Über die zukünftigen Chancen der von Ernst Federn wiederentdeckten und neu begründeten psychoanalytischen Sozialarbeit

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„Zukunft“, hat der Philosoph Ulrich Sonnemann einmal geschrieben, „ist von außen wiederkehrende Erinnerung; darum hat die Gedächtnislosigkeit keine.“ ((Ulrich Sonnemann: Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond, Hamburg 1994, S. 13)) Diese Formulierung ist mehr als nur ein schönes Bonmot. Denn die Zukunft ist, bevor sie Wirklichkeit wird, erdacht, erfunden, erträumt worden, und darum schwindet sie, wenn die Erinnerung an das Erdachte, Erfundene, Erträumte verloren geht. Zukunft, die diesen Namen verdient, erwächst, wie man mit Walter Benjamin sagen könnte, aus dem, was in der Vergangenheit unabgegolten geblieben ist…

Von Achim Perner

Zu dieser Einsicht führt jedenfalls die Psychoanalyse, die sich der Vergangenheit des Subjekts zuwendet, damit es eine nennenswerte Zukunft hat. Wer einen Blick in die Zukunft tun will, darf darum nicht stur nach vorn starren, er muss zunächst nach hinten schauen. Ernst Federn, der unsere Arbeit in Tübingen – beim „Verein für psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg/Tübingen e.V. ((vgl. die von R. Kaufhold verfassten Rezensionen der verschiedenen vom „Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen“ in den letzten 20 Jahren herausgegebenen Tagungsbände, publiziert in der Kinderanalyse H. 3/2007, S. 259-264, H. 3/2002, S. 311-314. , H. 4/2000, S. 426f., H. 2/1998, S. 197-202.)) – von Beginn an unterstützt und begleitet hat, hat das immer wieder vor uns und für uns getan. Ernst Federn ist aber viel mehr als ein Historiker der Psychoanalyse oder der Psychoanalytischen Sozialarbeit: Er ist, wie wohl kein anderer, die lebendige Verkörperung der Geschichte der Psychoanalyse, nicht ihrer Geschichte überhaupt, sondern ihrer unabgegoltenen Geschichte, der Geschichte, wie er immer wieder gegen den psychoanalytischen mainstream betont, der psychoanalytischen Bewegung, die sich nicht in der ärztlichen Anwendung der Psychoanalyse erschöpft. Ich muss hier sicher nicht daran erinnern, dass wir Ernst Federn die Herausgabe der Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung verdanken, die uns das ganze Spektrum der Themen vor Augen führen, mit denen sich die Psychoanalytiker der ersten Generation beschäftigten.


Martin Feuling und Ernst Federn, © Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg/Tübingen e.V.

Ernst Federn ist darum, und ich meine das ganz ernst, die lebendige Verkörperung einer Vergangenheit, die ihre Zukunft noch vor sich hat. Er ist das auf eine ganz besondere Weise, ist er doch, jedenfalls in meiner Phantasie, mit der Psychoanalyse am Küchentisch groß geworden. Sein Vater, Paul Federn, war ein Psychoanalytiker der ersten Stunde und der Stellvertreter Freuds als Obmann der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. So ist Ernst Federn im Zentrum der psychoanalytischen Bewegung groß geworden. Er war auch einer der ersten, der die Bedeutung August Aichhorns erkannte, des Begründers der psychoanalytischen Sozialarbeit, der bei Paul Federn in Analyse und dann mit ihm befreundet war. Ernst Federn hat uns in Tübingen erzählt, dass er mit zwölf Jahren Heilpädagoge werden wollte, „weil August Aichhorn ein guter Freund meines Vaters war“. ((Ernst Federn: Warum ich in die Sozialarbeit gegangen bin, in: Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit (Hg.):  Fragen zur Ethik und Technik psychoanalytischer Sozialarbeit, Tübingen 1995, S. 21)) Das war 1926. Nach einem Umweg über die Politik wandten er und Hilde Federn sich 1937 an Aichhorn, um ihn zu fragen, wie man Heilpädagogik lernt. „’Studiert erst mal Sozialarbeit’, also damals Wohlfahrtspflege, ‚und dann wird man weitersehen’“, gab Aichhorn ihnen zur Antwort. „Wir haben“, fährt Federn fort, „dann alle möglichen Kurse über Heilpädagogik und Blindenfürsorge und anderes besucht. Aber es blieb mir nur ein halbes Jahr Zeit. 1938 kam ich ins KZ.“ ((ebd.)) Nach seiner Befreiung und der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten studierte Federn Sozialarbeit an der Columbia School of Social Work, um fortan sehr entschieden als psychoanalytischer Sozialarbeiter tätig zu sein und zu bleiben. “Ich war“, sagt Federn, „immer und bin auch heute noch ein psychoanalytischer Sozialarbeiter. Ich habe nie Analysen gemacht. Ich habe privat natürlich Therapien gemacht, aber nie klassische Analysen.“ Man muss, wie Federn hervorhebt, „genau unterscheiden zwischen psychoanalytischer Sozialarbeit und Sozialarbeitern, die Psychoanalysen machen“ ((Ebd. S. 24)).

