Ein letztes Gespräch mit Bruno Bettelheim

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Der jüdische Psychoanalytiker und Pädagoge Bruno Bettelheim schied am 13.3.1990 aus dem Leben. Er war 86 Jahre alt und sehr krank. In seinen letzten Lebensjahren hatte er sein wissenschaftliches und pädagogisches Gesamtwerk abgeschlossen…

Von Roland Kaufhold

In diesen letzten Jahren sprach Bettelheim mit dem 41 Jahre jüngeren, ebenfalls – wie Bettelheim – in Los Angeles lebenden Psychoanalytiker David James Fisher über seinen Lebensweg – und seinen Wunsch zu sterben. Er vereinbarte mit Fisher – welcher ein Analysand des Wiener Emigranten, Psychoanalytikers Rudolf Ekstein war – dieses letzte Interview wegen seines persönlichen Charakters erst posthum veröffentlichen zu lassen.

David James Fisher (Los Angeles):
Ein letztes Gespräch mit Bruno Bettelheim

[English version]

„Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, ob der Mensch so viel ertragen kann, ohne Selbstmord zu begehen oder verrückt zu werden.“
Bruno Bettelheim, 1943


© Roland Kaufhold / Psychosozial-Verlag

Bruno Bettelheim beging am 13. März 1990 Selbstmord. Er hinterließ ein herausragendes und einzigartiges Werk, das 16 Bücher und eine Vielzahl anderer Schriften umfasst (vgl. Fisher, 2003, Kaufhold 2001, 2003).

Die Niederschrift dieser Unterhaltung mit Bettelheim wurde zwei Gesprächen entnommen, die ich mit ihm führte; das erste am 27. Juli und das zweite am 28. November 1988. Sie fanden in seiner Wohnung statt. Er lebte dort allein, versorgt von einer Haushälterin. Bettelheim bat mich, das Interview aufgrund der vertraulichen Natur eines Teils seines Inhaltes, insbesondere des Abschnitts über Selbstmord, nicht vor seinem Tode zu veröffentlichen (vgl. Kaufhold, 2001, 2003, Fisher, 2003).

Der Text deckt ein breites Themenfeld ab, wozu seine Gedanken über das Alter, über die Konzentrationslager, über Selbstmord, über seine Erlebnisse in den 1930er Jahren im Umkreis der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) sowie die Behandlung von schwer gestörten Kindern gehören. Eindringlichkeit und Schwermut durchziehen den Text; es ist, als habe Bettelheim fortwährend mit dem Gedanken an Selbstmord und an die Möglichkeiten, sich gegen ihn zu wehren, gerungen. Wir hören den späten Bettelheim, wie er die Themen, die ihm am meisten am Herzen lagen, zusammenfasst und über sie nachdenkt.

Altwerden ist ein physischer Verfall

David James Fisher.: Lassen Sie mich mit einer Frage zu Simone de Beauvoirs Buch über das Alter beginnen. Sie sagt, das Alter entlarve das Versagen unserer gesamten Zivilisation, und sie befürworten eine großzügigere Altenpolitik und medizinische Versorgung. Erzählen Sie mir Ihre Gedanken über das Alter.

Bruno Bettelheim: Werden Sie nicht alt! Ich denke, was die de Beauvoir vorschlägt, ist vollkommen vernünftig. Obwohl all das nicht den Kern der Sache trifft. Was ich erlebt habe, ist ein Verfall physischer Kraft und Energie, den ich nur sehr schwer ertragen kann. Es ist deprimierend. Ich sehe keinen Ersatz dafür, außer man hat den Wunsch oder das Verlangen, seine Enkel aufwachsen zu sehen – denn ich bin neugierig auf sie. Ich weiß, dass ich zu alt bin, um sie aufwachsen zu sehen, und so werde ich nicht erfahren, was sie einmal tun werden. Ich verspüre eine Schwäche, die es mir sehr schwer, wenn nicht unmöglich macht, auf die gleiche Art weiterzumachen, wie ich es gewohnt war. Und das ist die große narzisstische Wunde, mit der ich nur sehr schwer fertig werde. Das ist nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes. Das ist nichts, das nicht mit dem Verlauf des Alters zusammenhinge, doch ich mag es nicht.

