David Heimann, 1934: Jeroschalajim

1
42

David Heimann (geb. 1864), 1934: Tagebuch über meine Reise nach Erez Israel…

14.5.1934.

Jeruscholajim. Aus dem neuen Stadtteil begeben wir uns die Jaffastrasse hinunter durch die alte Stadt zum Jaffa-Tor, sehen dort den Davidsturm und unter uns das Gehinnom-Tal, wo zur Zeit des Götzendienstes Kinderopfer stattfanden. Von dort führt der Weg nach Bethlehem. Wir sehen das Kidron-Tal und das Josafat-Tal. Die Stadtmauer wurde von Suliman dem Prächtigen vor 400 Jahren erneuert, doch sieht man am Fusse der Mauer noch Wallfragmente aus der Zeit des Herodes. Wir gehen an  der Burg Hasael vorbei zur Davidstrasse und durchstreifen den mohammedanischen Basar. Schmale Gassen, treppauf, treppab, Geschrei, Getümmel, alle möglichen Waren, Gemüse, Früchte, Eier. Araber, zerlumpte Bettler, Juden, Popen, Weiber mit irdenen Krügen und Lasten auf dem Kopfe, Orangensaft-Verkäufer, Wasserverkäufer mit Ziegenfellschläuchen, verschleierte Moslim-Frauen, Kinder. Fez, Turban, Kappije. Kaftanjuden, Jüdinnen aus Buchara, Aegypten. Wir winden uns zur Klagemauer durch. Heute ist Rausch Chaudesch Ziwan. Daher Hunderte von jüdischen Männern und Frauen aus allen Ländern. An der Gegenseite sitzen arme Juden auf der Erde, Almosen heischend. An der Klagemauer stehen alle, auf der linken Seite Frauen, teils ihre schwangeren Leiber an die Mauer drückend, an der rechten Seite Männer. Alle sagen Tehillim, weinen und klagen, einige mit Tallessim über dem Kopf. Tief erschüttert lehne ich meinen Kopf an diese Mauer, im Geiste an das zerstörte Heiligtum und das vergossene Blut denkend. Ganz links Jahrzeitlämpchen. Fünf Reihen Quadersteine stehen auf der alten Herodes-Mauer, darunter sollen noch 19 Reihen Quadern vom Salomonischen Tempel in der Erde stehen.

Wir stehen dann auf dem unteren Tempelplatz auf dem Berge Moria und sehen das westliche Haupteingangstor, wo das Synhedrion tagte. Dann betreten wir den oberen Tempelplatz, vor uns die Omar- Moschee, achteckig, welche über die Spitze des Moria gebaut ist, und zwar an der Stelle, wo im Beth Hamikdosch das Allerheiligste stand. Die Omar-Moschee von aussen mit Fayencen verziert, innen mit herrlichen Mosaiken, Marmorsäulen, vergoldeten Kapitellen und Kuppeln, bunte Fenster, Boden mit herrlichen Teppichen belegt. Vor Betreten der Moschee werden uns heilige Schuhe angezogen. Wir sehen im innersten Teil das grössten Heiligtums die Spitze des Berges Moria, für uns Juden heilig durch Abraham, der hier seinen Sohn opfern sollte. Wir sehen ferner einen Schrein, welcher Haare aus dem Barte Mohammede birgt, die nur am Ramadan dem Volke gezeigt werden.


Bilder aus dem Reise-Tagebuch

Innerhalb des Allerheiligsten in einem Gewölbe von Felsen sehen wir den Opferaltar unserer alten biblischen Zeit. Gegenüber der Omar-Moschee betreten wir die Aksa-Moschee, früher Kreuzfahrerkirche. An der Ostseite Mosaiken, überall Teppiche. Die Kanzel wurde vor 700 Jahren von Saladin aus Zedernholz kunstvoll geschnitzt und mit Elfenbein ausgelegt gespendet.

Nun sind wir auf der Südost-Seite des Tempelplatzes, dessen Steinquadern zweitausend Jahren Trotz boten. Blick auf das Kidron-Tal. Wir wenden uns und schauen in das Josafat-Tal. Steilste Seite der alten Festung. Blick auf den Oelberg, den jüdischen Friedhof. Vor uns das Grab Absaloms, rechts davon Grabstätte einer Hohepriester-Familie und das Grab des Propheten Secharia. Der obere, spätere Teil, auf dem wir stehen, hat vom Tempelplatz gerechnet sechs Meter Höhe, dagegen aussen bis ins Tal hinunter sechzig Meter. Kolossale Mauerdicke. Wir gelangen zum Goldenen Tor, dem Haupteingang zum Beth Hamikdosch. Sodann sind wir an der Burg Antonia des Herodes, die auch die Feste der Makkabäer war. Wir kommen dann zum Löwentor. Wir stehen dann am Palaste des Pontius Pilatus und betreten die Via Dolorosa von Jesus und sehen die Leidenskirche. An jeder der neun Leidensstationen befindet sich eine Kapelle oder Kirche. Es erscheint die Grabeskirche und der Kreuzigungsplatz Golgatha.



