Ritualmordvorwürfe: „Die Blutanklage von Damaskus und ihre Folgen. 1840-1848“ von Heinrich Graetz (Teil I)

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Erneut beziehe ich mich auf den bei haGalil kürzlich veröffentlichten Aufsatz zur Ritualmordbeschuldigung von Damaskus von Dr. Yaron Harel von der Bar-Ilan Universität, den ich mit einem kommentierten Kapitel aus der „Volkstümlichen Geschichte der Juden“ von Heinrich Graetz ergänzen möchte. Die Ausführungen dieses bedeutenden jüdischen Historikers des 19. Jahrhunderts enthalten nicht nur wertvolle Hintergrundinformationen zu dem Ereignis selbst, sondern sie zeigen darüberhinaus noch welch weitreichende Auswirkungen dieser spezielle Fall für die Emanzipation der Juden, auch über die Grenzen Europas hinaus, hatte. Mein Beitrag behandelt in seinem ersten Teil die unmittelbar mit der Damaskus-Affäre verbundenen Vorgänge, während der zweite den weiteren Entwicklungen und Folgen gewidmet sein soll…      

Von Robert Schlickewitz

Auch wenn der Historiker Heinrich Graetz (auch: Grätz; 1817-1891) heute teilweise als überholt und in gewissen seiner Aussagen als widerlegt gilt, hat er für die jüdische Geschichtsschreibung Bahnbrechendes geleistet und wurde daher von eigenen wie von christlichen Kollegen und Nachschlagewerken mit hoher Anerkennung und Respekt bedacht. So bezeichnete ihn Meyers Großes Konversationslexikon (1905) als den „hervorragendste(n) Geschichtsschreiber der Juden“ und widmete ihm einen längeren Artikel, während ihn die neueste Ausgabe (2006) der dreißigbändigen Brockhaus Enzyklopädie als den ersten Verfasser einer Gesamtgeschichte des jüdischen Volkes hervorhebt. Aus der Provinz Posen stammend hatte Graetz in Breslau, Oldenburg sowie Jena studiert und ab 1845 selbst am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, bzw. ab 1869 als Honorarprofessor an der Breslauer Universität gelehrt. Sein elfbändiges Hauptwerk, erschienen in Leipzig in den Jahren 1853-1875, „Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart“, machte ihn über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Breite Beachtung in Fachkreisen  fand ferner die von Graetz 1869 bis 1881 herausgegebene „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“. Der Historiker verstarb am 7. 9. 1891 in München.

Das in diesem Beitrag wiedergegebene Kapitel „Die Blutanklage von Damaskus und ihre Folgen“ ist der „Volkstümliche(n) Geschichte der Juden“ von 1889 entnommen. Dieses dreibändige Werk, das lange Zeit aus keinem aufgeklärten, bürgerlichen, jüdischen Haushalt wegzudenken war und auch Eingang in diverse christliche Bibliotheken fand – mein eigenes, antiquarisch erworbenes, Exemplar trägt den Bibliotheksstempel der Schule Schloss Salem – behandelt in seinem Abschlussband in drei Hauptabschnitten das Marranentum, die Zeit des Humanismus und der Reformation sowie die „Epoche der (jüdischen) Wiedergeburt“. Das Damaskus-Kapitel ist das letzte des Buches und es enthält somit auch die abschließenden, resümierenden bzw. vorausblickenden Worte seines Autors.

Unsere Beachtung verdienen Graetzens von Ironie nicht ganz freien Beschreibungen der beiden katholischen ‚Negativhelden‘, des Paters Tomaso sowie des Konsuls Ratti-Menton, und natürlich seine Schilderung der diversen, damals üblichen, Foltermethoden.

Von Interesse ist ebenfalls, wie differenziert und um Gerechtigkeit bemüht Graetz das Verhalten der muslimischen Öffentlichkeit wiedergibt („Auch die muselmännische Bevölkerung ward künstlich gegen die Juden fanatisiert.“ bzw. „Besonnene Türken schüttelten allerdings den Kopf bei diesem gegen die Juden gerichteten arglistigen Verfolgungssystem; aber sie schwiegen.“ bzw. „Infolge dieser doppelten Anklage erhob sich ein Sturm gegen die Juden in Syrien und der Türkei. In Djabar bei Damaskus drang der Pöbel in die Synagoge, zerstörte, raubte, und zerriß die Gesetzrollen in Stücke… Bis nach Smyrna erstreckte sich die Feindseligkeit und es kamen thätliche Anfälle gegen die Juden vor.“ bzw. „Sobald die Nachricht davon sich in Damaskus verbreitet hatte, versammelten sich alle Juden und viele Türken vor dem Kerkergebäude und begleiteten die Dulder bis zur Synagoge. Es zeigte sich dabei, daß angesehene Muselmänner vom ersten Augenblick an Abscheu vor dem von Ratti-Menton und den Mönchen vertretenen Christenthum empfanden. Denn sie nahmen innigsten Anteil an den Juden.“)

Am meisten jedoch muss den modernen, kritischen Leser das anmaßend-selbstherrliche Kolonialherrengehabe der Vertreter der europäischen Mächte, bzw. die rücksichtslos-egoistische Politik von deren Regierungen bestürzen, die den nahen Orient ganz offensichtlich als ihren ureigensten Hinterhof und dessen nichtchristliche Bewohner als unliebsam-lästige Begleiterscheinungen betrachteten. Damit einher geht die unermessliche Schuld, die Europa auf sich geladen hat und die es heute nicht mehr anzuerkennen im Stande ist; die eigentliche Schuld nämlich am nicht enden wollenden Konflikt im Nahen Osten. Denn nicht die viel geschmähten „bösen Israelis“ und auch nicht die nicht weniger verhassten „muslimischen Terroristen“, sondern Europa höchstselbst, ganz voran die Großmächte Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Russland, trägt die Hauptverantwortung an dem, was sich heute abspielt.

