Die letzten Juden

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In Beirut versucht eine kleine Gemeinde, die jüdische Geschichte und Kultur wieder zu beleben. Angefangen wird mit dem Wiederaufbau der Synagoge im Statdzentrum. Im einzigen arabischen Land, in dem es nie eine Judenverfolgung gab, ist das Verhältnis zu Israel heute jedoch sehr gespannt…

Von Hannah Wettig
Jungle World v. 4. März 2010

»Ich bin der letzte arabische Jude, der letzte, der das Licht ausmacht«, sagt Sasson Somekh. Der emeritierte Professor für arabische Literatur in Tel Aviv meint das nicht wörtlich. »Natürlich bin ich nicht der einzige, natürlich gibt es noch ein paar wenige – in Marokko zum Beispiel«, schiebt er nach. »Aber die Geschichte ist zu Ende. Dass Juden in arabischen Ländern leben, wird es niemals wieder geben.«

Der gebürtige Iraker gilt in Israel als Koryphäe. Er ist Mitbegründer der Abteilung für arabische Sprache an der Universität von Tel Aviv und Träger des Israel-Preises 2005, der höchsten Auszeichnung des israelischen Staates. Und er gibt eine Meinung über die Juden aus arabischen Ländern wieder, die in Israel und in der restlichen Welt sehr verbreitet ist.

Aber er hat Unrecht. Die Geschichte der Juden in der arabischen Welt ist nicht zu Ende, zumindest wünscht sich das eine kleine, aber gut organisierte jüdische Gemeinde in Beirut.

Im vergangenen Sommer hat die Gemeinde begonnen, ihre Synagoge in der libanesischen Hauptstadt zu restaurieren. Die 1926 errichteten Sandsteinmauern sind während des Bürgerkriegs weitgehend intakt geblieben. Nur das Dach war unter der israelischen Bombardierung in westlichen Teil der Stadt 1982 eingestürzt, der Gebetsraum wurde verwüstet. Seit Mitte November vergangenen Jahres ist das Dach nun frisch gedeckt. Derzeit wird der Innenraum hergerichtet.

Die Baustelle befindet sich in der Nähe des Serails, das seit der Osmanenzeit Regierungssitz ist, inmitten einer riesigen, ovalförmigen Ausgrabungsstätte. »Das alte Judenviertel Wadi Abu Jamil hatte ursprünglich genau die Form eines Hippodroms«, und als solches sei es auch von den Römern benutzt worden, erläutert Hans Curvers, der niederländische Chefarchäologe der Stadtentwicklungsfirma Solidere. Die Firma betreibt den Wiederaufbau der Innenstadt, dafür hat sie zahlreiche Wohn- und Geschäftshäuser gekauft. Moscheen, Kirchen und Synagogen verblieben im Besitz der Gemeinden. Das Unternehmen Solidere leistet einen Beitrag zu ihrem Wiederaufbau. Für die Avraham-Maghen-Synagoge stellt das Unternehmen 150 000 US-Dollar bereit, eine Million Dollar soll die Restaurierung insgesamt kosten.

Vom alten Judenviertel in Beirut ist sonst nicht viel übrig geblieben. An der Grenze zwischen Ost- und Westbeirut gelegen, standen hier ab 1975 die »sozialistischen« und muslimischen Milzen aus dem Westen den libanesisch-nationalistischen, christlichen Milizen aus dem Osten gegenüber. Später übernahmen schiitische Kämpfer das Viertel. Die Hizbollah versteckte hier ihre Geiseln. Der Regisseur Volker Schlöndorff drehte im Jahr 1981 nur eine Straße weiter den Film »Die Fälschung«.

Heute klaffen hier, zwischen prächtigen Jugendstilvillen mit französischen Gärten, 15 Meter tiefe Baugruben für künftige Luxushotels. Nur vier historische Bauten sind in diesem Teil der Altstadt erhalten geblieben.