Bilder aus dem Reise-Tagebuch

14.5.34

Nachmittags. Wir fahren durch das Damaskus-Tor vorbei an Schaar Schechem, Schaar Herodes, links Skopus und Oelberg , hinunter ins Josafat-Tal. Bei der Kirche Gethsemaneh stehen 2000 Jahre alte Olivenbäume, unter welche sich Jesus flüchtete, von Judas seinen Verfolgern verraten und darauf gefangen. Vorbei rechts und links an jüdischen Friedhöfen. Noch einmal sehen wir Absaloms Grab. Wir halten, um an dieser Stelle das wundervolle Panorama der vor uns liegenden Heiligen Stadt zu geniessen.

Nunmehr fahren wir an der alten Wasserquelle Siloa vorbei, an welcher ein Tunnel zur Wasserversorgung aus der Zeit des Hiskia ausgegraben wurde. Nunmehr passieren wir das arabische Dorf Bethania, wo Lazarus durch Jesus geheilt worden sein soll.

Vor uns liegt die Wüste Judäa , in die wir jetzt hineinfahren. Kahle, hohe Berge, eine eigenartige Formation, ohne Baum und Strauch. Aus einer Höhe von 780 m über dem Meeresspiegel gelangen wir allmählich bis 200 m u.d.M. nach Jericho. Vermöge einiger Quellen ist Jericho eine Oase in der Wüste. Palmen, Bananen, Früchte, Gemüse, Papaeja-Früchte (japanische Melonenart). 2000 arabische Seelen, 20-25 Juden. Wir klettern in die Höhe und betrachten die Ausgrabungen des alten biblischen Jericho. Von dieser Höhe sehen wir ferne die Berge von Edom, Hoab und Ammon und denken mit Bewunderung an Israels Eroberungszug, welcher über den Jordan ging, an die Kundschafter und an Rahab und die Erlösung Jerichos durch Josua. Ganz fern sehen wir die Spitze des Berges Nebo, von wo Moses in das verheissene Land schauen durfte und dann starb.

Wir setzen unsere Fahrt fort und kommen immer tiefer bis 400 m u.d.M. Es ist sehr heiss. Vor uns das Tote Meer, Jam Hamelach, 76 km lang, 8-10 km breit, bis 400 m tief. Rechts die Berge von Nassada, links die Einmündung des Jordan in das Salzmeer. Dort sollen Sodom und Gomorrha   gestanden haben. Vor uns am Ufer die Pottash Company zur Ausbeutung des Toten Meeres und seiner Mineralien. Es werden Kali, Jod, Brom und andere wichtige Mineralien gewonnen und nach vielen Ländern ausgeführt. Beamte- Arbeiterwohnhäuser, neu gebaut, Badehauser, Restaurant, Kur- und Badebetrieb.

15.5.34.

Wir besuchen das nationale Kunstinstitut Bezalel, bewundern diese einzigartige jüdische Kunstsammlung und sehen Gebrauchs- und Kultgegenstände, welche bis in die Zeit von 1800 v.Chr. zurückreichen und der dritten Broncezeit angehören, alte Münzen aus jüdischer und Römerzeit, Steinkästen für Gebeine. Mit diesem Nationalmuseum ist auch die Kunstschule verbunden. Sodann fahren wir zum Monumentalgebäude des Keren Kajemeth; zwei weitere Neubauten sind fertig, und zwar ein Gebäude für Keren Hajessod und ein Gebäude für die Zionistische Exekutive. Alle drei Im Halbkreis gelegenen Gebäude sind miteinander verbunden, sozusagen nunmehr das Hauptquartier für die ganze jüdische Welt. Wir besuchen im Keren Kajemeth die verschiedenen Abteilungen: Propaganda, Industrie, Ausstellungs-, Finanz- und Boden-Abteilung, sodann das Sitzungszimmer des Präsidiums, dasTheodor Herzl-Zimmer, besichtigen die ausgelegten fünf Goldenen Bücher für Stifter. Gegenüber ist z.Zt. durch einen getauften Juden ein Missionshaus gebaut worden, doch wird dieses durch den Neubau des Beth Am, einer Synagoge und eines Erweiterungsbaues so eingeschlossen, dass es unsichtbar wird.

