 1979,S. 31).

Freilich war damals von den „posttotalitären“ Systemen die Rede, nicht von Diktaturen wie dem Nationalsozialismus, die töten, weil sie vernichten wollen“ (Ernst Federn 1989).

Wie wir wissen und täglich beobachten, wird die Ausübung von Terror nicht aufhören in der Welt. Aber jeder, der zu seinem besseren Verständnis, wie Ernst Federn, einen Beitrag geleistet hat, hat dabei geholfen, die Menschheit aufzuklären und das Prinzip Hoffnung zu stärken.

Literatur:

Arendt, Hannah (1951): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Ungekürzte Taschenbuchausgabe  9. Auflage 2003, München (Piper).
Federn, Ernst (1946): Versuch einer Psychologie des Terrors, In: Kaufhold (Hg.): Ernst Federn – Versuche zur Psychologie des Terrors, Gießen 1998 (edition psychosozial).
Federn, Ernst (1960): Einige klinische Bemerkungen zur Psychopathologie des Völkermords. In: Kaufhold (Hg.): Ernst Federn – Versuche zur Psychologie des Terrors, Gießen 1998 (edition psychosozial).
Federn, Ernst (1996): Mechanismen des Terrors. In: Kaufhold (Hg.): Ernst Federn – Versuche zur Psychologie des Terrors, Gießen 1998 (edition psychosozial).
Fuchs, Jürgen (1990): Und wann kommt der Hammer? Psychologie, Opposition und Staatssicherheit, Berlin (Basisdruck).
Fritzsch, Günter (1993): Gesicht zur Wand. Willkür und Erpressung hinter Mielkes Mauern, Leipzig (St. Benno Buch- und Zeitschriften-Verlag).
Havel, Vaclav (1979): Versuch, in der Wahrheit zu leben. Frankfurt (Fischer).
Hölter, Reinhild (2003): Zerbrochene Zeit. Analytische Psychotherapie nach politischer Verfolgung  und Inhaftierung, In: Anal. Psychol. 2003; 34: S. 1-18.
Kaufhold Roland (Hg) (1998): Ernst Federn – Versuche zur Psychologie des Terrors, Gießen (edition psychosozial).
Kerz-Rühling, Ingrid & Plänkers Thomas (Hg) (2000): Sozialistische Diktatur und psychische Folgen. Psychoanalytisch-psychologische Untersuchungen in Ostdeutschland und Tschechien. Tübingen (edition diskord).
Kuschey, Bernhard (2003): Die Ausnahme  des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers, Band I und II, Gießen ( edition psychosozial).
Loest, Erich (1984): Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Frankfurt/M. (Fischer).
Mählert, Ulrich (1996): Kleine Geschichte der DDR, München (C. H. Beck).
Schroeder, Klaus (2000): Der SED-Staat, Partei, Staat und Gesellschaft 1949 – 1990 München (Propyläen-Taschenbuch).
Tömmel, Sieglinde Eva (2002): Identität und „Deutsch-Sein“. Ein kulturpsychoanalytischer Beitrag  zum Verständnis der neuen rechtsradikalen Gewalt in Deutschland. In: Schlösser/ Gerlach (Hg.): Zivilisation und Gewalt, Gießen (Psychosozial-Verlag).

Dieser Beitrag wurde dem von Bernhard Kuschey 2006 herausgegebenen Band: Die Psychoanalyse kritisch nützen und sozial anwenden. Ernst Federn zum 90. Geburtstag, Wien (Verlag Theodor Kramer Gesellschaft) entnommen (148 S., DVD liegt bei, ISBN 3-901602-26-7. Bestellung über: Theodor Kramer Gesellschaft, A-1020 Wien, Engerthstr. 204/14, Österreich; e-mail: office(at)theodorkramer.de). Wir danken Frau Dr. Sieglinde Eva Tömmel, dem Herausgeber und dem Verlag für die freundliche Nachdruckgenehmigung.

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