Bruno Bettelheims Mütter und Kinder des Kibbutz

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Die Gemeinschafts- oder Kollektiverziehung schon im Vorschulalter hat durchaus niedrige historische Hintergünde. Sie entstand als Notmaßnahme zur Bewahrung von Kindern, die unbehütet und unversorgt waren, weil ihre Eltern und älteren Geschwister Geld verdienen mußten. „Infant school“ nannte man die entsprechende Institution im England des späten 18. und Kinderbewahranstalt im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts…

Von Gunnar Heinsohn

I.

Menschen, die nicht etwa aus Eigeninteresse von Verwahrlosung bedrohte Kinderscharen in die Welt setzten, sondern durch staatliche Verfolgung der Geburtenkontrolle dazu genötigt wurden (Heinsohn/ Steiger 1989), stellten die ersten Insassen für eine öffentliche Kleinkinderziehung bereit. Dort erfolgte kaum mehr als die bloße Lebenserhaltung und eine strenge Disziplinierung für ein zukünftiges Leben in untergeordneter Arbeit. Das bedeudete zwar einen Erfolg für die Bevölkerungspolitik, in deren Konsequenz die Einrichtungen entstanden waren. Wer jedoch die körperliche und seelische Entwicklung seines Nachwuchses befördern wollte, mied die Bewahranstalten als ein Übel. Die Gleichgültigkeit des Personals, das von einem Mißlingen der Zöglinge persönliche Nachteile nicht zu fürchten hatte, die Eindrucksarmut der Anstalten in einem Lebensabschnitt, in dem noch wichtige Prägungen erfolgten, sowie die Einheitsbehandlung ganz unterschiedlicher Charaktere machten die Kinderanstalten zu einem Schicksal, dem die eigenen Sprößlinge ohne Not nicht ausgesetzt wurden.

So muß verblüffen, daß dennoch ein Blickwinkel gewählt werden konnte, aus dem plötzlich wie eine Verheißung erschien, was bis dahin als bedauernswerte Schicksal gegolten hatte. Aus dem Ideal des Kommunismus nämlich mutete die Kollektiverziehung schon der Kleinsten wie der Königsweg zu seiner Verwirklichung an. Die in diese neue Gesellschaft Drängenden — so teilten sie oft kunstvoll und fast immer überzeugungsstark mit — litten an der Vereinsamung des Individualismus, an der Entfremdung, wie das Modewort aus der deutschen Philosophie lautete. Zur Gemeinschaft, so beteuerten sie, sehne sich alles in ihnen. Warum dann aber noch Erziehung auf diese hin? Die Kindheit, der man selber ausgesetzt war, hatte Verbiegungen zur Folge, die das eigentlich erstrebte Leben unnötig erschwerten. Erst in der nächsten Generation, die schon von Kindesbeinen an das segensreiche Kollektiv durchlebt hätte, würden die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Fähigkeit zu ihrer bestmöglichen Ausgestaltung zu einer glücklichen Synthese finden. Keine kommunistische Zukunft für das Ganze ohne Kinder, die schon heute für ihre Herbeiführung erzogen werden. So galt es auch für den Kibbutz. Eva Tabenkin aus Ein Harod schrieb schon in den zwanziger Jahren: „Die Idee der Gemeinschaftserziehung verfolgten wir lange, bevor Kinder da waren. Auch später, als wir Mütter wurden, betrachteten wir die Gemeinschaftserziehung keineswegs nur als eine Pflicht, die uns unser eigenes Gemeinschaftsleben auferlegte. Sie erwuchs aus unserem Anspruch, für unsere Kinder eine bessere Erziehung durchzusetzen. Wir betrachteten die Gemeinschaftserziehung als Eckstein für den Aufbau der Kommunen“ (Katznelson 1930, 153 nach Porat 1985, 140).