D.J.F.: Es hat in der letzten Zeit bedeutsame persönliche Veränderungen in Ihrem Leben gegeben, wozu der Tod Ihrer Ehefrau, ein leichter Schlaganfall, die Besorgnis über eine Verfallserkrankung und Ängste vor dem Tod gehören.

B.B: Nein, keine Angst vor dem Tod. Nur vor einem schmerzvollen Tod. Angst vor einem verlängerten Tod. Was ich mir wirklich wünsche, ist ein schneller und leichter Tod.

D.J.F.: Sie sind nun Mitte 80. Was interessiert Sie heute?

B.B.: Wenn man älter wird, schrumpfen die Interessengebiete, zumindest in meinem Fall ist das so. Nun ja, es gibt natürlich Leute, denen es gelungen ist, diese Fähigkeit, kreativ zu sein und Interessen aufrechtzuerhalten, zu bewahren. Wenn ich heute mit der Zeit vor vier Jahren – während der Nationalwahlen – vergleiche, war ich damals sehr interessiert daran, einen der Kandidaten gewinnen zu sehen. Heute interessiert mich dieses Ereignis im Grunde nicht.

D.J.F.: Spielen Sie auf ein körperliches Gefühl der Erschöpfung an?

B.B.: Das ist sehr schwer zu sagen. Es ist ein Verfall des Interesses am Leben. Um sehr persönlich zu werden, habe ich im Grunde genommen zwei Interessen am Leben. Das eine ist meine jüngere Tochter, die schwanger ist, ihr Kind bekommen zu sehen. Und das andere, zu versuchen, ein neues Buch über Ethik zu beenden. Ich hoffe, wenigstens die Einleitung zu diesem Buch zu Ende zu bringen.

Erniedrigende Erfahrungen

D.J.F.: Ich möchte auf Buchenwald und Dachau und das Erlebnis des Konzentrationslagers zu sprechen kommen. Wir sprachen über Primo Levis Gefühl einer drückenden Last auf Seiten der Überlebenden. Er sagt, dass die Erfahrung der Konzentrationslager von denen, die es nicht selbst erlebt haben, in historischer und in psychologischer Hinsicht nicht verstanden werden könne. Es ergibt sich eine paradoxe Situation für die Überlebenden der KZs, dass sie das Gedenken an dieses nicht nicht zu verstehende Erlebnis bewahren müssen. Können Sie etwas dazu sagen?

B. B: Es ist ein Erlebnis, das so überwältigend ist, tatsächlich so voller Widersprüche, dass es sehr schwer ist, damit fertig zu werden. Ich glaube, dass jeder, der, eine Zeit in einem deutschen Konzentrationslager zugebracht hat – es muss nicht unbedingt ein Vernichtungslager sein -, ein Gefühl der Schuld und der Scham niemals los wird. Es ist eine so erniedrigende Erfahrung, dass man sich gezwungen fühlt, sie nicht zuzulassen, sondern die eigene Schuld abzuwehren. In einer lebensbedrohlichen Situation muss man seine normalen Reaktionen unterdrücken. Das Problem ist, dass man fühlt, dass niemand wirklich versteht, was man durchgemacht hat.

D.J.F.: Können Sie das etwas spezifischer ausdrücken? Stimmen Sie Primo Levi zu, der sagt, dass die Untergegangenen und die Geretteten eins seien? Er weist auf ein Ausmaß von Wut und Scham unter den Holocaust-Überlebenden hin. Er betont die Notwendigkeit, die Vergangenheit nicht sentimental zu betrachten oder zu idealisieren. Im Gespräch über diese Frage erwähnten Sie jene besonders aufschlussreiche Geschichte von Ihrem Vetter in Dachau. Möchten Sie wieder über ihn sprechen?