Der neue Vorort Rechawia wird von uns besichtigt. Alles neue Häuser. Es wird fieberhaft weiter gebaut. Wir fahren am jüdischen Gymnasium vorbei, ebenso am englischen Heldenfriedhof, am Auguste Viktoria-Haus, welches leer steht, und gelangen zur Universität auf dem Skopus-Berge. Was hier geleistet wurde und weiter geleistet wird, ist wunderbar, wir besichtigen die verschiedenen Abteilungen, bewundern besonders die biologische, in welcher alle Gartenfrüchte, welche das Land erzeugt, in Gläsern konserviert stehen. Man würde viele Tage brauchen, um alles gründlich zu sehen. Besonders interessant ist die botanische Abteilung, in welcher nicht nur alle Pflanzen und Baumarten der Gegenwart in Erez Israel in grossen Glaskästen präpariert – also so, wie sie wirklich wachsen – zu sehen sind, sondern auch Pflanzen aus der biblischen Zeit. Von letzteren eine Pflanze, welche wie eine Menorah wächst und  welcher vermutlich unsere Menorah nachgebildet wurde. Diese botanische Sammlung ist die einzige in der Welt.

Im Universitätsgarten befindet sich das marmorene Freilichttheater mit Bühne und Terrassensitzen, von wo aus unser Blick auf das Tote Meer und Wüste Judäa fällt.

Wir fahren dann zur Nationalbibliothek. Grosser Bau. Rechts davon wird ein Erweiterungsbau ausgeführt, welcher die sämtlichen geistigen Wissenschaften aufnehmen soll. Die Bibliothek zählt z.Zt. 300000 Bände. Vom Dache der Bibliothek aus geniessen wir einen ganz einzigartigen Umblick auf ganz Jerusalem und Umgebung bis zum Toten Meer. Von der Höhe dieses Skopusberges belagerte Titus die Stadt. Der Blick fällt auch auf den Oelberg mit der Himmelfahrtskirche. Wir erreichen dann den Vorort Talpioth mit Siedlungsheim der Poale Zion und durchfahren den Emek Chajim, die Ebene, auf welcher David mit den Philistern kämpfte.

Sodann stehen wir an Rahels Grab. Dieses Grab befindet sich unter einem 2 Meter hohen Felsstein, über welchem ein Mausoleum errichtet wurde. Glücklicherweise befindet sich dieses Grab in jüdischen Händen. Täglich erscheinen viele Besucher. In dem Grabgewölbe sind viele kostbare Thoravorhänge an den Wänden wie Banner angebracht. Es ist ein ehrwürdiger Raum. Ich lehne mich an den Fels und sage Kaddisch, zünde sodann ein Lämpchen an und der Beamte sagt für mich ein El mole rachamim. Ich kaufe mir ein Säckchen Erde von Rahels Grab.

Wir fahren weiter, gelangen nach der Stadt Bethlehem. Für uns Juden steigen auf dem Wege dahin Gestalten aus der Bibel auf. Vor Bethlehem sind die Felder von Boas, den wir aus dem Buche Ruth kennen. Die Namen Elimelech, Ruth und Noemi tauchen vor uns auf. Aber das Bethlehem der Gegenwart hat für uns Juden nichts Anziehendes mehr. Die Stadt zählt zwar 10.000 Seelen, aber keine Juden. Für uns gilt Bethlehem lediglich als Geburtsort Davids.

Für die Christenheit dagegen ist Bethlehem als Geburtsort Jesu höchstes Heiligtum. In der von uns besuchten Geburtskirche sind die einzelnen Abteilungen für die verschiedenen christlichen Bekenntnisse getrennt, damit sie sich nicht streiten, wie die oft vorkam und noch vorkommt. Es gibt eine griechisch-katholische, eine römisch-katholische, eine koptische und eine armenische Abteilung. Die Kirche ist gegen 350 n.Chr. durch Kaiser Constantin erbaut und besteht aus einer riesigen Basilika mit 44 Marmorsäulen und einem Sanktuarium. Unter diesem liegt die Felsengrotte, in die wir nunmehr eintreten. Wir stehen vor der Krippe mit dem Bethlehemstern, in der Jesus geboren sein soll. Daneben der Felsenstall des Vaters Josef und die Stelle der heiligen drei Könige. Viele Wallfahrer, Priester, Mönche aus allen Zonen, die eingeborenen Bethlehemer Frauen mit dem hohen spitzen Kopfputz aus weissem Tuch. Im unterirdischen Teil durchschreiten wir eine Grotte, in welcher der Kindermord durch Herodes, eine zweite Grotte, in welcher die Flucht der Eltern Jesu mit dem Kinde nach Aegypten dargestellt wird. Eine fernere Grotte ist dem heiligen Hieronymus geweiht, welcher hier unten die hebräische Bibel übersetzt haben soll, als Vulgata bekannt.

