Der Weg zur Erkenntnis: Das Gebot des Forschens

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Jede „gute Idee“ wird versuchen sich zu immer größerer Bestimmtheit und Klarheit durchzuringen. Daraus folgt, so Leo Baeck, das Gebot des Forschens. Um die Gotteslehre müsse man sich bemühen. Der Wahrheitsgehalt der Schrift muss erst, im Forschen, Lernen und Lehren, errungen werden…

Es wurde ein Gebot, das über vieles ging, das Gebot die Schrift zu erforschen. Forschen heißt, etwas weniger als Gegebenes als vielmehr als Aufgegebenes ansehen. Dazu passt keine Starrheit, kein Zwang, keine Gebundenheit, keine Unveränderlichkeit. Der bloße Autoritätsglaube ist damit ausgeschlossen.

Die Torah selbst ist progressiv, so Baeck:
… „Die Bibel schreitet selber fort, jede Zeit erwarb ihre eigene Bibel. Welch bezeichnender Unterschied ist zwischen dem, was ein Philo, was ein Akiba, was ein Maimonides, ein Mendelssohn aus der Schrift erfahren hat. Sie haben das gleiche Buch, und doch ist es jedem von ihnen in vielem ein anderes.
Wie es schon der Talmud des öfteren sagt: jede Zeit hat ihre eigenen Erklärer der Schrift. Und wie es vor allem ausgesprochen ist in jener wundersamen Legende von Moses, der den Rabbi Akiba die Torah des Moses erläutern hört und seine eigene Torah nicht wiedererkennt. Man war sich bewußt, die Bibel immer neu zu schaffen.“…

Die Pflicht des Forschens gebietet das Weiterdenken und Vorwärtsschreiten. Sie macht das Ende immer wieder zum Anfang, die Lösung immer wieder zum Vorwurf. Daher auch der Wunsch, das alte Wort immer wieder zu erfassen und zu erklären, immer wieder den anderen Standpunkt, auch den des Widerspruches, zu ihm zu gewinnen, das Gefühl ihm gegenüber, nie fertig zu sein, als ein Suchender ihm immer nachzugehen.

Begünstigt wurde dies dadurch, dass es im Judentum immer unwichtiger wurde, wer etwas gesagt hatte, als vielmehr was jemand gesagt hatte. Der Autor trat hinter sein Werk zurück, wurde oft ganz außer acht gelassen. Die Person sollte nicht im Mittelpunkt bleiben und nicht als gebietend und beschränkend bei ihrem Wort stehend wahrgenommen werden. Dadurch, dass die Idee mehr ins Zentrum trat, als ihr Verkünder, konnte größere Freiheit entstehen.

Übertroffen wird die Wichtigkeit dieses Grundsatzes nur durch die Bedeutung der Form der „Heiligen Schrift“, die gewissermaßen als Ganzes unausgearbeitet, unbeendet und systemlos ist und nur „Bruchstücke einer großen Konfession“ abgibt.

Vieles bleibt offen, fragenreich – und auch dadurch gebietet sie das Weiterdenken. Was sie bloß andeutet, konnte und musste weiter ausgeführt werden. Was in ihr zwiespältig schien, musste man auszugleichen suchen, was sie freigab, auszufüllen trachten.

…“Die Heilige Schrift ist im Judentum das Beständigste und das zum weitesten Hinausführende. In ihrer Eigenschaft als Kanon ist sie das Element des Beharrens – denn es ist dasselbe Buch, das immer wieder alles religiöse Sinnen und Forschen an sieh zieht. Aber eben so sehr ist sie der wirksamste Faktor des Fortschritts durch das, was sie dem Glauben ist, durch die schöpferische Kraft, die in ihren Ideen lebt, durch die ganze Art ihres Stiles.“…

Was für die schriftliche Lehre gilt, gilt ähnlich für die mündliche Lehre. Der Talmud, die mündliche Lehre, nimmt von der Heiligen Schrift, insbesondere der Torah, der schriftlichen Lehre, das geforderte Weiterdenken auf. Schon in ihrem Begriffe liegt es, wie mit Recht hervorgehoben worden ist, dass sie keinen Abschluss finden kann; sie ist nirgends fertig. Sie konnte niedergeschrieben, aber nicht eingegrenzt werden. Auch sie wirkte fort als ein wichtiges Element der Freiheit und der Entwickelung.