Diese Bemerkung ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis dessen, was psychoanalytische Sozialarbeit ist: nämlich keine Psychoanalyse im Sinne der analytischen Kur. Federn hat mit großer Bestimmtheit an einer Bemerkung Freuds aus dessen Geleitwort zu Aichhorns Verwahrloster Jugend festgehalten:

„Die Möglichkeit der analytischen Beeinflussung ruht ganz auf bestimmten Voraussetzungen, die man als ‚analytische Situation’ zusammenfassen kann, erfordert die Ausbildung gewisser psychischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum Analytiker. Wo diese fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwahrlosten, in der Regel auch beim triebhaften Verbrecher, muss man etwas anderes machen als Analyse, was dann in der Absicht mit ihr wieder zusammentrifft.“ ((Sigmund Freud; Geleitwort, in: August Aichhorn: Verwahrloste Jugend. Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung, Bern, Stuttgart, Toronto 1987, S. 8))

1925, als Aichhorns Buch erschien, gab es das Wort Sozialarbeit noch nicht, infolgedessen auch keine Sozialarbeiter. Freud und Aichhorn sprachen von Wohlfahrtspflege und Fürsorgeerziehern. So hatte Aichhorn es sich in seinem Buch zur Aufgabe gemacht, „die Grundbegriffe der Psychoanalyse auf das Gebiet der Fürsorgeerziehung anzuwenden“, um seinerseits hervorzuheben, dass die daraus erwachsende Praxis etwas anderes ist als die analytische Behandlung neurotischer Störungen. Aichhorn hatte ein Wort dafür gesucht, aber keines gefunden, den Ausdruck psychoanalytische Pädagogik hat er selbst vermieden.

Das Wort Sozialarbeit ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich geworden. Es ist die Übersetzung des amerikanischen social work ins Deutsche, aber, wie Ernst Federn immer wieder bemerkt hat, eine falsche Übersetzung. Work bedeutet nicht, oder nicht nur, Arbeit, sondern Werk: In diesem Sinn versteht Ernst Federn Sozialarbeit als soziales Wirken, und ich denke, dass dieses Wort uns helfen kann, den Unterschied von psychoanalytischer Sozialarbeit und psychoanalytischer Therapie besser zu verstehen. Der Psychoanalytiker lässt nach der Lehre Freuds das Unbewusste, des Analysanden, das sich im Medium der Sprache äußerst, auf sich wirken, um es zu deuten; der Sozialarbeiter ist dagegen den Wirkungen des Unbewussten ausgesetzt, die sich handelnd äußern, und er versucht seinerseits, auf dieses handeln aktiv einzuwirken. Psychoanalytische Sozialarbeit impliziert keine rezeptive Technik wie die klassische Analyse, sondern eine aktive Technik. Der Fürsorgeerzieher kommt, wie Aichhorn betonte, immer wieder in Situationen, in denen er rasch und entschlossen handeln muss. Der psychoanalytische Sozialarbeiter bewegt sich nicht wie der Psychoanalytiker im Feld des Erinnerns, sondern des Agierens. In einer kritischen Betrachtung zum Begriff des Agierens hat Anna Freud das Feld der psychoanalytischen Sozialarbeit abgesteckt:

„Die Erinnerung, durch freie Assoziation und Traumdeutung erweitert, erlaubt das Wiederfinden verdrängter Phantasien und verdrängter, ehemals verbalisierter Erlebnisse. Das Wiedererleben bringt infantile Icheinstellungen zurück, in der Form regressiver, anhängiger oder trotziger Gefühle gegenüber dem Analytiker. Durch die handelnde Wiederholung in der Übertragung werden präverbale Erfahrungen zugänglich, oft mit Hilfe einer Überschreitung der analytischen Regeln. Sogenannte wahnhafte Übertragungserscheinungen, die für den Patienten das volle Gewicht der Wirklichkeit haben und der Deutung widerstehen, sind durch sehr frühe Gefühlserfahrungen oder Phantasien von übermäßiger Stärke verursacht. Eine ähnliche übergroße Besetzung der reaktivierten Bestrebungen ist für die Einbrüche aus dem Es verantwortlich, die den Patienten zu zwanghaft wiederholten realen Aktionen veranlassen.“ ((Anna Freud: Über Agieren, Schriften Bd. IX, S. 2465))

Anna Freud hat in diesem Zusammenhang auch hervorgehoben, dass Erinnern und Wiedererleben auf sexuelle Regungen, die unterschiedlichen Formen des Agierens eher auf aggressive Regungen zurückgehen:

„Der Sexualtrieb äußert sich in einer Fülle bewusster und unbewusster Phantasien und kann aufgrund von Träumen, Tagträumen und Einfällen bei der freien Assoziation gedeutet werden. Der Aggressionstrieb dagegen ist enger an den Muskelapparat und das Handeln geknüpft; seine Abkömmlinge werden deshalb leichter agiert als erinnert.“ ((Anna Freud: Der wachsende Indikationsbereich der Psychoanalyse, Schriften Bd. V, S. 1348 ff))