Hoffentlich wird hier, bei Graetz, möglichst vielen Lesern die Verwerflichkeit der Haltung und Handlung der europäischen Christen in Damaskus (und anderswo) so richtig bewußt, versuchten diese doch nicht weniger als Juden und Muslime gegeneinander aufzuhetzen bzw. zusätzliche Zwietracht zu säen. Die Beteiligung der orientalischen Christen an diesen traurigen Vorgängen war eine Konsequenz, denn sie folgten eher den Vorgaben ihrer europäischen Glaubensgenossen, als dass sie eigene Initiativen entwickelten, bei allen bereits früher vorhandenen Vorbehalten gegenüber Juden und Muslimen.

Dass bei der Damaskus-Affäre ganz besonders der Antijudaismus der europäischen Katholiken eine gewichtige Rolle gespielt hat, arbeitet der Autor deutlich heraus:

Freilich mußten sich die Juden zusammennehmen und eigene Thätigkeit entfalten, da die streng kirchlich-katholische Partei in Frankreich, Italien und Belgien sich förmlich verschworen oder von oben einen Wink erhalten hatte, die Thatsächlichkeit der Vorgänge in Damaskus zu verdunkeln und die Juden im Morgenlande und Europa als blutgierig erscheinen zu lassen. In ganz Italien durften die Schriftstücke zu Gunsten der Damascener Opfer und gegen Ratti-Menton nicht gedruckt werden; die von Geistlichen geleitete Zensur verbot es.

Wobei sich sein Triumphieren über diese Erbfeinde der Juden – das katholische Verhalten Juden gegenüber während zweier Jahrtausende lässt den Terminus „Erbfeinde“ nur allzu berechtigt erscheinen – nach dem glücklichen Ausgang der Damaszener Ereignisse sehr sachlich ausnimmt:

Er entwaffnete selbst die Gegner der Juden. Dem Kardinal Rivarola, dem Beschützer aller Kapuziner in Rom, zwang er das Versprechen ab, den Grabstein aus der Kapuzinerkirche in Damaskus entfernen zu lassen, welcher die angebliche Mordthat der Juden an dem Pater Tomaso verewigen und ihn als Märtyrer darstellen sollte.

Auf der anderen Seite findet er für das konziliantere Verhalten der Protestanten durchaus auch anerkennende Worte:

Mehrere zum Protestantismus übergetretene Juden in kirchlicher Stellung hatten die Unschuld der Juden an diesem Laster beteuert, unter anderem der als Kirchengeschichtsschreiber bekannte August Neander. Von den Katholiken that es nicht Einer.

Das „Neue Lexikon des Judentums“ bemerkt zur Damaskus-Affäre, dass es der Rücktritt des französischen Ministerpräsidenten Adolphe Thiers und die Kapitulation des Aufständischen Mehmed Ali waren, die am Ende zur Rehabilitierung der Juden in diesem Fall führten; außerdem, als weitere Folge,  dass die Alliance Israélite Universelle gegründet wurde.

Ein Gewinn ist die Lektüre von Graetz nicht nur vom inhaltlichen Standpunkt her – der Historiker erweist sich darüberhinaus auch noch als ein Meister der Sprache und des gewählten Ausdrucks („Die Finsterlinge bedienten sich Guttenberg‘s Kunst, die sie verabscheuten – deren vierhundertjähriges Jubiläum gerade damals gefeiert wurde – um eine Anklage gegen die Gesamtjudenheit, als lüstern nach christlichem Blute, in die Welt zu schleudern.“).

Erfreulicherweise hat vor einigen Jahren ein Verlag eine Neuauflage der „Volkstümliche(n) Geschichte der Juden“ vorgenommen und damit dafür gesorgt, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, noch größere Chancen haben, an ein antiquarisches Exemplar zu einem bezahlbaren Preis zu gelangen. Gute Lektüre!

„Die Blutanklage von Damaskus und ihre Folgen. 1840-1848

Wenn ein origineller Dichter dieser Zeit, Joel Jakoby, zwischen Treue und Abfall schwankend, der Judenheit zurief: ‚Matt ist dein Leib, mein Volk, und müde dein Geist; darum bringe ich dir einen Sarg, darum weihe ich dir eine Gruft!‘ und wenn Geiger’s Organ der Stürmerei halb schmerzlich und halb schadenfroh als eine Thatsache bezeugte: ‚Zerrissen ist das Band, welches früher die Gemeinden zusammenhielt und umschlang, und nur äußerlich halten sie zusammen, die Willenskraft der Gesamtheit ist gebrochen‘, so haben beide ihre Herzenswünsche für Wirklichkeit ausgegeben. Schlechte Beobachter, nahmen sie die Symptome raschen Wachstums als tötliche Schwindsucht. Ein Vorfall, unscheinbar und geringfügig in seinen Anfängen, aber bedeutend in seinen Wirkungen, hat alsbald die falschen Propheten Lügen gestraft und gezeigt, welcher wunderbare Zusammenhang die Glieder der Judenheit unauflöslich hält, wie fest das Band noch ist, welches unsichtbar, ihnen selbst unbewußt, sie umschlingt, wie ein ernster, bedrohlicher Angriff auf das Judentum das Herz sämtlicher Juden auf dem Erdenrund und aller Parteien, des reformistischen Stürmers gleich dem des Stockorthodoxen und des nur in Kabbala oder Talmud webenden Klausners, im leichtlebigen Frankreich wie im ernsten Asien in patriotischem Selbstgefühl schlagen machte. Wo es schlummerte, wurde es wach gerufen. Das Wunderbarste dabei war, daß die verächtliche ‚Judensache‘ in die verschlungenen Fäden der europäischen und asiatischen Politik verflochten wurde, und daß sich der russische Selbstherrscher Nikolaus wie die amerikanische Republik der Juden in Damaskus annehmen mußte. Wer sich dieser Zeit und des Vorfalles, der sich daran knüpft, erinnert und Sinn für die Wunder der Geschichte hat, wird die wunderbare Verkettung dieser Begebenheit nicht verkennen. Ein in Frankreich naturalisierter Italiener Ratti-Menton, ein herz- und gewissenloser Gewinnjäger, der Sicilien und Tiflis wegen unehrenhafter Handlungen hat meiden müssen; ein vom Christentum zum Islam übergetretener Renegat, ein ausgemachter Schurke und Erzjudenfeind, und andere ähnlichen Gelichters, das waren die teuflischen Urheber eines neuen blutigen Dramas, worin den Juden wieder die Märtyrerrolle zugefallen war. Aber dieser Leidensstand führte zur Selbstermannung, zur Erhebung und zum stolzen Selbstgefühl.