B.B.: Er war schon in Dachau, als ich dort ankam. Er gab mir einige gute Ratschläge. Der Ratschlag war: Wann immer Du eine Möglichkeit hast zu schlafen, schlafe; wann immer Du eine Möglichkeit hast zu essen, iss! Ich fand heraus, dass dies ein sehr guter Ratschlag war, denn einige der Gefangenen, besonders jüdische Gefangene, waren sehr verwöhnt; sie konnten den Fraß, den man uns vorsetzte, nicht essen. Wenn man ihn nicht aß, verlor man alle Kraft zum Überleben. Man brauchte auch nur wenig Schlaf, also versuchte man zu schlafen, wann immer man zehn oder fünfzehn Minuten Zeit zum Ausruhen hatte. Das Interessante sind dabei die Träume. Im Konzentrationslager träumte ich selten von Haft oder Gefangenschaft. Ich träumte von glücklichen Anlässen, von…

D. J. F.: Wunscherfüllende Träume?

B.B.: Ja, und sie waren sehr hilfreich. Andererseits träumte man, als man befreit war, davon, nicht raus zu kommen. Das waren Angstträume. Das Interessante war also, dass man im KZ diese Angstträume nicht hatte, weil man nicht in der Lage gewesen wäre, mit ihnen fertigzuwerden.

D.J.F.: Sie hatten genug Realangst.

B.B.: Das ist wahr.

Man muss sich davon abhalten, das zu tun, was man so sehr versucht ist zu tun

D.J.F.: Erzählen Sie nun die Geschichte, – ich weiß, das ist schmerzhaft, – wie Sie in einer Reihe antreten mussten und wie Ihr Vetter angegriffen wurde.

B.B.: Was meinen Vetter betrifft, so wurde er nicht angegriffen; er brach einfach zusammen. Er wurde ohnmächtig und fiel zu Boden. Und dann wurde er natürlich von der SS getreten und so weiter, und ich konnte ihm nicht zu Hilfe eilen.

D.J.F..: Niemand hätte ihm zu Hilfe eilen können.

B.B.: Man muss sich davon abhalten, das zu tun, was man so sehr versucht ist zutun. Das ist eine sehr schwierige Erfahrung. Sehr beschämend. Sie geht mit dem Gefühl einher, dass so viele Leute, die so gut wie man selbst, vielleicht besser, waren, ermordet wurden. Sie lässt tiefe Gefühle der Schuld und der Scham aufkommen.

D.J.F.: Ihm herauszuhelfen würde Ihr eigenes Leben in Gefahr gebracht haben.

B.B.: Sehr sogar. Ohne ihm wirklich zu helfen.

D.J.F.: Und diese besondere Episode taucht in Ihrer Erinnerung als ein Beispiel für die moralische Zwiespältigkeit in den KZs auf?

B.B.: Ja, sehen Sie, um in den KZs zu überleben, musste man ein guter Kamerad sein, denn man brauchte immer jemanden, der einem half. Die Leute halfen einem nicht, wenn man nicht das gleiche für sie getan hatte. Es gibt ein Erlebnis, das mich mehr und mehr belastet – die „Muselmänner“. Sie waren lebende Leichname, unfähig, selbständig zu handeln; sie alle starben sehr schnell. Was ich in einigen Alterspflegeheimen gesehen habe, gleicht den Lagern so sehr, dieselben psychologischen Bedingungen.

Hoffnung nicht verlieren

D.J.F.: Lassen Sie mich nach Ihrer Ansicht über das Kapitel Der Intellektuelle in Auschwitz in Primo Levis Buch Die Untergegangenen und die Geretteten fragen. Es dreht sich hauptsächlich um den Philosophen Jean Amery. Levi spricht über die Moral des Zurückschlagens. Wir wissen, dass Levi selbst unfähig war, Schläge zurückzugeben, auf Gewalt mit gewaltsamen Formen der Selbstverteidigung zu antworten. Ist das ein besonderes Vermächtnis der Intellektuellen, die die KZs überlebten, oder ist das etwas Allgemeingültiges?

B.B.: Ja, ich würde gern über die Intellektuellen reden. Wichtig war, dass man sich selbst be¬wies, dass der eigene Verstand noch arbeitete. Das bedeutete eine Menge, es verschaffte einige Selbstsicherheit. Die Hauptsache war, die Hoffnung nicht zu verlieren.