Weil sich der Aggressionstrieb weniger im Medium der Sprache, sondern vor allem agierend äußert, kann ihm oft auch nicht mit sprachlichen Mitteln allein begegnet werden; das Agieren stellt, so könnte man pointiert formulieren, keine Übertragung, sondern einen Übergriff oder eine Übertretung dar. Übertragung, Übergriff und Übertretung , das Überwiegen des Narzissmus und aggressiver Regungen gegenüber den libidinösen Objektbetzungen sowie der Vorrang des Agierens gegenüber Sprechen scheinen mir die wesentlichen Momente zu sein, die den Bereich der psychoanalytischen Sozialarbeit von dem der Analyse abgrenzen.

Ich denke, dass hier die große Aufgabe auf uns wartet, eine Methodologie der psychoanalytischen Sozialarbeit in Angriff zu nehmen, eine Aufgabe, der wir nicht aus dem Weg gehen dürfen, wenn die psychoanalytische Sozialarbeit eine Zukunft haben soll. Eine Aufgabe, die für einen allein zu groß und zu schwierig ist, selbst Aichhorn war ihr nicht gewachsen, als er auf sich allein gestellt war.

Aichhorn und seine Schüler, darunter Kurt Eissler, Peter Blos, Rudi Ekstein und  Fritz Redl hatten sich an diese Arbeit gemacht, die durch den Einfall der Nazis in Österreich unterbrochen, ja zerstört wurde. Damals war die psychoanalytische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dabei, die mit Erwachsenen an Bedeutung zu überholen: „Das Kind“, schrieb Freud im Geleitwort zu Aichhorns Buch, „ist das hauptsächliche Objekt der psychoanalytischen Forschung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker abgelöst, an dem ihre Arbeit begann.“ ((ebd. S. 7)) Diese Entwicklung hatte sich in einem regen Zustrom von Erziehern und Pädagogen an die analytischen Institute niedergeschlagen, vor allem in Wien, wo Aichhorn Mitglied des Lehrausschusses war und Kurse für Fürsorgeerzieher anbot. Die Psychoanalyse nahm vor dem Zweiten Weltkrieg eine Entwicklung, die Anna Freud später als den „wachsenden Indikationsbereich“ oder den „erweiterten Abwendungsbereich“ der Psychoanalyse beschrieben hat, die Ausweitung der psychoanalytischen Arbeit auf seelische Störungen, die nicht mit den Mitteln der klassischen analytischen Technik beeinflusst werden können: Psychosen, narzisstische und Charakterstörungen, Alkoholismus, Kriminalität und Dissozialität ((Anna Freud: Der wachsende Indikationsbereich der Psychoanalyse, Schriften Bd. V, S. 1348 ff)). Die psychoanalytische Sozialarbeit war damals dabei, sich als ein eigenes Arbeitsfeld innerhalb der psychoanalytischen Bewegung zu etablieren und sie wurde dabei von namhaften Psychoanalytikern aktiv unterstützt. Von solchen Möglichkeiten können wir heute nur träumen. Heute ist der Platz der psychoanalytischen Sozialarbeit nicht in, sondern neben der etablierten Psychoanalyse, von der sie nicht selten mit einer argwöhnischen Herablassung betrachtet und behandelt wird. Man kann und ich glaube: man muss diese Entwicklung bedauern, aber rückgängig zu machen ist wohl nicht. Das heißt aber, dass die psychoanalytische Sozialarbeit sich ihre eigenen Zusammenhänge und Institutionen schaffen muss, wenn sie sich tradieren und ausweiten will.

Dieser Beitrag wurde dem von Bernhard Kuschey 2006 herausgegebenen Band: Die Psychoanalyse kritisch nützen und sozial anwenden. Ernst Federn zum 90. Geburtstag, Wien (Verlag Theodor Kramer Gesellschaft) entnommen (148 S., DVD liegt bei, ISBN 3-901602-26-7. Bestellung über: Theodor Kramer Gesellschaft, A-1020 Wien, Engerthstr. 204/14, Österreich; e-mail: office(at)theodorkramer.de) Wir danken Achim Perner, dem Autor, dem Herausgeber und dem Verlag für die freundliche Nachdruckgenehmigung.


Hilde Federn und Martin Feuling, © Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg/Tübingen e.V.

2 Kommentare

  1. Die beiden Fotografien in dem Artikel über die zuküftigen Chancen der psychoanalytischen Sozialarbeit zeigen Ernst und Hilde Federn nicht mit mir, sondern mit Martin Feuling, der Ernst Federn sehr verbunden war und Mitarbeiter des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit in Tübingen ist.

    Vielleicht können Sie die Bildunterschriften entsprechend korrigieren.

    Mit freundlichen Grüßen
    Achim Perner

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