Der Schlaukopf Mehmet Ali, Pascha von Ägypten, hatte durch glänzende Siege dem türkischen Sultan, seinem Lehnsherrn, ganz Syrien samt Palästina entrissen. Der ebenso schlaue sogenannte Bürgerkönig Ludwig Philipp, um den Groll der legitimen Fürsten von Europa, besonders des Kaisers Nikolaus, zu entwaffnen, unterstützte Mehmet Ali’s Eroberungspläne. Diese Ränke verdoppelten sich, als der willensfeste aber unglückliche Sultan Mohammed ins Grab gesunken war, und sein schwacher, verzärtelter siebzehnjähriger Sohn Abdul Meģid, so zu sagen, den Thron bestieg (Juli 1839). Damals begann die orientalische Frage zu brennen. Rußland unterstützte die schwache Türkei, Frankreich hingegen den ägyptischen Räuber. Österreich und England schwankten hin und her. Durch die enge Verbindung zwischen Ludwig Philipp und Mehmet Ali erhoben die bis dahin gedrückten Christen in Palästina und Syrien ihr Haupt, da sich Frankreich gern zum Horte des Christentums im Morgenlande aufwarf. Die Geistlichen und Mönche vieler Orden im Morgenlande, gestern noch verfolgt, warfen sich, auf französischen Schutz vetrauend, zu Verfolgern auf.

In Damaskus, welches damals von fast 20 000 Seelen bewohnt war, verschwand eines Tages (5. Februar 1840) der Guardian eines Kapuzinerklosters aus Sardinien, Pater Tomaso (Thomas) mit seinem Diener. Er war kein Heiliger im katholischen Sinne, vielmehr ein Lebemann, der gerne Geld nahm, aber ungern gab. Er hatte sich mit Arzneipfuscherei beschäftigt und eben so oft jüdische und mohammedanische Quartiere wie christliche besucht, um sein Handwerk auszuüben. Was ist aus dem der ganzen Bevölkerung von Damaskus wohlbekannten Pater geworden? Niemand wußte es genau anzugeben. Es war allerdings ein Gerücht laut geworden, daß Tomaso einige Tage vorher einen heftigen Wortwechsel mit einem türkischen Maultiertreiber gehabt, der wegen vernommener Lästerung Mohammeds geschworen haben soll: ‚Der Christenhund soll von keiner anderen Hand als der meinen sterben‘. Die Mönche bestürmten nun den französischen Konsul in Damaskus, jenen gewissenlosen Ratti-Menton, dem Mörder nachzuspüren. Sogleich wurde die Aufmerksamkeit auf die Juden gelenkt, weil Einige derselben harmlos ausgesagt hätten, sie hätten Tomaso am Abende vor dessen Verschwinden im Judenquartier gesehen. Die Mönche klammerten sich um so fester an den Verdacht gegen die Juden, weil sie dadurch mehrere Zwecke zu erreichen glaubten. Ratti-Menton erfaßte schnell diesen Verdacht gegen die Juden und unterließ jede anderweitige Nachforschung, obwohl ein Fingerzeig dafür vorhanden war. Der Gouverneur von Damaskus Scherif Pascha war leicht dazu zu bewegen, die Verfolgung der Juden zu gestatten oder anzustellen, da er es mit dem französischen Konsul nicht verderben wollte und seinerseits von einer Blutanklage gegen die Juden bedeutenden Gewinn zu ziehen hoffte. Um den Schein zu retten, beriefen sich die Ankläger auf die Aussage eines frommen Gauklers, welcher versicherte: Tomaso und sein Diener seien im Judenquartier in diesem und diesem Hause ermordet worden.

Bald häuften sich die Inzichten. Kurz die Anklage-Akte war schnell fertig: ‚Die Juden haben Tomaso und seinen Diener ermordet, um sich des Blutes für ihre Passa-Feier zu bedienen‘.

Mehrere Juden wurden ergriffen, vor Ratti-Menton geführt und verhört. Ein armer jüdischer Barbier zeigte aus angeborener Furcht in Gegenwart der Auflauerer beim Verhöre Verwirrung. Aber er leugnete fest jede Teilnahme und jede Kunde vom Morde des vermißten Paters. Nichts desto weniger übergab ihn der französische Konsul Scherif Pascha als stark Verdächtigen zur Untersuchung. Dieser ließ ihm die Bastonade d. h. 500 Stockschläge auf die Sohlen geben und noch härteren Martern unterwerfen. Durch trügerisches Zureden eines Schurken ließ sich der Barbier im Kerker, weil ihm neue Folterqualen in Aussicht standen, verleiten, sieben der angesehensten und reichsten Juden, darunter einen Greis von 80 Jahren, als Schuldige anzugeben. Da diese jede Schuld in Abrede stellten, wurde außer der Bastonade noch eine andere Qual gegen sie angewendet. Sechs und dreißig Stunden mußten sie, von Soldaten bewacht, aufrecht stehen, ohne Speise und Trank, ohne sich dem Schlafe überlassen zu können. Aber aller Torturen führten kein Geständnis herbei. Scherif Pascha erfand noch eine neue Folter oder führte eine ihm eingegebene aus. Mehr als sechzig Kinder zwischen 3-10 Jahren wurden den Eltern entrissen, in ein Zimmer eingesperrt und ihnen die Nahrung entzogen, damit die Mütter schmerzdurchwühlt durch das Wimmern und Wehklagen der Kinder Geständnisse, wenn auch unwahre ablegen mögen. Auch dieses Mittel schlug fehl. Scherif Pascha geriet in Wut und drohte, es würden viele jüdische Köpfe fallen, wenn der Pater nicht gefunden werden sollte. Mit einer Schar Soldaten begab er sich (18. Februar) in das Judenquartier und ließ das prachtvolle Haus eines reichen Juden zerstören, um die Leiche des Paters oder auch verdächtige Spuren zu finden. Von Schmerz über so viel Grausamkeit ergriffen, wagte ein jüdischer Jüngling, sich zum Pascha zu begeben und Zeugnis abzulegen; er habe den Pater Tomaso kurz vor seinem Verschwinden in den Kaufladen eines Türken eintreten sehen. Statt diese Spur zu verfolgen, wurde der Jüngling so unbarmherzig zerschlagen, daß er noch in derselben Nacht den Geist aushauchte.