D.J.F.: Hatte ein Intellektueller ein anderes Verhältnis zur Frage der Hoffnung als ein Nicht-Intellektueller?

B.B.: Das ist schwer zu sagen. Ich musste mich so verhalten, wenn ich überleben wollte. Obwohl ich wusste, dass alle Wahrscheinlichkeit dagegen sprach. Doch wenn man sich nicht die Hoffnung zu eigen machte, dass man überleben würde, hätte man nicht all die Bestimmungen erduldet. Man konnte sein Leben beenden. Es war sehr einfach – alles, was man zu tun brauchte, war, in den elektrischen Zaun zu rennen. Ich kann Ihnen erzählen, was uns die älteren Gefangenen sagten, als wir in Dachau ankamen. Sie sagten, wenn ihr die ersten Monate überlebt, habt ihr eine gute Chance, das erste Jahr zu überleben; wen ihr das erste Jahr überlebt, habt ihr eine gute Chance, die ganze Zeit zu überleben. Es gab gewisse Einstellungen, die man sich praktisch sofort angewöhnen musste. Eine war, dass wir die Erniedrigung akzeptieren mussten, ohne in einen andauernden Zustand der Wut zu geraten, der einen aller inneren Kraft beraubt hätte. So beobachtete ich Dachau, während ich in Dachau war. Es war, als wären wir – technisch gesprochen – von dem Erlebnis in Dachau abgetrennt gewesen. Manchmal verhielt man sich, als beobachte man eher einen Fremden, als sich selbst.

D.J.F.: Sie mussten eine Art aufgespaltener Existenz leben?

B.B.: Genau. Eine Spaltung im Ich.

D.J.F.: Ich möchte Ihre Ansichten über die Last und Scham der Überlebenden von Konzentrationslagern erfahren, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit des Selbstmordes. Ich denke dabei nochmals an Primo Levi und seinen offenbaren Selbstmord. Und ich würde gern etwas über die existentielle und psychologische Nähe zum Tod wissen, die die Überlebenden der KZs wie ein Erbe mit sich tragen.

B.B.: Ich möchte keine theoretischen Betrachtungen anstellen. Die Erlebnisse im KZ verwüsten das Ich, denn das Ich kann einen nicht länger beschützen. Das Ich wird defizitär. Je¬de empfindsame Person erlitt eine sehr ern¬ste Schwächung des Ich, oder, wir können auch sagen, es wird schwierig, den Todestrieb einzudämmen. Man vertraute nicht länger darauf, dass das Ich fähig sei, zu funk¬tionieren.

Eine destruktive Erfahrung

D.J.F.: Wie kommt es, dass dieses Erlebnis besonders bei den Leuten, die darüber geschrieben haben, die Zeugnis darüber abgelegt haben und die versucht haben, das Gedenken daran zu verewigen, selbst nach dreißig oder vierzig Jahren des Durcharbeitens ¬noch immer solch eine Gewalt behält?

B.B.: Das ist richtig. Im Grunde bedeutet darüber zu schreiben und darüber nachzudenken, sich daran zu erinnern. Man erinnert sich, wie unzulänglich das eigene Ich war; es ist eine schmerzhafte und verwirrende Erfahrung, das zu untersuchen und zu erinnern. Mein Standpunkt ist der, dass, wenn jemand diese Erfahrungen mit so vielen blutigen Phantasien durchlebte, der Todestrieb so überwältigend feindselig war. Es war eine destruktive Erfahrung.

D.J.F.: Selbst als Opfer?

B.B.: Das stimmt. Auch als Opfer. Das zu untersuchen zwingt einen dazu, aufzudecken und zu sehen, wie überwältigend der Todestrieb und wie schwach die Abwehr gegen ihn ist.

D.J.F.: Zu einem solchen Ausmaß, dass es zu einer Neigung zum Selbstmord führen könnte?

B.B.: Das ist wahr. Das ist wahr.