Gleichwohl ist auch die „Kindergemeinschaft“ (Goldschein 1989 <1929>, 117) des Kibbutz erst einmal aus der Not geboren worden. Vier Jahre nach der Gründung der „Kvutza“ (hebr. Kollektiv) Degania Alef im Jahre 1909 in Um Djuni am Jordan wurde das erste Kind, ein Junge, geboren. Da nach einem Egalitätsideal gelebt werden sollte, das Männern und Frauen die gleichen Arbeiten auferlegte, stellten sich durch den Nachwuchs umgehend Probleme ein, die vorerst jedoch pragmatisch angegangen wurden. Miriam Baratz, die erste Mutter, schuf sich zwar gegen die Prinzipien eine eigene Küche für sich und das Kind, erfüllte aber weiterhin ihre volle Arbeitsaufgabe. Als die nächste Frau, Dvora Dayan, im Jahre 1916 ein Kind bekam, einigten sich die beiden auf eine Arbeitsteilung. Miriam Baratz ging arbeiten, Dvora Dayan versorgte die Kinder, stellte dafür im Jahre 1916 eigene Prinzipien auf und wurde so gewissermaßen die erste Metapelet. Eine Konferenz des Jahres 1918 in Saronah schließlich brachte den Durchbruch zu einer vom Kibbutz organisierten Kollektiverziehung der Kinder seiner weiblichen Mitglieder, um diese nicht auf die Mutterschaft zu reduzieren. Begonnen wurde mit zehn Kindern, die allerdings die Nacht bei ihren Müttern verbrachten (Porat 1985, 13-33).

Die kollektive Erziehung wurde von neuem Gegenstand intensiver Überlegungen, als Kinder schulreif wurden. In den einzelnen Genossenschaften gab es zu wenige, um pädagogische Gemeinschaften bilden zu können, obwohl in Kfar Giladi und Ein Harod eben dieses mit allem akademischen Anspruch versucht wurde. In Ein Harod wurde nach erbitterten Diskussionen auch das Schlafen der Kinder ab der 2. Woche in eigenen Quartieren durchgesetzt, um die Mütter wirklich an der Arbeitsgleichheit teilhaben zu lassen. Drei marxistische Kibbutzim des HaSchomer-Hazair aus dem Jesreeltal (Beth Alfa, Chefti-bah und Tel Josef) taten sich zur Bündelung der Kräfte im Jahre 1926 zusammen, um die „Chewrat Hadim“ (hebr. Gemeinschaftschule) Beth-Alfa zu gründen. Zwar hätten die Kinder der drei Siedlungen noch in vorhandenen Schulen untergebracht werden können. Die Notwendigkeit eigener Einrichtungen war aber vom Bedarf her absehbar und das Motiv, durch neue Erziehung die neue Gesellschaft zu befördern und überhaupt erst auf Dauer zu stellen, ließ nun die Kollektiverziehung in eigenen Kinderhäusern für Jungen und Mädchen ab 6 Jahren sehr schnell vorankommen. Eliahu Rappaport – ein Wiener Mathematiklehrer und Bewunderer des Kinderheims Baumgarten, das der Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld leitete – war mit drei Kindern nach Beth Alfa gekommen. Er übte dort den Beruf des Schusters aus. In der Werkstatt lehrte er die Kinder und wurde über dieser Aufgabe und mit seinem spezifischen Wiener Hintergrund der Initiator der neuen Erziehung (Porat 1985, 77f.).

II.

Im Jahre 1964, knapp vierzig Jahre nach Gründung von Beth Alfa, kam Bruno Bettelheim in den Kibbutz. Sieben Wochen hatte er Zeit, sein schonungs-, aber durchaus nicht liebloses Auge auf den Kindern von Kibbutz „Atid“ ruhen zu lassen. Diese Forschung im Eilverfahren ist ihm oft vorgehalten worden, obwohl doch der mißtrauische Forscherblick gerade im ersten Moment blitzartig aufleuchten sehen kann, was bei längerem Zusehen zu verschwimmen beginnt. Zum 60. Geburtstag der Kibbutzgesellschaft, im Jahre 1969, schenkte er ihr das Buch THE CHILDREN OF THE DREAM, das zwei Jahre später auch auf deutsch als DIE KINDER DER ZUKUNFT herauskam.