Ratti-Menton war unerschöpflich in Mitteln, ein Geständnis von den Juden erpressen zu lassen. Er fand gar ein Stück Knochen und einen Lappen, und christliche Ärzte erklärten diesen Knochen für einen Teil des Menschengebeins, der Lappen galt als Baret des Paters. So hatten sie sichtbare Beweise von dem Morde im Judenquartier. Die sieben Angeklagten wurden darauf von neuem verhört und grausamen Folterqualen unterworfen, wobei ein Greis, Joseph Laniado, den Schmerzen erlag. Mose Abulafia nahm, um den Qualen zu entgehen, den Turban. Die Übrigen sagten vor Schmerz aus, was man von ihnen verlangte; sie waren stumpf geworden und wünschten einen raschen Tod. Dieses Geständnis half ihnen aber nicht viel. Der französische Konsul wünschte handgreifliche Beweise, die Flasche mit dem gefüllten Blut und dergleichen. Neue Folterqualen wurden angewendet; aber diese brachten die armen Opfer nur dahin, ihre früheren Geständnisse zurück zu nehmen. Der Verdacht wurde noch auf andere angesehene jüdische Familien gewälzt, auf die hochangesehene Familie Farchi. Drei Rabbiner von Damaskus, schon früher eingezogen, wurden mißhandelt und gefoltert, ohne daß eine Lüge aus ihrem Munde erpresset worden wäre. Der österreichische Konsul Merlato hatte lange den Unmenschlichkeiten zugesehen, auch als sein jüdischer Schützling, Piciotto, unschuldig in die Anklage verwickelt wurde. Aber endlich riß ihm die Geduld, und er trat freimütig und offen gegen das barbarische und gräßliche Verfahren auf. Dafür hatte er auch viel zu erdulden. Der gemeine christliche Haufe überhäufte ihn mit Flüchen, weil er für die Juden eintrat. Sein Haus wurde von Spionen umlagert. Auch die muselmännische Bevölkerung ward künstlich gegen die Juden fanatisiert.

Ratti-Menton seinerseits war unermüdlich, neue Anklagepunkte und Scheinbeweise herbeizuschaffen. Er ließ ein Lügenbuch (Pompta Bibliotheca von Lucio Ferrajo) gegen die Juden, welches ihm die Mönche in die Hand gegeben hatten, ins Arabische übersetzen, worin aus dem Talmud bewiesen war, daß die Juden Blut brauchten, daß sie Christenkinder schlachteten und Hostien schändeten, die dann Wunder gethan hätten. Diese ins Arabische übersetzte Schrift übergab der französische Konsul dem Pascha und sorgte außerdem für deren Verbreitung unter die muselmännische Bevölkerung. Der Pascha ließ hierauf drei verhaftete Rabbinen in Einzelhaft bringen und legte ihnen gewisse angeschuldigte Stellen im Talmud zum Übersetzen ins Arabische vor, mit der Drohung der Todesstrafe, wenn sie auf Fälschung ertappt werden sollten. –

Besonnene Türken schüttelten allerdings den Kopf bei diesem gegen die Juden gerichteten arglistigen Verfolgungssystem; aber sie schwiegen. Ratti-Menton schloß die Akten und fällte ein Urteil, daß die eingezogenen und gefolterten Juden Mörder des Paters Tomaso gewesen wären. Scherif Pascha holte dazu die Erlaubnis seines Herrn Mehmet Ali zur Verurteilung derselben ein.

Als sollte die Blutanklage gegen die Juden einen Schein von thatsächlicher Berechtigung haben und eine Vertilgung der Juden, als blutdürstige Kannibalen, geboten erscheinen, fiel ungefähr zur selben Zeit auf der zur Türkei gehörenden Insel Rhodus etwas Ähnliches vor. Ein zehnjähriger Knabe, Sohn eines griechischen Bauern, hatte sich erhängt, und die Christen beeilten sich, die Juden als dessen Mörder anzugeben. Die europäischen Konsuln nahmen die Sache in die Hand und verlangten von dem Statthalter Jussuf Pascha eine strenge Untersuchung gegen die Juden. Infolge dieser doppelten Anklage erhob sich ein Sturm gegen die Juden in Syrien und der Türkei. In Djabar bei Damaskus drang der Pöbel in die Synagoge, zerstörte, raubte, und zerriß die Gesetzrollen in Stücke. In Bairut wurden die Juden nur durch die Dazwischenkunft des holländischen und preußischen Konsuls vor Mißhandlung geschützt. Bis nach Smyrna erstreckte sich die Feindseligkeit und es kamen thätliche Anfälle gegen die Juden vor. –  Sollte es ganz Zufall gewesen sein, daß zur selben Zeit (Anfang März 1840) eine Blutanklage gegen einen Juden in Rheinpreußen (Jülich) erhoben wurde? Ein christliches Mädchen von neun Jahren behauptete, von einem Juden in den Leib gestochen worden zu sein. Ihr sechsjähriger Bruder bestätigte die Aussage. Aber eine streng gerichtliche Untersuchung ergab, daß die Aussage der Kinder eitel Lug und Trug war. Der angeblich ermordete Christ war am Leben. Die angeblich wunde Stelle am Leib des Mädchens war nur mit Blut bestrichen. Der angeklagte Jude wurde vollständig freigesprochen, und ein selbst von dem Staatsanwalte erwähntes Gerücht beschuldigte zwei Christen aus Düsseldorf, den Kindern diese schreckliche Anklage eingetrichtert zu haben.