D.J.F.: Ich möchte, dass Sie über die Last und die Scham der Überlebenden der KZs und insbesondere über die Neigung, Selbstmord zu begehen, nachdenken. Gibt es da einen unvermeidlichen Verlust einer Abwehr gegen den Tod?

B. B.: Das ist immer eine sehr persönliche Sache: die Neigung, an Selbstmord in einem realistischen Sinn zu denken. In der Vergangenheit hatte ich etwas sehr wichtiges, wofür ich gelebt habe. Aber jetzt, im Alter, insbesondere seit dem Verlust meiner Frau, gibt es den Wunsch, oder den Gedanken, an Selbstmord. Ich möchte das nicht öffentlich machen.

Freundliche und ermutigende Atmosphäre

D.J.F.: Ich möchte Sie nach Ihren frühsten Erinnerungen an die Freudsche Wiener Psychoanalytische Vereinigung fragen. Ich weiß, dass sie wie eine zweite Familie für Sie war.

B.B.: Ich habe eigentlich überhaupt keine Erinnerungen an diese Gesellschaft, sondern vielmehr an diejenigen, die zu ihr gehörten. Denn, sehen Sie, ich war noch kein Mitglied. Ich war sehr eng mit Wilhelm Reich (vgl. Fallend & Nitzschke, 2003) befreundet, und ich habe bereits Fenichel erwähnt, der ebenfalls ein guter Freund wurde, ebenso wie andere. Ich wurde darüber unterrichtet, was vor sich ging.

D.J.F.: Lassen Sie mich nach dem Zeitraum fragen, als Sie ein Kandidat waren und nach Ihren Erinnerungen daran, wie die Kandidaten behandelt wurden. Was für ein allgemeines Klima beherrschte damals die Ausbildungsphase?

B.B.: Es war ein sehr freundliches und ermutigendes Erlebnis, denn ich wurde, wie alle Kandidaten zu dieser Zeit, von Anna Freud und Paul Federn interviewt. Und während der Unterredung mit Anna Freud betrat ihr Vater den Raum und sie stellte mich ihm vor, worauf er erwiderte: „Einen Bettelheim braucht man mir nicht vorzustellen!“ Er war als Student häufig im Hause meines Großvaters gewesen, und er freundete sich mit einem Onkel von mir an, der mit ihm zusammen beim Militär war. Er kannte die Familie. Und dann fragte er nach meinem Hintergrund. Ich erzählte ihm, dass ich Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie studierte. Freud sagte: “ Das ist genau die Personengruppe, die wir in dieser Gesellschaft brauchen, um das Übergewicht der Mediziner auszugleichen, die keine allgemeine Bildung und keine allgemeinen Interessen haben.“ Das war also sehr ermutigend für mich; jeder verhielt sich mir gegenüber sehr ermutigend.

Kameradschaft aber auch Skepsis

D.J.F. :Erinnern Sie sich daran, ob es in Wien eine Offenheit für kritische Debatten gab, in denen ein Infragestellen der Orthodoxie möglich war, und wurden Forschung und unabhängiges Denken gefördert?

B.B.: Freud war ein sehr skeptischer Mensch, der sehr freundlich sein konnte, der aber auch sehr schneidend sein konnte, denn er ertrug Dummköpfe nicht gut. Ich kann Ihnen einen Vorfall erzählen, der sich zutrug. Er wurde mir von Wilhelm Reich geschildert, der zu dieser Zeit eines der führenden Mitglieder der Wiener Schule war. Während einer Diskussion, die in der Vereinigung abgehalten wurde, deutete jemand an, dass es zum Wohl für die gesamte Menschheit sein könnte, wenn alle führenden Staatsmänner einer Analyse unterzogen würden. Es entwickelte sich eine lebhafte Debatte. Freud sagte dabei nicht viel; er war krank. Schließlich wandten sie sich an ihn. Er sagte, er sei erfreut, dass seine Schüler eine solch hohe Meinung von der Psychoanalyse hätten. Er hielt einen Moment inne und schaute im Zimmer umher. Dann sagte er: „Wenn ich mich in diesem Zimmer umschaue und daran denke, dass alle von Euch analysiert worden sind, kann ich nicht anders als skeptisch sein.“ Das war typisch.