Der Erziehungsforscher Bettelheim konnte 1964 nicht ahnen, daß sein Buch in den siebziger Jahre so unerhörte Furore machen würde. Die Studentenbewegung griff es gierig auf. Die akademische Jugend des Westens agierte damals nicht so sehr als Hervorbringer einer neuen Gesellschaft, sondern als aktiver, unsicherer, übermütiger, ertastender, aber auch fehlgehender Ausfüller eines Rahmens, der ohne ihr Zutun entstanden war und den auch niemand sonst geplant hatte: Ein Sexualleben ohne den Zwang eines Familienlebens, wie es das Mittelalter schon einmal gekannt hatte, war die betörende Aussicht. Schon die zwanziger Jahre hatten das im Blick. Faschismus, Zweiter Weltkrieg und anschließende Restauration wirkten da nur als vorübergehende Bremser.

Nun bedurfte der Wunsch nach Freiheit von den Lasten der Kindererziehung einer noblen Rechtfertigung für das Abschieben des Nachwuchses – zumindest bei denjenigen Studenten, die Schwangerschaften noch nicht zu vermeiden wußten. Viele ihrer Kommilitonen entwickelten sich gleichzeitig direkt in die Kinderlosigkeit und gerieten so erst gar nicht in pädagogische Heucheleien. Neben ihnen jedoch machten sich nunmehr Abkömmlinge von Ober- und Mittelschicht an eine ideologische Veredelung der Kinderkollektive. Die sollten plötzlich Kommunismus, Seelenheil und bei beiden Geschlechtern die Fähigkeit zu freier Liebe erzeugen. Ein Stück Eigenaktivität der Eltern in sog. Kinderläden sollte die Differenz zu den Vernachlässigungen in konventionellen Kindergärten unübersehbar machen. Schließlich sollte der gebildete Verweis auf die kommunistischen Kibbutzgenossen und ihre Kinderhäuser jeden Verdacht auf das schnöde Motiv, die Kinder bloß loswerden zu wollen, von vornherein im Keim ersticken.

Gelangen die Kibbutzkinder nicht sehr passabel? Gewiß taten sie das, und Bettelheim war dafür beileibe nicht der einzige Zeuge. Dennoch erwies gerade er sich nicht als Apologet eines wie gut auch immer rationalisierten Wegschiebens des Nachwuchses. Die Klagen der Kibbutzgründer, daß ihre Kinder zwar tüchtig, aber doch auch „kühl“, „gleichgültig“, „schroff“ und „unhöflich“ seien, übersetzte er: „Vielleicht gab ich dich aus selbstsüchtigen Gründen ins Kinderhaus: weil ich mein eigenes Leben leben wollte, gemeinsam mit meinen Kameraden und unbelastet von den täglichen Pflichten einer Mutter. Liebe mich, um mir zu beweisen, daß meine Gründe nicht selbstsüchtig waren; um mir zu beweisen, daß ich viel opferte, um dir eine bessere Welt zu schaffen als jene, in der ich aufwuchs“ (Bettelheim 1971, 278f.). Da die Kinderladenaktivisten der Studentenbewegung sich lediglich in kommunistischer Maulhurerei ergingen, sind ihre Ideologien und auch die praktischen Ansätze heute längst Schall und Rauch. Dagegen leben die Kibbutzniks tatsächlich als wirkliche Kommunisten in den so gut wie einzigen Produktions- und Lebensgenossenschaften der Erde mit über hunderttausend Menschen in etwa 260 Siedlungen mit bald 120000 Einwohnern, von denen über 36 000 Kinder sind (Porat 1985, 11; zur Soziologie dieser Gesellschaft Heinsohn 1982). Während die akademische Jugend des Westens lediglich rationalisierend schwadronierte, steckten die Zionisten des Kibbutz tatsächlich in schwerster Arbeit und dem ständigen Krieg mit einem Gegner, dessen Programm nicht weniger verlangte als ihre Vernichtung. Dem KZ-Überlebenden Bruno Bettelheim sind diese Unterschiede nie entgangen.

III.