In einem davon wohnt über einem kleinen Lebensmittelgeschäft Lisa Srour. Sie ist die einzige Jüdin, die hier noch zu Hause ist. Allerdings nicht mehr lange, denn das Haus steht kurz vor dem Abriss. Die Türen der Nachbarhäuser sind bereits zugemauert. Die Bewohner wurden umgesiedelt. In Lisa Srours Wohnung blättert der Putz von den Wänden, die hölzernen Türen faulen. Srour ist froh, aus ihrer Wohnung herauszukommen, und hofft auf eine gute Abfindung von Solidere. Es heißt, die Miete liege in dieser Gegend bei bis zu 100 Dollar für den Quadratmeter. Das mag eine Übertreibung sein, Solidere gibt jedoch dazu keine Auskunft. Hier können sich jedenfalls nur reiche Libanesen eine Wohnung leisten. Zwei Straßen oberhalb der Synagoge erheben sich drei Villen, die der Familie des Regierungschefs Saad Hariri gehören, dessen Vater, der ehemalige Premierminister Rafik Hariri, im Februar 2005 ermordet wurde und nach Angaben des Wirtschaftsmagazins Forbes zu den reichsten Männern der Welt gehörte.

Ob sie den Spiegel mitnehmen dürfe, fragt sich Lisa Srour. Es ist ein Holzimitat aus den siebziger Jahren mit Garderobenhaken – die letzte Erinnerung, die ihr an ihre Eltern geblieben ist. Die Familienfotos habe sie verbrannt, als 1976 die syrische Armee einmarschierte. »Vor den Syrern hatte ich große Angst«, sagt sie.

Sie kennt die Geschichten vieler jüdischer Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien, die seit den vierziger Jahren Schutz in Beirut suchten. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten in Syrien an die 40 000 Juden, im Irak waren es rund 150 000, schätzt das UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen. Wie im Libanon lebten sie auch in anderen arabischen Staaten lange in relativer Sicherheit.

Doch bereits vor der Gründung des Staates Israel begann ihre Vertreibung. Es war die Zeit der arabischen nationalistischen Bewegungen. Der Nationalismus wurde in vielen arabischen Ländern zunächst von säkularen arabischen Christen propagiert und bezog sich von Anfang an auf nationalistische deutsche Vordenker wie Johann Gottlieb Fichte und Johann Gottfried Herder. In den dreißiger Jahren bekam der arabische Nationalismus eine deutlich nazistische Note. Der Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, befürwortete die Ausrottung der Juden.

Als die Briten 1937 Husseini als Präsidenten des Islamischen Hochkommissariats in Palästina absetzten, kam er zunächst nach Beirut. Auch dort hatte seine Agitation Erfolg. Es gab antijüdische Demonstrationen, drei Bomben explodierten in den folgenden Jahren im Stadtteil Wadi Abu Jamil. Doch nach dem Kriegseintritt Frankreichs musste Husseini Beirut verlassen, und die antijüdischen Ausschreitungen hörten auf.

Später agitierte er von Berlin aus, wo die Nazis ihm ein Radiostudio zur Verfügung gestellt hatten, um die antisemitische Stimmung in der arabischen Welt anzuheizen. Aber erst mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurde die Verfolgung der Juden in arabischen Ländern systematisch. In Syrien etwa wurden Juden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, ihre Konten wurden eingefroren, in Damaskus galt eine Ausgangssperre für sie.

In den folgenden Jahren verließen mehr als 30 000 Juden Syrien, 120 000 flohen aus dem Irak. Viele von ihnen suchten Schutz im Libanon. Dort vergrößerte sich die jüdische Gemeinde auf rund 24 000 Mitglieder.

Anders als in anderen arabischen Ländern hielt der libanesische Staat zu seinen jüdischen Bürgern. Während der arabisch-israelischen Kriege 1948, 1967 und 1973 stellte die libanesische Armee Wachposten rund um das jüdische Viertel auf, um die Bewohner zu schützen. Staatliche Diskriminierung beschränkte sich darauf, 1948 die jüdischen Feiertage aus der Liste der offiziellen Feiertage zu streichen, wie die in London lehrende Historikerin Kirsten Schulze in ihrem Buch »The Jews of Lebanon« (Die Juden des Libanon) schreibt.