D.J.F.: Es herrschte eine Atmosphäre, die von Freuds Skepsis durchdrungen war. Doch dies stand bestimmten Formen der Forschung und des kritischen Denkens nicht im Wege, so lange man nicht zu weit von Freuds eigenem theoretischen Modell abwich?

B.B.: Ich weiß nicht. Ich hatte immer den Verdacht, dass Freud niemals die Kinderanalyse akzeptiert hätte, wenn sie nicht von seiner Tochter begründet worden wäre. Sie wissen, gerade mit Kindern, man kann sie nicht auf die Couch legen und einfach analysieren. Man muss mit ihnen spielen und aktiv werden, etwas, das in Freuds Augen nicht sehr angemessen für die Analyse war. Es gab persönliche Gründe dafür, dass er Abweichungen vom klassischen Modell zuließ.

D.J.F.: Es würde mich interessieren zu erfahren, was Ihr Eindruck von der Laienanalyse in Wien war. Ihre Geschichte über Freud ist aufschlussreich, doch ich möchte wissen, ob es eine besondere Art von Offenheit dafür gab. Gab es so etwas wie eine Kameradschaft unter den Laienanalytikern?

B.B.: Ja, es gab eine Kameradschaft unter uns allen. Es war eine belagerte Gruppe, die zusammenhalten und einander unterstützen musste. Ich glaube, dass die Frage der Laienanalyse kein ernster Streitpunkt war, denn es gab viele Laienanalytiker, und ich habe Ihnen gerade erzählt, wie Freud auf meine Ausbildung reagierte.

Wilhelm Reichs Lebendigkeit steckte an

D.J.F.: Sie haben einige Male erwähnt, dass Wilhelm Reich Ihr Freund war; Sie nennen ihn Willi. Sie haben sich oft über seine Originalität und Kreativität, insbesondere im Zeitraum von den Zwanzigern bis in die frühen Dreißiger Jahre bis ungefähr 1933 geäußert, der Zeit von Reichs Büchern Charakteranalyse und Die Massenpsychologie des Faschismus. Welches waren die Besonderheiten von Reichs psychoanalytischem Denken?

B.B.: Was mich am meisten beeindruckte, war seine Vitalität. Er war voller Temperament. Er regte sich über Dinge auf, und er war ein sehr lebendiger Bursche.

D.J.F.: Und die Leute in seiner Umgebung wurden ebenfalls von seiner Lebendigkeit angesteckt?

B.B.: Ja.

D.J.F.: Erzählen Sie von Ihren Ansichten über den Einfluss Anna Freuds auf die Wiener Gruppe in den frühen und mittleren Dreißiger Jahren, nachdem Reich aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen wurde. War es bekannt, dass sie von ihrem Vater analysiert worden war?

B.B.: Es war bekannt, aber es wurde geheim gehalten. Obwohl es bekannt war, wurde es sehr geheim gehalten, dass sie von ihrem Vater analysiert worden ist. Aber andererseits wurden in jenen Tagen die Kinder von Analytikern oftmals von ihren Eltern analysiert; das war nicht so außergewöhnlich.

D.J.F.: Und ihr Einfluss? Wuchs sie an Gestalt, als Reich ausgeschlossen wurde? Und als sie begann, sich der Veröffentlichung ihres Buches Das Ich und die Abwehrmechanismen zu nähern?

B.B.: Die Schwierigkeit ist, dass ich nicht glaube, dass Das Ich und die Abwehrmechanismen geschrieben worden wäre, wenn Reich nicht zuvor seine Charakteranalyse veröffentlicht hätte.

D.J.F.: Haben Sie das Gefühl, dass es irgendwie Ihre Antwort auf Charakteranalyse ist, ihre gemäßigtere Fassung?

B.B.: Nein, es ist keine gemäßigte Fassung, aber die ganze Vorstellung von der Analyse des Widerstandes in ihrem Buch, das waren Gedankengänge, die sich in den Seminaren, in denen Willi Reich sprach und in denen sie als eine Studentin teilnahm, aufgetan hatten.