Vor allem die wenig beschönigende Charakterisierung der Kibbutzmütter ist von vielen israelischen Lesern Bettelheims ungnädig aufgenommen worden. Wie, um ein wenig Öl auf die Wogen zu gießen traf er eine zusätzliche Aussage, die unter allen Beobachtungen seines Buches die am ehesten widerlegbare werden sollte: „Ich sage, daß die Mütter der ersten Generation sich über ihre Rolle als Frau nicht im klaren waren, daß sie Angst hatten, keine guten Mütter zu sein. < …> Ich fand kaum etwas davon bei den Müttern, die im Kibbutz geboren wurden. Die meisten von ihnen sind sich ihrer Weiblichkeit sehr bewußt. Natürlich genießen sie alle Vorteile, die ihre Mütter in bezug auf die Gleichheit der Geschlechter gewonnen haben; aber auch diese nehmen sie als selbstverständlich hin und messen ihnen keine besondere Bedeutung zu. Aus demselben Grund nehmen sie es auch mit Gleichmut hin, daß ihre Kinder im Kinderhaus leben. Die emotionale Distanz zwischen ihnen und ihren Kindern stört sie nicht“ (Bettelheim 1971, 278).

Es waren gerade die Mütter der zweiten und dritten Generation, die den tiefgreifendsten Strukturwandel der Kibbutzgesellschaft dadurch einleiteten, daß sie gegen den zähen Widerstand der Alten die Kollektivhäuser für die Kinder von zwei Wochen bis sechs Jahren abschafften. An die Wohnungen mußten daraufhin unter beträchtlichen Kosten und großem Zeitaufwand Kinderzimmer angebaut werden. Als der Autor in den Jahren 1976-78 in Israel seinen Studien über die Kibbutzerziehung nachging, war dieser Prozeß in vollem Gange und wurde nur noch von der linkesten Bewegung – dem Kibbutz Artzi – durch Vollversammlungsabstimmungen, bei denen die jungen Frauen unterlagen, abgewehrt. Nach den Raketenangriffen des Irak auf Israel im Frühjahr 1991 sind so gut wie alle Kibbutzim zum Schlafen der Kleinkinder im Elternhaus übergegangen. Die erbittertste Debatte der Kibbutzgeschichte war entschieden.

Hayuta Bussel aus Degania hatte schon 1923 ihre ‚ Genossen vor einer Ideologisierung des elternfernen Schlafens der Kinder gewarnt: „Wir haben diese Frage in ein Ungeheuer verwandelt, vor dem wir uns mittlerweile alle fürchten. Plötzlich ist sie zur wichtigsten Frage der ganzen Kommune geworden. Jeder, der nicht für gemeinsame Schlafarrangements eintritt, gilt nicht mehr als guter Genosse, sondern als Verteidiger des Privateigentums. Ist aber nicht auch die Liebe zwischen Mann und Frau eine enorm wichtige Sache und trotzdem immer noch eine Privatangelegenheit? Ein solches Liebespaar kann die Kommune akzeptieren — mit all den privaten Banden zwischen den beiden. Wie kann dann die private Erziehung unserer Gesellschaft schaden? Die Begegnung eines Kindes mit seinen Eltern in den Abendstunden ist etwas Gutes und keine Gefahr, wie hier jemand behauptet hat“ (Porat 1985, 71).

Jitzchak Tabenkin, der in Ein Harod von seinen Genossen überstimmt wurde, hatte ein Jahr später noch eindringlicher formuliert: „Ein Eckstein der Kommunebewegung besteht darin, die Persönlichkeitsentwicklung als Wert eigenen Rechts anzusehen. Das gilt auch für die Kinder, deren materielle und spirituelle Bedürfnisse wir aus diesem Geist befriedigen. Für uns ist das Kind ein Wert an sich. Solange es sich nicht selbst versorgen kann, darf seiner geistigen und körperlichen Entwicklung nichts im Wege stehen – auch nicht das Ziel, eine wirtschaftlich gesunde Farmkommune aufzubauen. Das Kind darf niemals Mittel zum Zweck sein. Eine Gesellschaft, die ihre Kinder ihren Zwängen zu opfern willens ist, kann nicht lange überleben“ (Ha-Kvutza 1925, 38; nach Porat 1985, 69f.).