Überdies hatten die Juden in Libanon einen starken Verbündeten, die Kataib-Partei der maronitischen Christen. Diese damals größte Minderheit sah den Libanon als Heimstatt der Christen. Die Juden im Libanon wie in Israel und den palästinensischen Gebieten betrachteten sie als natürliche Verbündete gegen die Übermacht der Muslime in der arabischen Welt. Juden wurden Mitglied dieser Partei, die von ihrem Gründer Pierre Gemayel übrigens nach dem Vorbild deutscher Naziorganisationen aufgebaut wurde. In der Jugendorganisation der Partei erhielten jüdische junge Männer ein Kampftraining und später, kurz vor dem Bürgerkrieg, Waffen.

Aber auch die Muslime betonten stets, dass die jüdische Gemeinde ein integraler Bestandteil der libanesischen Gesellschaft sei. Als die PLO 1982 das jüdische Viertel in Beirut einnahm, erklärte Yassir Arafat, er stehe persönlich dafür ein, dass den verbliebenen Bewohnern kein Haar gekrümmt werde. Daran erinnert sich Lisa Srour noch gut. »Wir waren in dem Nonnenkloster untergekommen, als Arafats Leute kamen und uns Käse und Süßspeisen brachten.«

Später nahmen die schiitischen Milizen der Amal und der Hizbollah das Viertel ein. Noch heute hängen an der Fassade von Srours Haus Plakate, auf denen die bärtigen Führer der Partei abgebildet sind, darunter Hassan Kassir, der erste Selbstmordattentäter der Amal-Bewegung. Angst habe Srour deshalb allerdings nie gehabt. »Ich bin mit vielen Frauen befreundet, die der Amal angehören«, erzählt sie, »im Bürgerkrieg kamen sie jeden Freitag und brachten uns Taboule«, einen libanesischen Salat.

Die Mittfünfzigerin trägt ein ärmelloses braunes Stricktop, Jeans und Lidschatten. Sie spricht Französisch und Arabisch durcheinander, mit einer deutlichen Vorliebe für das Französische. Wären da nicht die schlecht gearbeiteten Stiftzähne, könnte man sie für eine Angehörige der wohlhabenden Bürgerschicht halten, zu der sie wohl einst gehörte. Französisch lernte sie auf dem jüdischen Lycée. Ihrem Großvater gehörten drei Häuser in Wadi Abu Jamil, sagt sie. »Aber sie haben sie weggenommen. Während des Bürgerkriegs waren hier christliche und muslimische Milizen. Es war eine umkämpfte Gegend.«

Weiß sie nicht, wer ihrer Familie die Häuser nahm? »Doch«, sagt sie, »es waren Christen.« Aber es sei ihr nicht so wichtig. Die Buchhandlung, die ihr Vater betrieb, musste er auch abgegeben. »Mit vorgehaltenem Revolver haben sie ihn gezwungen, dass er für 50 000 Dollar verkauft.« Sie hält sich selbst den Finger an die Schläfe. »Das waren aber die Muslime«, sagt sie, »Leute aus dem Süden, mehr kann ich nicht sagen. Sie machen mir Angst.«

Sie meint damit wohl die Hizbollah. In den achtziger Jahren gab es zahlreiche Entführungen von Juden, die den Islamisten zugeschrieben werden. Es ist aber auch möglich, dass Christen ihrem Großvater die Häuser weggenommen haben. Griechisch-orthodoxe Christen leben seit Jahrhunderten in Beirut. Sie trieben Handel, und die Juden waren ihre direkte Konkurrenz, viele Christen waren Anhänger des arabischen Nationalismus und standen damit in Opposition zum libanesischen Nationalismus der Maroniten.

Ein nennenswertes jüdisches Leben gab es schon damals nicht mehr in Beirut. Tausende Juden verließen 1958 das Land, während des ersten libanesischen Bürgerkriegs des 20. Jahrhunderts. Die meisten Juden waren wohl syrischer Herkunft und »extrem nervös« angesichts ihrer Erfahrungen in Syrien, wie der damalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dr. Attie, dem Innenminister Emile Eddé mitteilte. Eddé hatte die Juden aufgefordert, im Land zu bleiben. Die Libanesen seien nicht glücklich über die Auswanderung der Juden, da sie die jüdische Gemeinde als wichtigen Garanten des konfessionellen Gleichgewichts betrachteten.

