Bruno Bettelheim und das Überleben im Konzentrationslager (1994)

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Es gibt eine große Anzahl von Büchern, die von Opfern der Konzentrationslager geschrieben wurden. Bruno Bettelheim gehört zu ihren Autoren. Er ist dadurch ausgezeichnet, dass er der erste war, der psychoanalytische Aussagen über das Verhalten im Konzentrationslager gemacht hat. Er kam zu dem allgemeinen Schluss, dass Identifikation mit dem Angreifer einer der wichtigsten Abwehrmechanismen und damit die Voraussetzung des Überlebens war…

Von Ernst Federn

Dieser von Sandor Ferenczi gefundene und von Anna Freud populär gemachte Ausweg aus einer gefährlichen Situation wurde zuerst für das Verhalten von Kindern beschrieben. Sie spielen das gefürchtete Objekt; indem sie selber zum Hund oder Löwen werden, vermeiden sie die Angst vor der Gefahr. Da Bettelheim und ich dieses Verhalten im Lager beobachten konnten, hat Bettelheim darüber in einem Aufsatz „Individual and Massbehavior in Extreme Situations” geschrieben und diesen im Journal of Abnormal and Social Psychology, 38, 1943, publiziert. Er wurde dafür berühmt und galt als der Experte in Fragen des Überlebens extremer Situationen. Später begründete und leitete er die Orthogenic School für Kinder an der Universität von Chicago und wurde dadurch zu einem der Pioniere der Milieutherapie. Bettelheim behauptete, dass seine Lagererfahrungen mitgeholfen haben, diese ungeheuer schwierige Arbeit mit geistesgestörten Kindern zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Den Ruhm für diese Arbeit kann ihm niemand streitig machen. Die völlige Anpassung des Milieus an das Leben eines Kindes, das mit den normalen sozialen Mühen nicht fertig wird, ist heute ein anerkanntes Prinzip. Indem man so lebt, wie das geistig kranke Kind es verlangt, das Milieu dem Zustand seines Lebens anpasst, kann man dieses langsam ändern und schließlich eine Angleichung an die Normalität erlangen. Für verwahrloste Jugendliche hat Fritz Redl es bereits im Pioneer-House in Detroit am Ende der vierziger Jahre versucht. Im Grunde gehen alle diese Arbeiten auf August Aichhorn in Wien zurück. Er hat gezeigt, dass der latente Grund der Delinquenz vom manifesten Verhalten genau unterschieden werden muss. Milieutherapie passt sich dem latenten Inhalt an, um die manifesten Erscheinungen zu verändern. Sie beruht auf der Entdeckung des Unbewussten durch Freud, geht aber dann ganz andere Wege als die Psychoanalyse der Neurosen. Die latenten Phänomene werden gedeutet, indem sie im Milieu wiederholt werden, in der Tat und Wirklichkeit, nicht in Worten.

Foto: Ernst Federn 1994 an seinem Urlaubsort im Defereggental in Österreich, © Roland Kaufhold

So schrecklich das innere Leben des geisteskranken Kindes und seine Ängste auch sein mögen, es kann mit dem, was die Insassen der Konzentrationslager erlebt haben, nicht gleichgesetzt werden. Subjektiv gesehen kann dieses Leben als Hölle beschrieben werden, und es mag ein schrecklicheres Leben führen als irgend jemand im Lager, aber objektiv gesehen sind die beiden Bedingungen nicht vergleichbar. Was dem Konzentrationslagerhäftling angetan und womit er bedroht wurde, ist etwas völlig anderes als was einem geisteskranken Kind geschieht, es mag subjektiv das letztere auch ärger sein.