Es war leicht für Bettelheim, sich so zu täuschen, denn eine schlagende pädagogische Begründung für die Abschaffung der Kinderhäuser gab es nicht. Wie er selbst sah, lag das intellektuelle Leistungsniveau der in Kinderhäusern aufgewachsenen Jugend auf dem Niveau der israelischen Ober- und Mittelschicht. Der Kibbutznachwuchs war zudem weitgehend frei von mittelschichtstypischen Verwahrlosungsfällen und Leistungs-Versagern. Allerdings wies sein geistiges Niveau eine höhere Nivellierung auf, stand also für weniger Ausnahmetalente als die israelische Mittelschicht. Bettelheim hat dies sehr kritisch vermerkt, ja einen regelrechten Schreck darüber verspürt, dem jüdischen Genie nicht häufig genug begegnet zu sein. Abgesehen von diesen Außreißern aber steht der Kibbutz sehr passabel da. Überdies konnten signifikante Unterschiede zwischen Kindern, die bei den Eltern schliefen, und solchen, die im Kinderhaus nächtigten, nicht nachgewiesen werden. Warum haben die jungen Frauen die Kibbutzerziehung dennoch umgekrempelt?

Soziobiologen haben aus der Abschaffung der kommunalen Schlafarrangements geschlossen, daß hier die weibliche Biologie gehandelt habe. Diese erzeuge den Wunsch nach möglichst vielen Kindern sowie das Bedürfnis, mit ihnen so häufig wie möglich zusammenzusein (Tiger/ Shepher 1976). Bettelheim hätte wohl eher ein Motiv zur Beseitigung der „emotionalen Distanz“ zwischen Mutter und Kind am Werke gesehen. Der Autor hat beide Überlegungen nicht für ausreichend halten können. Die Mütterlichkeit im Kibbutz dürfte nämlich auch starke Gemeinschaftsfunktionen erfüllen. Sie stabilisiert das Sexualleben des Kibbutz, der eine fixierte Sexualmoral von Beginn an ablehnte, aber aus seinem Gleichheitsprinzip heraus sexuelle Vorteile eher noch stärker abwehren mußte als materielle. Das hatten die Gründer nicht vorausgesehen. Heute lebt der Kibbutz viel monogamer als Tel Aviv oder Haifa. Das Ausnutzen von Attraktivität ist in dieser genau überschaubaren und überdies kommunistischen Gemeinschaft nur höchst begrenzt exerzierbar. Hier alle Möglichkeiten zu nutzen, würde den solidarischen Zusammenhalt, die Bereitschaft auch für die Genossen hart zu arbeiten, unterminieren. Eine tüchtige Arbeiterin, die mit den Männern der Genossinnen schläft, wird vom Kibbutz stärker abgelehnt als eine träge Frau, die ansonsten aber keinen Neid erregt. Eine große Kinderschar wirkt für die mit Schwangerschaft und Kinderpflege beschäftigten Frauen also auch als Ablenkung von einem brisanteren Einsatz ihrer Sexualität.

In der Kibbutzkindererziehung wird die weibliche Sexualität nicht unterdrückt. Das bedeutete in den zwanziger Jahren einen dramatischen Schritt nach vorn. Allerdings erwies sich der Glaube an eine bei Männern und Frauen gleiche Sexualität als Irrtum. Die Natur hält sich nicht an Egalitätsprinzipien und hat die Frau mit einer zehn- bis zwanzigfach stärkeren Potenz ausgestattet (Sherfey 1974). Die Kibbutz-mädchen fallen dementsprechend in der Pubertät stärker als die übrigen Mädchen in Israel, deren erotische Aktivitäten strengerer Kontrolle unterliegen, hinter die männlichen Schulleistungen zurück, die von ihnen zuvor sogar übertroffen wurden (Tiger/Shepher 1976, 263). Aus dieser Leistungsdifferenz ergibt sich wiederum ein gravierendes Problem für den Kibbutz. Er gibt allen Mitgliedern die gleiche Menge materieller Güter, weil prinzipiell auch die komplizierten Arbeiten von allen Genossinnen und Genossen einmal übernommen werden. Computertätigkeiten, Gesamtmanagement, Ingengieurwesen, Fabrikleitung, Marketing etc. stellen außergewöhnliche Anforderungen dar und bergen die Gefahr großer Fehler. Diese Arbeiten zu übernehmen, fällt allen schwer. Sie auszuschlagen, verletzt jedoch das Gleichheitsprinzip. Wer dafür keinen guten Grund angeben kann, verliert nicht nur an Ansehen, sondern verletzt den Sozialvertrag der Kommune. Lediglich Schwangerschaft und Kinderpflege kann der Kibbutz als Entschuldigung nicht gut zurückweisen. Männer dagegen können dem Vorwurf der Drückebergerei und des Versagens fast nichts entgegenstellen. Der von den Frauen betriebene Familialismus des Kibbutz ist umso stärker geworden, je mehr er seine Produktion verwissenschaftlichen mußte. Bruno Bettelheim hat davon nur die Anfänge erlebt und deshalb die entsprechenden Schlüsse noch nicht ziehen können (vgl. insgesamt Heinsohn 1990).