D.J.F.: Würden Sie auf der Grundlage Ihrer Erfahrungen sagen, dass die Zukunft der Psychoanalyse nicht allein in den Händen von Klinikern liegen sollte, sondern eher in den Händen von unabhängig gesinnten Forschern und Intellektuellen?

B.B.: Nun ja (lacht), im Grunde müsste ich da gegen mich und meine eigenen Erfahrungen sprechen. Ich habe die Universität als einen besonders wichtigen Ort für die Freiheit des Denkens und die Großzügigkeit in der Anerkennung abweichender Meinungen empfunden, was ein sehr bedeutender Bestandteil in der zukünftigen Entwicklung jeder Wissenschaft ist. Doch die Psychoanalyse als solche eignet sich nicht besonders gut für die akademische Karriere. Ich meine, dass die Weiterentwicklung der Psychoanalyse auf klinischer Erfahrung aufgebaut sein muss. Ich hatte immer den Eindruck, dass es eine schwierige Aufgabe ist, hauptberuflich Psychoanalyse zu praktizieren, weil man zu sehr von seinen Patienten in Anspruch genommen wird. Man verbringt all seine Zeit mit den Sprechstunden, und es bleibt keine Zeit, um sich seine eigenen Gedanken zu machen. Freud konnte das: den ganzen Tag über Patienten sehen und dann nachts jene Abhandlungen schreiben; doch gibt es nur wenige Freuds unter uns. Der Fortschritt in der Psychoanalyse wird von Leuten kommen, die die Zeit haben, über ihre Erfahrungen nachzudenken.

Arbeit mit autistischen Kindern

D.J.F.: Sie haben Ihre Jahre in Chicago als die glücklichsten und schöpferischsten in Ihrem Leben beschrieben. Gleichwohl war die Aufgabe, die Sie übernahmen, eine der schwersten, wenn nicht gar unmöglich, nämlich das Verstehen der inneren Welt und der psychologischen Vorgänge autistischer Kinder. Was war Ihr innerer Antrieb, mit den am wenigsten zu fassenden Fällen zu arbeiten?

B.B.: (lacht) Das ist eine lange Geschichte. Es begann im Grunde in Wien, wo Anna Freud ein autistisches amerikanisches Kind sah. Ein stummes amerikanisches Kind. Sie dachte, es würde interessant sein, herauszufinden, was die Psychoanalyse für solch ein abnormes Kind tun könne. Doch um eine Wirkung zu erzielen, würde das Kind in einem Haushalt leben müssen, der vollständig psychoanalytisch durchorganisiert ist. Eine Stunde pro Woche, sechs Stunden pro Woche, würden nicht ausreichen; es würde Tag und Nacht sein müssen. Aufgrund eines komplizierten Zusammentreffens von Umständen kam diese Mutter dann zu uns, meiner (ersten) Frau und mir. Wir nahmen dieses Kind in unser Haus auf, als ein Experiment für ein paar Monate; dieses Experiment dauerte sieben Jahre, bis zum „Anschluss“. Es war eine faszinierende Erfahrung, mit diesem Kind zu leben und zu arbeiten. Ich versuchte, ihr dabei zu helfen, mit dem Sprechen zu beginnen und in der Schule zu lernen. Es war eine faszinierende Erfahrung.

D.J.F.: Was war Ihre Motivation? Warum wollten Sie die therapeutische Arbeit mit den Unheilbaren übernehmen?

B. B.: Es war eine Möglichkeit für mich, mit dem Erlebnis des Konzentrationslagers fertig zu werden. Es war das Gegenteil dieser Erfahrung im Konzentrationslager, das die Persönlichkeit vorsätzlich zerstörte, wenn man es lernte, Persönlichkeiten wiederaufzubauen.

D.J.F.: Bei dieser besonderen Gruppe von Patienten, wie bewertet man da, was ein klinischer Erfolg, eine Heilung ist ?