Die religiöse Selbstgewißheit

So vermochte man allem Überlieferten mit einer Selbständigkeit gegenüberzutreten, die in ihrer Bestimmtheit oft unterschätzt wird. Es wird zu wenig beachtet, wie sicher z. B. die mündliche Lehre mit Inhalten der schriftlichen Lehre umgeht und sich erlaubt Geringeres dem Höheren unterzuordnen. Biblische Gebote wurden verglichen und gegeneinander abgewertet. Man bemühte sich, tragende religiöse Grundgedanken festzustellen. Sie wurden bald in diesem, bald in jenem Worte der Schrift gefunden: in der Forderung der Nächstenliebe und in der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, in der frommen Gewissheit des Vertrauens auf Gott und in der durch das Leben betätigten Gotteserkenntnis. Neue Maßstäbe wurden an das heilige Buch angelegt, man begann es zu prüfen und zu beurteilen.

Die Wege zur Bibel

Das „ich aber sage euch“ ist kein neues Wort einer späteren Zeit; es lässt sich schon bei den Propheten und Psalmisten vernehmen. Wir hören es klar in dem Worte, dass der Mensch sein Herz beschneiden solle, dass er sein Herz zerreißen solle und nicht sein Gewand, in dem Worte von der Liebe, die Gott wohlgefälliger ist als Opfer, von dem zerschlagenen Gemüte, das Gott dargebracht werde, von der Lehre, welche Gott in das Innere des Menschen legen und in sein Herz schreiben wird.

Aus dem Talmud klingt uns der gleiche Ton deutlich entgegen; wir brauchen ihn nur in seine Form, die er verlangt, zu fassen, um ihn so zu uns sprechen zu lassen. Wir hören ihn dann mannigfaltig:

–  „Ihr habt gehört, dass sechshundert und dreizehn Gebote dem Moses verkündet wurden; ich aber sage euch: durchsuchet nicht die Torah, denn so spricht der Ewige zum Hause Israel: suchet mich, und ihr werdet leben“.
–  „Eure Lehrer zählen euch auf, wie vieles die Torah gebietet; ich aber sage euch: das Werk der Liebe ist so viel wert, wie alle Gebote der Lehre“.
–  „Ihr Frommen sucht das Entbehren und geht dem Erschweren nach – habt ihr denn nicht an dem genug, was die Torah verboten hat, dass ihr auch noch verbietet?“
–  „Es ist zu den Alten gesagt: wer des Gerichtes schuldig ist, den soll das Gericht töten. Ich aber sage euch: ein Gericht, das in siebzig Jahren einen tötet, selbiges Gericht ist ein Rat der Mörder“.
–  „Ihr wisst, dass in der Torah gesagt ist: wer gesündigt hat, der bringe ein Opfer, und er ist gesühnt; ich aber sage euch: Gott spricht: der Sünder tue Buße, dann ist er versöhnt“.
–  „Ihr habt gehört: Gott sucht die Schuld der Väter heim an Kindern und Kindeskindern. Ist nicht aber nach Moses ein anderer Prophet aufgestanden in Israel und hat das Wort gesprochen: Nur die Seele, die sündigt, stirbt!“

Also selbst zu einem Satze der Zehn Gebote setzte man als bestimmende Wahrheit ein anderes Bibelwort!

Diese Beispiele lassen den Weg erkennen, auf welchem religiöses Denken und Fühlen damals seiner selbst bewusst geworden ist. Sie zeigen es, wie das eine Mal einem Worte der Bibel ein anderes, das Tieferes und Innerlicheres zu bedeuten schien, entgegengeführt wird, um die bestimmende Antwort zu geben, bald wieder das sittliche Empfinden um seine Entscheidung angerufen wird, bald wieder das Wesen des Gottes der Liebe, als das oberste Gesetz, welches den Spruch fällt, vor den suchenden Sinn hintritt. Und das alles ist nichts Vereinzeltes, nicht gelegentliche Äußerung eines Abseitsstehenden, sondern Lehre von Männern, die als „die Weisen“ gelten, die dem Volk Meister und Lehrer wurden.