IV.

Vielleicht hat überhaupt der scharfsichtige Psychologe dem soziologischen Denken zu sehr mißtraut, um eine umfassende Sicht des emotionalen Klimas im Kibbutz gewinnen zu können. Denn auch der relative intellektuelle Erfolg des Kibbutznachwuchses ist Bettelheim im Grunde dunkel geblieben. Jedenfalls gewann der Autor diesen Eindruck in einer Fernsehdiskussion, die er dazu im Jahre 1979 mit dem posthüm Geehrten führte. Psychologen hatten schließlich schon in den zwanziger Jahren vorausgesagt, „daß ein System, das bereits den Säugling von der Familie, insbesondere von der Mutter, trennt und die Kinder in Institutionen aufzieht, katastrophalen Schiffbruch erleiden müsse“ (Bettelheim 1971, 273). Noch schlechter fallen diese Prognosen bekanntlich aus, wenn die Eltern der kollektiv erzogenen Kinder mit monoton-repetitiven landwirtschaftlichen und industriellen Arbeiten ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, wie das im Kibbutz der Fall ist. Mit der Frage, warum die Kibbutzerziehung nicht gescheitert ist, soll deshalb diese Auseinandersetzung mit Bettelheims „Kindern der Zukunft“ abgeschlossen werden.

Die in den Kinderhäusern tätigen Metapelets führen ihren Erfolg gerne auf die Anwendung der jeweils modernsten psychologischen Erkenntnisse zurück. Die Erfahrung mit Ländern, die – einschließlich Israels – mit viel besseren Gründen einen solchen Gesichtspunkt für sich ins Feld führen könnten, weil sie bereits seit Jahrzehnten – also viel länger als der Kibbutz – solche Erkenntnisse in professionellen Ausbildungsstätten vermitteln, in der kollektiven Erziehung aber eher abschreckend wirken, nötigt zum Zweifel am Qualifikationsargument. Meines Erachtens wirkt in erster Linie die Gesellschaftsstruktur selbst, die zwischen den Generationen einen existentiellen Zusammenhang setzt, der persönlich erfahrbar wird.

Die für die wirtschaftliche Existenz des Kibbutz erforderliche Kooperation bewirkt, daß die Kinder von allen Erwachsenen nicht nur als emotional Erwünschte, sondern auch als dringend Benötigte angesehen werden. Außerhalb des Kibbutz wird Trost für die schlechte Zensur des eigenen Kindes aus der noch schlechteren von anderen Kindern gewonnen, gegen die es konkurrieren muß. Im Kibbutz erhaschen die Erwachsenen keinen Vorteil für ihr leibliches Kind, wenn diejenigen der Genossen versagen. Jedes mißlingende Kind bedeutet für die ganze Gemeinschaft Nachteil und Kosten. Es darf deshalb nicht überraschen, daß in den westlichen Gesellschaften bei über 90% der professionellen Erzieher Gleichgültigkeit beobachtet wird, wohingegen im Kibbutz fast 80% Engagement zeigten, obwohl sie keine Fachausbildung genossen hatten (Gerson 1978, Kap. 6). Alle Kibbutzkinder besitzen die angesehene Stellung, die woanders nur ein Erbsohn erlangen kann, weshalb nicht verwundert, daß die Kibbutzkinder emotional am ehesten wie die Erbsöhne israelischer Privatbauern einzustufen waren (Avgar/Bronfen-brenner/Henderson 1977).