In Rheinpreußen kam die Wahrheit und die Unschuld der Juden in kurzer Zeit an den Tag. In Damaskus und Rhodus dagegen dauerte es lange Zeit, weil teuflische europäische Christen geflissentlich ein solches Gewebe von Lügen darüber breiteten, daß selbst Harmlose dadurch getäuscht wurden. Vergebens rangen die mißhandelten Juden die Hände und wendeten sich an ihre europäischen Brüder, ihnen vermöge ihrer günstigeren Stellung beizustehen. Es wurde diesen außerordentlich erschwert, die Wahrheit ans Licht zu ziehen und die Bosheit zu entlarven. Religiöser Fanatismus, Judenhaß und politische Parteileidenschaft vereinigen sich, um die Lüge eine Zeitlang triumphieren zu lassen. Die Finsterlinge bedienten sich Guttenberg‘s Kunst, die sie verabscheuten – deren vierhundertjähriges Jubiläum gerade damals gefeiert wurde – um eine Anklage gegen die Gesamtjudenheit, als lüstern nach christlichem Blute, in die Welt zu schleudern.

Ratti-Menton  sorgte seinerseits auch dafür, daß in französischen Zeitungen ein Bericht aus Damaskus in seinem Sinne und mit seiner Färbung der europäischen Welt vorgeführt wurde. Nicht nur die im Dienste der katholischen Geistlichkeit stehenden Blätter verbreiteten mit Eifer diese Anschuldigungen gegen die Juden, sondern auch die liberalen, um Frankreichs Macht im Morgenlande zu rühmen. Da die Augen Europas damals auf die Verwicklung in der Türkei gerichtet waren, so strömten rasch diese erlogenen Berichte durch die Adern des europäischen Zeitungswesens. Leicht hätte sich der mittelalterliche Haß gegen die Juden erneuern und Blutszenen hervorrufen können. Entsetzen ergriff sämtliche Juden Europa’s bei diesem Gedanken, daß sie am hellen Tage des neunzehnten Jahrhunderts noch gegen das finstere Gespenst der Blutanklage ankämpfen mußten.

Allein Guttenberg’s Kunst, deren sich die Gewissenlosen bedienten, kam noch mehr den Juden zu statten. Es gab mutige Juden, welche der Lüge und Heuchelei die Maske der Tugend abrissen. Ein solcher war Adolph Cremieux, welcher gerade kurz vorher wegen seiner Beredtsamkeit Triumphe gefeiert hatte. Bei der ersten Nachricht von den noch dunkeln Vorgängen in Damaskus, fest überzeugt, daß die morgenländischen Juden ebenso wie die europäischen rein von Blutschuld waren, eilte er zum französischen Minister und entlarvte das Spiel, das in Frankreich mit dieser traurigen Sache getrieben wurde. Mit dem zündenden Feuer seiner Beredtsamkeit und dem Mute, welchen eine gerechte Sache giebt, trat Cremieux den geflissentlichen und nachbetenden Verleumdungen in Frankreich entgegen (7. April) und wurde der Mittelpunkt einer Erhebung für die französischen Gemeinden.

Wie die französischen, so ermannten sich wie mit einem Schlage die englischen Juden. Sie hatten sich durch Reichtümer und Ehrenhaftigkeit in der öffentlichen Meinung große Achtung erworben. Einige derselben waren zum Ehrenamte von Friedensrichtern (Sherif) erwählt worden; es war vorauszusehen, daß sie bald gleichgestellt und ins Parlament Eintritt erhalten werden. Die angesehensten Juden Englands, darunter Baron Nathaniel Rothschild Sir Moses Montefiore, welcher aus frommem Sinne eine Pilgerreise nach dem heiligen Lande gemacht hatte, Salomons und die geachteten Brüder Goldschmid, beschlossen: die Regierungen von England, Frankreich und Österreich anzugehen, durch ihr Gewicht der Unmenschlichkeit in Damaskus Einhalt zu thun. Es war eine beachtenswerte Erscheinung, diese Einmütigkeit hochgestellter Juden, sich ihrer verfolgten Brüder anzunehmen und für die Lauterkeit ihrer Lehre, und selbst des Talmud einzutreten. An einem und demselben Tage begab sich Cremieux zum König von Frankreich Louis Philipp und eine jüdische Deputation zum englischen Minister Lord Palmerston, um den Schutz dieser Länder für die Opfer in Damaskus anzurufen.

Louis Philipp antwortete gerührt, aber ausweichend. Dagegen sagte der englische Minister Palmerston in Namen der Königin Viktoria den erbetenen Schutz zu. Von einer dritten Seite wurden zwar weniger geräuschvolle, aber vielleicht noch wirksamere Schritte gethan, um eine günstige Wendung herbeizuführen, von dem österreichischen Kabinet aus.

Der österreichische Konsul Merlato in Damaskus war der einzige, welcher die Bosheit Ratti-Menton’s, seiner Helfershelfer und der Mönche durchschaut und ihr mit dem Aufgebot seines soldatischen Mutes Widerstand geleistet hatte. Er gab einen wahrheitsgetreuen und ergreifenden Bericht von der bodenlosen Verlogenheit, welche gegen die Opfer von Damaskus aufgeboten worden war, um sie für schuldig zu erklären. Dieser Bericht, als Rechtfertigung seines Benehmens zum Schutze Piciotto’s, welchen er zunächst seinem Vorgesetzten, dem Generalkonsul von Ägypten übermittelt hatte, wurde von diesem als wahr anerkannt und dem österreichischen Minister Metternich zugeschickt. Obwohl Feind der Öffentlichkeit hatte Metternich doch sämtliche für die Juden günstige Schreiben durch die Zeitungen verbreiten lassen. Durch diese Darstellung wurde Ratti-Menton als boshafter Teufel an den Pranger gestellt. Sie führte einen Umschwung in der öffentlichen Meinung herbei und ermutigte die Juden.