Wir verlassen Bethlehem und kehren nach Jerusalem zurück, durchschreiten das armenische Viertel, das auf dem Berge Zion liegt, und gelangen sodann in das alte jüdische Viertel und in die jüdischen Basare – Shuks – . Juden aus der ganzen Welt, mit Tarbusch, Turban, Streimel, Peies. Getümmel. Geschrei, Schmutz. Eseltreiber, Gemüse jeder Art, Kinder,  Kinder, Kinder, welche trotz des Elends gut aussehen.  Würde man diese Kinder – es sind gewiss Zehntausende – herausnehmen auf das Land, in menschenwürdige Verhältnisse, sie richtig erziehen, so wäre das ein unschätzbarer Gewinn für Erez Israel. Ein weiteres neues Geschlecht würde für den künftigen Aufbau des Landes heranwachsen. Alle Typen Juden sehen wir: Asiatische, persische, polnische, afrikanische Juden. Schmale Gassen bergauf, bergab. Hinter den dicken Mauern hausen sie in kleinen Löchern.


Bilder aus dem Reise-Tagebuch

Wir besuchen eine chassidische Synagoge, hoch gebaut, von deren Dach wir einen schönen Rundblick über die Heilige Stadt geniessen. Sodann treten wir in eine kleine kabbalistische Synagoge ein. Der Rabbi reicht mir mit „Schalom“ die Hand. Juden lernen aus grossen Folianten, orientalische Trachten mit Fez und Turban, auf den Seitenbänken im Liegen lernend.

Die grösste Synagoge heisst Churwa, weil sie immer wieder zerstört worden ist. Wir bewundern den schönen Kuppelbau und erfahren, dass in der Heiligen Stadt 360 Synagogen vorhanden sind. Jede Richtung – und es sind hier sehr viele – hat eine eigene Schul, und wenn sie noch so klein ist.

–> Weiter

David Heimann, geboren am 12. März 1864 in Festenberg, Kreis Groß Wartenberg in Schlesien, war ein erfolgreicher Kaufmann für Lederwaren. Sein Geschäft eröffnete er zunächst in Pommern, wo er seine erste Frau Clara, geb. Amfeld ehelichte. Das Paar hatte drei Kinder: Theodor (geb. 1891), Thekla ( geb. 1895) und Else (geb. 1899). Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Oslo zog David Heimann 1904 mit seiner Familie nach Berlin, wo er sich in der jüdischen Gemeinde engagierte und eine Ausweitung des Synagogenbezirkes bis nach Oranienburg erwirkte. David Heimann war Vorsitzender der Synagogengemeinde sowie Kuratoriumsmitglied des Jugend-, Mädchen- und Altersheimes in Berlin-Hermsdorf. Nach dem Tod seiner Frau Clara 1924, heiratete er deren verwitwete Schwester Rosa.

David Heimann musste sein Haus Ende 1940 weit unter Wert verkaufen, nach damaliger Schreibweise “Entjudung”, und mit den noch verbliebenen Angehörigen in das s.g. Judenhaus nach Berlin-Hermsdorf umziehen. Seinen Kindern Thekla und Theodor konnte David Heimann die Ausreise nach England und die USA ermöglichen. David Heimanns eigener Versuch, nach Palästina auszuwandern, scheiterte. Das Palästina-Amt Berlin schrieb ihm: “Bei der Bearbeitung Ihres Fragebogens stellen wir fest, dass Sie bereits 75 Jahre alt sind. Da erfahrungsgemäss die Strapazen einer derartigenReise sehr gross sind, können wir es nicht verantworten, Menchen ihres Alters auf diesem Wege zur Alijah zu bringen.”

Rosa Heimann starb am 1. Januar 1942. David Heimann wurde 11. September verhaftet und drei Tage später mit dem 62. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Am 29. September 1942 wurde er weiter in Richtung Osten transportiert und galt als verschollen. David Heimann wurde vermutlich im KZ Minsk ermordet.

Im folgenden dokumentieren wir David Heimanns Tagebuch einer Reise nach Palästina im Jahr 1934.

1 Kommentar

Kommentarfunktion ist geschlossen.