Die sprichwörtlich geringe Ängstlichkeit der Kibbutzkinder rührt mithin aus der Wahrnehmung, daß niemand im Kibbutz sie ernsthaft ablehnt. Sie sagen deshalb regelrecht, daß sie Kinder von Miriam und Avraham sowie vom Kibbutz Soundso sind. Sicherheit gewinnen sie aus der Erfahrung, vom Kibbutz auch dann gebraucht zu werden, wenn emotionale Konflikte auszutragen sind. Sie ziehen aus ihrer Umwelt also Wertschätzung, die gemäß der Sozialisationsforschung für das Gedeihen noch wichtiger ist als die Beteuerung und der körperliche Ausdruck von Liebe. Klagen von Erwachsenen über die Lieblosigkeit ihrer Eltern, die bei Nachforschung nicht bestätigt werden konnte, gehen darauf zurück, daß sie nicht „ihres Wertes versichert worden sind“. Ein wertgeschätztes Kind hingegen wird als Erwachsener weniger dazu neigen, „seine Leiden auf die Ablehnung durch seine Eltern zurückzuführen, selbst wenn die Eltern es als Kind auch nicht besonders liebevoll behandelt haben“ (Kagan 1987, 358).

Kibbutzkinder werden durch Launen ihrer leiblichen Eltern nicht so leicht in eine umfassende Krise gestürzt, wie das bei Kindern geschehen kann, die lediglich aus mütterlichem Sehnen in die Welt gesetzt wurden und auf keinen festen Halt zurückfallen können, wenn plötzlich eine Ablehnung eintritt. Sie sind dann zugleich ungeliebt und existentiell nicht erforderlich. Wenn sie um den Wiedergewinn der Liebe nicht mehr kämpfen können, wird die Flucht in den Narzismus ein naheliegender Ausweg.

Die besondere Gesellschaftsstruktur des Kibbutz durchschlägt die unbestreitbaren Nachteile der Kollektiverziehung und neutralisiert sie nicht unerheblich. Es ist diese aus sozialer Wertschätzung erwachsende Sicherheit, die Bruno Bettelheim beim Schauen auf die ihm prekär erscheinende direkte taktile und emotionale Sicherheit des Kibbutznachwuchses in den Kinderhäusern nicht in den Blick kommen konnte.

Dieser Beitrag wurde dem von Roland Kaufhold herausgegebenem Buch „Annäherung an Bruno Bettelheim“ (Reihe Psychoanalytische Pädagogik, Bd. 13) (336 S.) entnommen. Wir danken dem Autor für die Nachdruckrechte. Das Buch erschien 1994 – vier Jahre nach Bettelheims Freitod – beim Matthias-Grünewald- Verlag, Mainz; es ist in einer kleinen Restauflage beim Verfasser für 12 € (plus Porto) erhältlich. Der Grünewald Verlag existiert nicht mehr. Bestellung über: rolandkaufhold (at) netcologne.de

Literatur

Avgar/Bronfenbrenner/Henderson (1977), Socialization practices of parents teachers and peers in Israel: Kibbutz, Moshav and City, in: Child Development, 1219 ff.
Bettelheim, B. (1971), Die Kinder der Zukunft (1969), Wien et al.
Gerson M. (1978), Family, Women and Socialization in the Kibbutz, Lexington/Mass.
Goldschein, M. (1989), Die Kindergemeinde Beth Alfa (1929), in: L. Liegle, F.-M Konrad, Hg., Reformpädagogik in Palästina, Frankfurt/Main 116ff.
Ha-Kvutza – A Collection (1925), Tel Aviv, hebräisch
Heinsohn, G., Hg. (1982), Das Kibbutz-Modell. Bestandsaufnahme einer alternativen Wirtscnafts- und Lebensform nach sieben Jahrzehnten, Frankfurt/M.
Heinsohn, G. (1990), Geschlechts- und Generationsbeziehungen im israelischen Kibbutz, Vorlesungsskript, Universität Bremen, Sommersemester 1990
Kagan, J. (1987), Die Natur des Kindes (1984), München und Zürich
Katznelson, R., Hg. (1930), A Collection about Women Workers (Hebräisch) Tel Aviv
Porat, R. (1985), The History of the Kibbutz: Communal Education, 1904-1929, Norwood/PA
Sherfey, M.J. (1974), Die Potenz der Frau (1966), Köln
Tiger, L., Shepher, J. (1976), Women in the Kibbutz, London

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