In Konstantinopel im Divan des Sultans erlangten die den Juden freundlichen Vertreter der europäischen Regierungen die Revision des Blutprozesses auf der Insel Rhodus. Nathaniel von Rothschild hatte sich selbst dahin begeben und von Abdul-Meg’id ein Ferman erlangt, daß die griechische Bevölkerung drei Primaten als Ankläger und die Juden ebenso viel ihrer Vorsteher als Verteidiger nach der Hauptstadt senden sollten. Ein eigenes Tribunal wurde dafür zur Untersuchung eingesetzt, und der Erfolg war, daß die des Kindesmordes angeklagten Juden vollständig freigesprochen wurden. Bei Mehmet Ali ging es indes nicht so leicht. Er hatte zwar schon Anfangs April dem österreichischen Generalkonsul Laurin versprochen der Grausamkeit ein Ende zu machen; aber der französische Generalkonsul hielt ihn zurück, und allzu leichtgläubig auf Frankreich vertrauend, mochte er sich mit dem Agenten der französischen Regierung nicht anlegen. Auf Laurins Anregung richteten die Juden von Alexandrien eine beredte und mutige Adresse an Mehmet Ali des Inhalts: „Die jüdische Religion besteht seit mehr als viertausend Jahren. Kann man seit viertausend Jahren in den Annalen ihrer religiösen Einrichtungen ein einziges Wort finden, welches als Vorwand für eine ähnliche Schandthat dienen könnte?“ – Es war schon viel, daß die ägyptischen Juden für diesen Schritt nicht die Bastonade erhielten. Ein besonderes Schreiben Metternichs an den Pascha hat ganz besonders eine günstige Wirkung hervorgebracht.

Mehmet Ali entschloß sich demzufolge einen Gerichtshof aus den Konsuln von Österreich, England, Rußland und Preußen zusammentreten zu lassen, welche den Prozeß nach europäischem Verfahren beurteilen sollten. Das Tribunal sollte ermächtigt sein, eine Kommission nach Damaskus zu senden und an Ort und Stelle ein unparteiisches Zeugenverhör anzustellen. Ein Befehl ging nach Damaskus an Scherif Pascha, die Folterqualen gegen die Eingezogenen und die Verfolgung gegen die Juden überhaupt einzustellen. Schon war die Angelegenheit auf dem besten Wege, zu Gunsten der Wahrheit erledigt zu werden, als ein politisches Zwischenspiel den eingeleiteten Gang störte.

Indessen hatten die Juden aller Schattierungen bereits Selbstgefühl genug erlangt, den Winkelzügen des Ministers Thiers, der dabei eine widrige Rolle spielte, ebenso gut, wie denen seines Konsuls zu begegnen. Der jüdische Minister Achille Fould, den nur noch eine dünne Faser mit dem Judentume verband, betrachtete es ebenso, wie der stockfromme Hirsch Lehren in Amsterdam, als ihre Pflicht für die verfolgten Stammgenossen in Syrien mutig zu wirken. In der französischen Deputiertenkammer interpellierte er Thiers auf eine so derbe Weise, daß dieser zu Verdrehungen und Beschönigungen Zuflucht nehmen mußte. Freilich mußten sich die Juden zusammennehmen und eigene Thätigkeit entfalten, da die streng kirchlich-katholische Partei in Frankreich, Italien und Belgien sich förmlich verschworen oder von oben einen Wink erhalten hatte, die Thatsächlichkeit der Vorgänge in Damaskus zu verdunkeln und die Juden im Morgenlande und Europa als blutgierig erscheinen zu lassen. In ganz Italien durften die Schriftstücke zu Gunsten der Damascener Opfer und gegen Ratti-Menton nicht gedruckt werden; die von Geistlichen geleitete Zensur verbot es. Eine französische Zeitung hatte die getauften Juden aufgefordert, auf ihre Seele und ihr Gewissen zu erklären, ob sie unter ihren ehemaligen Glaubensgenossen oder in dem jüdischen Schrifttume eine Spur einer solchen Freveltat gefunden hätten, die man den Unglücklichen von Damaskus aufbürdete. Mehrere zum Protestantismus übergetretene Juden in kirchlicher Stellung hatten die Unschuld der Juden an diesem Laster beteuert, unter anderem der als Kirchengeschichtsschreiber bekannte August Neander. Von den Katholiken that es nicht Einer.

So waren die Juden gezwungen, diesem Bunde der Unreinen gegenüber einen Bund der Reinen entgegenzustellen, die Unschuld der Märtyrer in Damaskus und zugleich die Lauterkeit ihrer Lehre offenbar zu machen, mit einem Worte sich selbst zu helfen. Der Notschrei der Juden aus Damaskus, Bairut, Alexandrien, Konstantinopel in Sendschreiben an die Rothschild, an Mose Montefiore, Cremieux und Hirsch Lehren in Amsterdam hatte es als notwendigen Schritt bezeichnet, daß hochgestellte europäische Juden auf dem Schauplatz der Begebenheiten auftreten müßten, um durchgreifend wirken zu können. So beschloß zunächst das Centralkonsistorium in Paris, Cremieux, den Mann von hinreißender Beredsamkeit, aus seiner Mitte mit würdiger Begleitung nach Alexandrien ziehen zu lassen.   

In London hatte ein Komité aus den edelsten und angesehensten Juden den wichtigen Beschluß gefaßt, daß Montefiore im Verein mit Cremieux die Reise nach Ägypten antreten sollte, ‚um vermöge seiner gewichtigen Stimme die verfolgten Brüder im Morgenlande zu verteidigen‘. Tausende Pfund Sterling wurden von dem Komité als Preis für den Entdecker des Tomaso oder seines Mörders ausgesetzt. Es veranlaßte auch, daß sich die unverfälschte öffentliche Meinung, wie sie nur in England durch das Parlament möglich ist, für die Juden aussprechen sollte. Robert Peel übernahm mit seiner gewichtigen Stimme diesen Auftrag. Mit Recht leitete Peel seine Anfrage an die Minister mit den Worten ein: ‚daß es nur der Erwähnung im Unterhause bedürfe, um die Erreichung des großen Zweckes der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu erleichtern‘. Lord Palmerston antwortete: ‚Er habe bereits dem englischen Generalkonsul Hodges die Weisung erteilt, Mehmet Ali vorzustellen, welche Wirkung die Kunde von solchen Grausamkeiten in Europa hervorbringen müsse, und daß es in seinem Interesse läge, die Sache so zu untersuchen, daß die Schuldigen, wenn solche vorhanden, zur Strafe gezogen, die unglücklichen Schlachtopfer dagegen entschädigt werden möchten, wenn dies noch möglich sei.