Die (nicht so) neue Bedeutung

Daß es nichts Zufälliges und nichts Vorübergehendes war, ergibt sich daraus schon, wie vieles sich zu einer Richtung vereint. Alle die menschlichen und körperlichen Eigenschaften, welche die Torah Gott beizumessen schien, wurden mit stetiger Absicht in die geistige Sphäre erhoben. In dem Wesen und der Bedeutung alter Feste wurde ihr religiöser und sittlicher Charakter entschiedener hervorgehoben, sie wurden fortgebildet und ein Weg weitergeführt, den die alten Satzungen der Heiligen Schrift bereits erkennen lassen.

Viele alte Begriffe wurden mit bestimmterem und reicherem Inhalt erfüllt. Aus dem Gottesnamen, den die Bibel zumeist gebraucht, begann man so die Betonung „der Allbarmherzige“ herauszuhören; überall, wo man ihn vernahm, erfuhr man jetzt von der Liebe des Ewigen. Von dieser göttlichen Eigenschaft kündete schon sein Name, und damit bezeugte jedes Blatt der Heiligen Schrift, dass er sich wie ein Vater seiner Kinder erbarmt, dass der Ewige sich derer erbarmt, die ihn fürchten, dass er im Zorn die Liebe nie vergisst.

In dem Worte der Bibel, das ursprünglich die Gerechtigkeit benennt, wurde die Bedeutung der Billigkeit und der Güte gefunden, die der Gerechtigkeit ihr Maß geben sollen, um sie zur lebendigen Gerechtigkeit zu machen, und diese strenge Tugend wurde so schließlich in ihrem Begriffe zur Mildtätigkeit. Wenn die Bibel ihre Verkündigung an den Menschen schlechthin richtet, so entdeckte man darin die Rede von dem Menschentum, das alles Trennende, alle Unterschiede der Abkunft überbrückt, so dass „ein Heide, der nach der Torah trachtet, so hoch steht wie ein Hoherpriester in Israel“. Wenn der Psalm von der Vernichtung der „Sünder“ redet, so wurde der Charakter des betreffenden Wortes dahin gefasst, dass es von der Vernichtung der „Sünden“ spricht. Nicht der Böse, sondern das Böse wird verdammt. „Mögen die Sünden von der Erde schwinden, und es wird Frevler nicht mehr geben.“…
>> Fortsetzung…

pp. 18 [Philosophie und Lehre]
„Das Wesen des Judentums“ v. Rabbiner Leo Baeck

Einmalige Sonderausgabe des Gesamtwerkes. Das Vermächtnis eines der wichtigsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts. Eine Einladung, Leo Baeck (wieder) zu entdecken.Für Leo Baeck waren Lehren und Tun eins. Das Judentum sah er als die stets gegenwärtige Verantwortung für die Welt und ihren Bestand. In Theresienstadt war er der Tröster und Helfer: H.G. Adler verglich ihn mit einem Leuchtturm im Tränenmeer der Verzweiflung; seine Gegenwart im Lager vermittelte vielen Menschen Mut und Hoffnung.
Der 50. Todestag von Leo Baeck war 2006 Anlass für die Herausgabe einer Sonderausgabe der Werke Leo Baeck. Zwei Arbeiten ragen aus dem Gesamtwerk heraus: Sein Frühwerk Das Wesen des Judentums (1905) und sein Spätwerk Dieses Volk. Jüdische Existenz (1955), das als ein großes Vermächtnis gelesen werden kann, in dem sich die Gedanken dieses Systematikers moderner jüdischer Theologie vollenden. Gleichzeitig ist diese Werkauswahl eine Einführung in die Lehre und auch das Leben Leo Baecks.
Das Werk: Band 1: Das Wesen des Judentums Band 2: Dieses Volk Band 3: Wege im Judentum Band 4: Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5: Nach der Schoa – Warum sind Juden in der Welt? Band 6: Briefe, Reden, Aufsätze…

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