Als Bettelheim ins Lager kam, war das ein furchtbarer Schock, später wurde es für ihn besser, und er war nur etwa neun Monate in Haft. Nun war der Haftzustand für Juden im Lager deshalb so schlimm, weil sie immer am Leben bedroht waren. Ein toter Jude war immer mehr wert als ein lebendiger. Selbst privilegierte Gefangene wie ich, der ich als Nachtwächter und Maurer gearbeitet habe, waren immer bedroht, ihre Privilegien zu verlieren und umgebracht zu werden. Aber von dieser immer präsenten Gefahr abgesehen war das Leben eines privilegierten Häftlings in Buchenwald von dem eines Gefangenen in Ausschwitz sehr verschieden. Privilegiert heißt, geschützt vor Schlägen und Gewalt, wie Nachtwache und Maurerkommando. Meiner Meinung nach, die auch von anderen Autoren geteilt wird, die gar nicht im Lager waren, und von Opfern anderer Katastrophen mitgeteilt werden, besitzt der Mensch einen Überlebenstrieb, der sich einschaltet, wenn das Leben selbst bedroht wird. Der Körper allein entwickelt Abwehrkräfte, alles Seelische verschwindet. Psychoanalytisch gesprochen regrediert das Ich zu einem Zustand des Säuglings, der mit Hilfe des Körpers eines Erwachsenen ums Überleben kämpft und manchmal auch diesen Kampf gewinnt. Ob das Ich diese Traumatisierung durchhält, ist sicherlich individuell sehr verschieden. Wir sehen hier eine Beziehung zwischen dem Ich des geisteskranken Kindes und den Opfern des Konzentrationslagers, nur war Bettelheim niemals in einem solchen seelischen Extremzustand. Er stellte erst später diese Verbindung her.


Ernst Federn 1974, © Psychosozial Verlag & Roland Kaufhold

Bruno Bettelheim war insofern ein schwieriger Mensch, als er sich im sozialen Leben üblichen Formen nicht leicht anschließen konnte. Ich hatte mit ihm, mit Ausnahme des Augenblicks, in dem wir uns trafen, niemals einen Konflikt. Obwohl ich dieses Treffen schon einmal beschrieben habe, will ich es hier noch einmal darstellen. Wir kamen von Dachau nach Buchenwald Ende September an sehr schönen sonnigen Herbsttagen. Da man noch nicht wusste, was mit uns anzufangen war, wurden wir zum Ziegelschupfen für einen Bau eingeteilt. Man wirft etwa einen Meter voneinander stehend, einander die Ziegel zu. Der Mann neben mir ließ jeden zweiten Ziegel fallen. Ich wurde böse und rief ihm zu: „Warum lässt Du Niemand alle Ziegel fallen!” Die Antwort kam prompt: „Sind das Deine Ziegel, was geht das Dich an? Ich bin Bettelheim.” „Und ich bin Federn.” „Was Federn? Verwandt mit Paul?” – „Ich bin sein Sohn.” Damit war die Freundschaft besiegelt. Das war der einzige Konflikt, den ich seitdem mit Bettelheim hatte. Aber Freunde erzählten mir, dass er ziemlich schwierig im Umgang war. Ich erlebte seine Ausbrüche zweimal: Gegen einen Psychologen, der ein Bewunderer von Ghandi und Luther King war. Bettelheim brüllte mit ihm herum, diese Leute benützen keine Waffen und taugen nichts. Das andere Mal in einem Seminar schrie er einem Diskutanten, der seine Meinung über Schizophrenie nicht teilte, zu: „Ich bin von einer Amme großgezogen und nicht paranoisch geworden.” Berühmt wurde Bettelheim auch durch die Geschichte mit einer Studentin an der Universität von Chicago, die in der ersten Reihe sitzend während Bettelheims Vortrag strickte. Er unterbrach und sagte: „Masturbieren Sie nicht.” Sie antwortete: „Wenn ich stricke, so stricke ich, und wenn ich masturbiere, masturbiere ich.” Hierher gehört auch seine Kritik am Vater von Anne Frank, nicht einen Revolver gebraucht zu haben. Für einen Mann wie Bettelheim, der wegen seiner Augen niemals mit einem Revolver hätte umgehen können, ist das alles ein wenig merkwürdig.

Man darf aber nicht vergessen, dass Bettelheim ein sehr erfolgreicher Autor und sehr gesuchter Vortragender war. Er hatte eine Frau und drei Kinder und wurde 86 Jahre alt. Ich erlebte ihn 1988 bei einer Feier in Österreich, bei der er sehr entsprechend dem Bundeskanzler im Namen aller Gäste als Ältester der Anwesenden dankte. Die Kritik an der Art seines Selbstmordes ist für mich völlig unverständlich. Krank, alt und arbeitsunfähig, tat Bettelheim meiner Meinung nach das einzig Richtige.