Durch solche Kundgebungen des Sieges gewiß, schickte sich Montefiore zur wichtigen Reise an, begleitet von den Segenswünschen von Millionen Menschen, unter denen die der Königin Viktoria nicht fehlten. Sie erteilte ihm eine Audienz zum Abschiede und stellte ihm ihr Staatsschiff zur Verfügung, welches ihn über den Kanal setzen sollte. Ehe Montefiore mit seiner Begleitung England verließ, erachteten es die Rabbinen der deutschen und portugiesischen Gemeinde, Salomon Herschel und David Meldola, für nötig, einen feierlichen Eid zu wiederholen, den bereits früher Manasse Ben-Israel und Mose Mendelssohn abgelegt hatten: daß die Blutanklage gegen die Juden auch nicht den Schatten eines Beweises im talmudischen Schrifttume habe und eben so wenig je durch irgend eine Handlung den Schein einer Thatsache erhalten habe. Gegenüber der gesinnungslosen, klerikalen französischen und feilen deutschen Tageslitteratur war dieser Eid nicht überflüßig.

Indessen wenn die Juden in der französischen, italienischen und deutschen Tageslitteratur mißhandelt wurden, so gab ihnen England eine Genugthuung, welche imstande war, alle Leiden der Juden während fünfzehn Jahrhunderte seit der Herrschaft des Christentums vergessen zu machen. Angesehene Kaufleute, Inhaber großer Bankhäuser und Parlamentsmitglieder, 210 Männer, richteten an den Lord-Mayor Marschall das Gesuch, eine öffentliche Versammlung zu berufen, um ihre Gefühle und ihren aufrichtigen Anteil in Hinsicht der Verfolgung der Juden in Damaskus aussprechen zu können. So kam eine glänzende Versammlung in London (3. Juli) zusammen, welche an sich ein großer Sieg war. Viele Damen von Stande hatten sich als Zuhörerinnen eingefunden. Der Vorsitzende bemerkte gleich im Eingange: ‚daß die Juden von Damaskus in ihrer Handlung ebenso achtenswert sind, wie die unter uns in England wohnenden. Und von Diesen erlaube ich mir zu sagen, daß keiner unserer Mitbürger eifriger bemüht ist, Humanität zu befördern, Armen und Bedrückten zu helfen, Waisen zu beschützen und Litteratur und Wissenschaft zu begünstigen, als sie, und daß sich ihre Wohltaten nicht bloß auf die beschränken, welche ihres Glaubens sind, sondern daß auch Christen, sowie die Bekenner jedes Glaubens sich derselben erfreuen‘. Noch andere Redner, selbst Geistliche sprachen in demselben Sinne zum Lobe der Judenheit. O’Connel, der Agitator für die Gleichstellung der Katholiken, fügte hinzu: ‚Nach den dargelegten Zeugnissen, welche den moralischen Wert der Juden zu erkennen geben, könnte wohl ein Mensch so entartet sein, zu glauben, daß sie des Blutes bedürften zu ihren Gebräuchen?…. Alle Engländer rufe ich auf, ihre Stimme für die Opfer jener schändlichen Bedrückung zu erheben. Der Ruf möge gehen von einem Ende der britischen Insel bis zum andern, und wenn der Beifall eines Irländers noch fehlt, so bin ich dafür da!‘ –

Diese dreistündige Versammlung im Mansion-House bildet eine denkwürdige Episode in der jüdischen Geschichte. – So hinreißend wirkte die unverfälschte öffentliche Meinung, daß sich der Kaiser von Rußland, Nikolaus, gleich der amerkanischen Republik moralisch gezwungen sah, seinen Abscheu vor den Folterqualen gegen Juden zu erkennen zu geben. Montefiore konnte die Reise mit geschwellter Brust antreten. Von der Regierung unterstützt, und von den Sympathien der besten Männer Englands begleitet, hegte er die besten Hoffnungen. Nicht so leicht wurde es Cremieux. Er wurde von dem französischen Ministerium eher noch gehemmt. Auf ihrer Durchreise durch Frankreich wurden diese hochherzigen und mutigen Vertreter der Judenheit überall, wo es jüdische Gemeinden gab, mit Begeisterung empfangen. In Livorno, wo das Regierungsschiff, das sie trug, landete, beging die portugiesische Gemeinde den Tag mit einer ernsten Feier. Jeder Unterschied in der Judenheit war verschwunden. Ganz Israel war wieder ein Herz und eine Seele. Altfromme Rabbinen ließen Gebete im Gottesdienste für Montefiore und Cremieux einschalten.

Sobald sie in Kairo angekommen waren, bewarb sich Montefiore, vom englischen General-Konsul aufs kräftigste unterstützt, um eine Audienz bei Mehmet Ali (6. August). Freundlich von ihm empfangen, überreichte er ihm eine Bittschrift im Namen der Judenheit, ihm zu gestatten, nach Damaskus zu gehen und dort Untersuchungen über die Vorfälle anzustellen, deren Ergebnis vom Pascha bestätigt werden sollte. Mehmet Ali geriet in große Verlegenheit. Gern hätte er in diese Forderung eingewilligt, weil ihm daran lag, in Europa als Fürst der Gerechtigkeit zu gelten. Aber der französische General-Konsul Cochelet – laut Weisung von Thiers – hemmte diese Regung und bot alle Mittel auf, den Schleier ungelüftet zu lassen. Durch Mehmet Ali’s Schwankung schleppte sich die Sache noch drei Wochen hin. Die jüdischen Gesandten erhielten keine entsprechende Antwort. Cremieux kam indeß auf das richtige Mittel. Sämtliche europäische Konsuln, oder so viel sich dazu bereit erklären würden, sollten in einer Bittschrift die Freilassung der Gefangenen in Damaskus fordern. Neun Konsuln gingen darauf ein; nur der französische nicht. Um nicht den Schein aufkommen zu lassen, daß er dem Drucke der fremden Mächte durch ihre Vertreter nachgegeben habe, entschloß sich Mehmet Ali aus freien Stücken, den Befehl nach Damaskus abgehen zu lassen, die Gefangenen sofort auf freien Fuß zu setzen. Die beiden jüdischen Gesandten und ihre Begleiter waren voll seliger Freude. Schon hallten die drei Synagogen Alexandriens von Dankgebeten wieder.