B.B.: Wenn man mit anfangs hoffnungslosen Fällen beginnt, kann man sie niemals heilen; man kann sie nur soweit wiederherstellen, dass sie in der Gesellschaft funktionieren können. Sie behalten gewisse sonderbare Eigenheiten bei.

D.J.F.: An der Orthogenic School fand niemand ohne Erlaubnis Einlass, und jeder konnte zu jeder Zeit gehen. Manche Leute haben das ein lobenswertes Experiment mit einem utopischen Konzept genannt, nicht im abwertenden, sondern eher im deskriptiven Sinn des Wortes. Würden Sie dieser Beschreibung zustimmen?

B. B.: Nein, ich glaube, wir taten das, was die Patienten brauchten. Ich glaube nicht, dass es utopisch ist, das Richtige für den Patienten zu tun. Es scheint das einzig Angemessene zu sein.

Literatur

Bettelheim, B. (1943): Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen. In: Erziehung zum Überleben. dtv. München, 1980.
Bettelheim, B. & Ekstein, R. (1994): Grenzgänge zwischen den Kulturen. Das letzte Gespräch zwischen Bruno Bettelheim und Rudolf Ekstein. In: Kaufhold, R. (Hg.) (1994), S. 49–60.
Ekstein, R. (1994): Mein Freund Bruno (1903–1990). Wie ich mich an ihn erinnere. In: Kaufhold (Hg.) (1994): S. 87–94.
Fallend, K./Nitzscke, B. (Hg.) ((2002): Der „Fall“ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Fisher, D. J. (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim unter Mitarbeit von Roland Kaufhold et. al., Gießen (Psychosozial-Verlag). http://www.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=281
Fisher, D. J. (2003a): Ein letztes Gespräch mit Bruno Bettelheim. In: Fisher (2003), S. 133-158.
Fisher, D. J. (2003b): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele. In: Fisher (2003), S. 73-98.
Fisher, D. J. (2003c): Zum psychoanalytischen Verständnis von Faschismus und Antisemitismus. In: Fisher (2003), S. 99-122.
Fisher, D. J. (2003d): Ermutigung zum Spiel. In: Fisher (2003), 123-132.
Fisher, D. J. (2003e): Hommage an Bruno Bettelheim (1903–1990). In: Fisher (2003), S. 173-177.
Kaufhold, R. (Hg.) (1994): Annäherung an Bruno Bettelheim, Grünewald, Mainz (nur noch beim Autor für 12 € erhältlich: Bestellung über: rolandkaufhold (at) netcologne.de).
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung, Psychosozial-Verlag, Gießen. www.suesske.de/kaufhold-1.htm
Kaufhold, R. et. al. (2003) : Einleitung. In : Fisher (2003), S. 24-69.
Levi, P. (1990): Die Untergegangenen und die Geretteten. Hanser, München.
Reich, K. (1994): Bettelheims Psychologie der Extremsituation. In: Kaufhold (Hg.) (1994), S.134–155.
Reich, K. (1995): „… dass nie wieder Auschwitz sei!“ Gedanken über ein dekonstruktivistisches Erziehungsideal. Internet: http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/reich_works/aufsatze/reich_19.pdf
Wirth, H.-J. (2005): Narcissism and Power. Psychoanalysis of Mental Disorders in Politics. Gießen (Psychosozial-Verlag). http://www.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=480

David James Fisher ist Kulturhistoriker und praktizierender Psychoanalytiker in Los Angeles. Er ist Professor für klinische Psychiatrie an der UCLA School of Medicine, Senior Faculty Member des Psychoanalytischen Instituts in Los Angeles sowie Trainer und Supervisor am Institute of Contemporary Psychoanalysis.

Diese Studie wurde David James Fisher (2003) Buch „Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim unter Mitarbeit von Roland Kaufhold et. al., Gießen (Psychosozial-Verlag). entnommen und von Roland Kaufhold für diese haGalil-Veröffentlichung gekürzt. Wir danken dem Psychosozial Verlag (www.psychosozial-verlag.de) und seinem Inhaber Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth für die freundliche Abdruckgenehmigung.

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