Ich glaube, dass die breite Öffentlichkeit niemals die seelischen Zustände der Opfer des Nationalsozialismus nachvollziehen kann und sie daher auch niemals wirklich verstehen wird. Der Holocaust war ein Ereignis von historischer Außergewöhnlichkeit, weil er in einem hochzivilisierten Land geschah. Der Rückfall einer Gesellschaft wie der deutschen auf die Einstellung des Altertums, in dem Völker ohne Bedenken ausgerottet wurden, ist einfach unmöglich. Bettelheim versuchte es noch in einer Weise zu erklären, die verständlich war, daher sein großer Erfolg.

Literatur

Bettelheim, B. (1943): Individual and Mass Behavior in Extreme Situations. In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 38, October: S. 417–452. Deutsche Fassung: Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen. In: Bettelheim (1960), S. 47–57.
Bettelheim, B. (1964): Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M. (Fischer).
Bettelheim, B. (1980): Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. München (dtv).
Federn, E. (1992): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Bemerkun¬gen eines Zeitzeugen. In: Luzifer-Amor: Hitlerdeutungen, Nr. 9, S. 43–47.
Federn, E. (1999): Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Federn, E. (1999a): Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Kaufhold (Hg.) (1999), S. 35–75.
Kaufhold, R. (Hg. 1994): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mainz (Grünewald) (nur noch beim Autor für 12 Euro erhältlich: roland.kaufhold (at) netcologne.de)
Kaufhold, R. (Hg.) (1999): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen (Psychosozial-Verlag). http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=47
Kaufhold, R. (1999a): Material zur Geschichte der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik: Zum Brie¬fwechsel zwischen Bruno Bettelheim und Ernst Federn. In: Kaufhold (1999), S. 145–172 (auf englisch, 2008: Documents Pertinent to the History of Psychoanalysis and Psychoanalytic Pedagogy: The Correspondence Between Bruno Bettelheim and Ernst Federn. In: The Psychoanalytic Review , (New York), Vol. 95, No. 6/2008, S. 887-928).
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Mit einem Geleitwort von Ernst Federn. Gießen (Psychosozial-Verlag). http://web.psychosozial-verlag.de/psychosozial/details.php?p_id=1069
Kuschey, B. (2003): Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstruktur des Konzentrationslagers. Band I und II. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Diese Studie ist zuvor erschienen in Kaufhold, R. (Hg., 1994): Annährung an Bruno Bettelheim (Reihe Psychoanalytische Pädagogik, Bd. 13) (336 S.), Matthias-Grünewald- Verlag, Mainz. Einzelne Exemplare sind beim Verfasser für 12 € (plus Porto) erhältlich. Der Verlag existiert nicht mehr. Bestellung über: rolandkaufhold (at) netcologne.de.

9 Kommentare

  1. Denke, dass Frankl grundsätzlich Bettelheims Auffassungen in dieser Hinsicht, es geht um ein Höchstmaß an Autonomie, geteilt hat, finde als Beleg im Augenblick nur diese eine Quelle im net:

    „Höre Israel“
    Jüdische Religiosität in nationalsozialistischen Konzentrationslagern

    „[…] Ob unter diesen Umständen die Aufgabe bisheriger Werte und ethischer Handlungsmaximen das Ãœberleben ermöglichte oder behinderte, ist Gegenstand unterschiedlicher Theorien geworden, für die vor allem die Namen Bruno Bettelheim und Terrence des Pres stehen. Das Ãœberleben im Konzentrationslager, so die Kernthese Bettelheims, der sich später u. a. auch Viktor Frankl anschloß, war allein durch ein weitgehendes Festhalten an ethischen Werten und Handlungsmustern und damit den Erhalt der autonomen Persönlichkeit, eines Mindestmaßes an Selbstkontrolle und Selbstachtung möglich. […]“

  2. Haben Sie Informationen darüber, ob es Kontakte zwischen Bettelheim und Frankl, der ebenfalls das Konzentrationslager überlebt hat, gab? Frankl hat einen meiner Kenntnis nach anderen Ansatz, Gefahrensituationen zu überleben. Sind die beiden je in Kontakt gekommen oder in einen gedanklichen Austausch getreten?

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