In den sechziger Jahren lebten noch 5 000 Juden im Libanon, allein in der Innenstadt Beiruts standen drei Synagogen. Doch mit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 nahmen die Spannungen zu. Um die arabischen Nationalisten zu beruhigen, sah sich die Regierung gezwungen, Juden im Staatsdienst aufzufordern, sich eine andere Arbeit zu suchen. Zugleich strömten Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge ins Land, sie quartierten sich unter anderem in den verlassenen Gebäuden im jüdischen Viertel ein. Die meisten der verbliebenen Juden wanderten zu Beginn des Bürgerkriegs 1975 und 1976 aus, zermürbt vom allnächtlichen Geknatter der Kalaschnikows und vom Beschuss ihrer Häuser an der Frontlinie. Der letzte Rabbi verließ 1978 den Libanon.

Derzeit leben in dem Land, aus dem die islamistische Hizbollah-Miliz regelmäßig Israel beschießt, nicht mehr als 50 jüdische Familien. Nach Aussage des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Isaac Arazi, kommen weitere 1 000, die noch Wohnungen und Häuser besitzen, regelmäßig zu Besuch.

Mit der Restauration der Synagoge soll nun das jüdische Gemeindeleben in der Stadt gefördert werden. Keinesfalls solle die Synagoge ein Museum werden, schreiben die Macher der Website www.thejewsoflebanonproject.org. »Wir hoffen, dass die Gemeinde wieder wachsen wird«, zitierte die Nachrichtenagentur AFP Isaac Arazi in einem seltenen Interview.

In der Regel spricht Arazi nicht mit Journalisten. Wer ihn am Telefon erwischt, erhält vage Antworten. Nur ein Spendenaufruf kommt per E-Mail: Für die Innenausstattung – Kronleuchter, Torahbogen und Bänke – appelliert die jüdische Gemeinde dringend an Spender aus aller Welt. Das heißt, aus fast aller Welt. Aus Israel darf sie keine Spenden annehmen, denn der Libanon befindet sich mit dem südlichen Nachbarn im Kriegszustand. Dies, so vermuten einige, sei auch der Grund für Arazis Scheu vor der Öffentlichkeit. Es gab da mal eine Großspende eines Schweizer Unternehmens, wie eine Nachrichtenagentur berichtete. Dann aber stellte sich wohl heraus, dass einer der Eigentümer einen israelischen Pass hatte.

Die Haltungen im einzigen arabischen Land, in dem es nie eine Judenverfolgung gab, sind derzeit widersprüchlich. In der landesüblichen Toleranzrhetorik haben Vertreter aller Konfessionen und selbst die Hizbollah den Wiederaufbau der Synagoge aufs Wärmste begrüßt. Die Libanesen sonnen sich sogar ein wenig in ihrer Judenfreundlichkeit. Nur kann dies bedeuten, dass, wie 2005 geschehen, auch ultra-orthodoxe Rabbiner aus den USA eingeladen werden, die dann im libanesischen Fernsehen die Gründung des Staates Israel verdammen.

Ein Film wie »Schindlers Liste« gilt im Libanon als zionistische Propaganda. Im November erst empörte sich die Hizbollah in ihrem Fernsehsender darüber, dass an libanesischen Schulen das »Tagebuch der Anne Frank« gelesen wird. Das Buch wurde voriges Jahr erstmals ins Arabische übersetzt. Ein Anwalt der Hizbollah ist davon überzeugt, dass die Verleger des Tagebuchs strafrechtlich belangt werden, denn alles, was zur Normalisierung der Beziehung mit Israel beitragen könnte, ist im Libanon verboten.

Isaac Arazi sagte zwar in einem Exklusivinterview, das er der libanesischen Tageszeitung al-Safir Mitte Februar gab: »Wenn wir Angst hätten, würden wir das nicht machen.« Aber er betont gleich mehrfach, dass es keine Beziehungen zu Israel gebe und doch auch die Hizbollah zwischen den libanesischen Juden und Israel unterscheide.

Da fragt sich, wie sicher es ist, eine Synagoge mitten im Stadtzentrum auch als solche zu nutzen. Lisa Srour ist skeptisch. »Warum sollten hier wieder Juden herkommen?« Trotzdem freut sie sich über den Wiederaufbau der Synagoge. Sie war dort häufig mit ihrer Mutter und ihrem Großvater. »Aber jetzt ist sie wohl für Touristen«, sagt sie.

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