Wie aber erstaunten die beiden Vertreter der Judenheit, als ihnen eine Abschrift von Mehmet Ali’s Befehl in türkischer Sprache zuging, welche lediglich Begnadigung gewährte. Cremieux eilte sofort zum Pascha, machte ihm begreiflich, daß der Ausdruck ‚Begnadigung‘ einen Makel an dem Angeklagten und somit auch an der ganzen Judenheit haften lasse. Er verlangte, daß dafür gesetzt werde ‚Freiheit und Ruhe‘. Mehmet Ali ließ darauf diese Änderung im Ferman anbringen.

Sobald der Befehl in Damaskus eintraf, mußte Scherif Pascha, der Mehmet Ali’s Strenge kannte, die noch im Kerker befindlichen neun jüdischen Gefangenen sofort freilassen. Es waren darunter sieben, welche von den Folterqualen verstümmelt und nur zwei, welche verschont geblieben waren. Vier Schlachtopfer waren gefallen. Sobald die Nachricht davon sich in Damaskus verbreitet hatte, versammelten sich alle Juden und viele Türken vor dem Kerkergebäude und begleiteten die Dulder bis zur Synagoge. Es zeigte sich dabei, daß angesehene Muselmänner vom ersten Augenblick an Abscheu vor dem von Ratti-Menton und den Mönchen vertretenen Christenthum empfanden. Denn sie nahmen innigsten Anteil an den Juden.

Die jüdischen Gesandten glaubten ihre Aufgabe noch nicht genügend gelöst, wenn sie nicht, soviel sie vermochten, einer Wiederholung solcher, die ganze Judenheit brandmarkenden Vorfälle vorzubeugen versuchten. In der Voraussicht, daß Syrien mit Damaskus wieder zur Türkei geschlagen werden würde, begab sich Montefiore nach Konstantinopel, knüpfte mit der Pforte Unterhandlung an, und erlangte vom Sultan einen Ferman (6. Nov.), welcher die türkischen Juden in der Zukunft gegen Blutanklage sicher stellte. Cremieux wählte sich ein anderes Feld der Thätigkeit als Montefiore. Das Damascener Märtyrertum hatte die unerwartete Wirkung, daß die lose Verbindung zwischen den Juden in Europa und denen des Morgenlandes fester wurde. Die Letzteren sahen mit Bewunderung, wie viel ihre europäischen Brüder durch Bildung, Einfluß und Mut durchzusetzen vermochten und von den Fürsten und Großen mit Auszeichnung behandelt wurden, während sie selbst bei jedem Streiche widerstandslos den Rücken beugen mußten. Diese Bewunderung benutzte Cremieux zu einem Versuche, die ägyptischen Juden, wenigstens die der zwei Hauptstädte Alexandrien und Kairo, aus ihrer Unwissenheit zu reißen und für Gesittung empfänglich zu machen. Ihre Unwissenheit, selbst im jüdischen Schrifttum, eine Folge des maßlosen Druckes von Seiten der Paschas und der Unterbeamten, sowie der unsäglichen Verarmung, war zugleich die Ursache ihrer tiefen Verachtung bei Mohammedanern und Christen. Salomon Munk, Cremieux‘ Begleiter, richtete ein beredtes hebräisches und arabisches Sendschreiben an die Juden Ägyptens, worin er Beispiele des ehemaligen Glanzes der Juden in diesem Lande verglich mit dem Schatten des gegenwärtigen Elends der Juden, die Folge ihres geistigen Verfalles. Durch diese Bemühung konnte in kurzer Zeit in Kairo eine Knaben- und eine Mädchenschule eröffnet werden. Sie führten den Namen Cremieux-Schulen. Der Anreger versprach aus Europa jährlich Zuschuß zu verschaffen, weil die Gemeinde nicht imstande war, sie aus eigenen Mitteln zu unterhalten. Munk brachte bei dieser Gelegenheit eine wichtige Versöhnung zu stande. Er setzte es gegen den Eifer einiger rabbanitischen Stockfrommen durch, daß auch die Kinder der Karäer zu den Schulen zugelassen wurden, von denen es in Kairo nur noch hundert Seelen gab. Der Großrabbiner von Konstantinopel (Chacham Baschi), Mose Fresco, erließ bei dieser Gelegenheit ein Rundschreiben an die türkischen Gemeinden, daß es Pflicht der Juden sei, die Landessprache (das Türkische) zu erlernen, um dem Wunsche des Sultans entgegenzukommen. Die Mischsprache, in der dieses Rundschreiben des Chacham Baschi abgefaßt ist (Altspanisch mit hebräischen und türkischen Wörtern) machte die Notwendigkeit für die Juden, sich einer reinen Sprache zu bedienen, recht augenfällig.

Indessen waren diese Anfänge lediglich ausgestreuter Samen im Wüstensand, dessen Wurzelung und Wachstum zweifelhaft waren. Wesentliche und dauernde Früchte brachte die Sendung nach Ägypten der jüdischen Wissenschaft, und zwar durch Salomon Munk (geb. Glogau 1802, gest. Paris 1867). Er vermehrte die Zahl der großen Charaktere, welche die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unter den Juden gezeitigt hat. In seiner Duldergröße im Unglück und seiner Heiterkeit im Leiden durch Erblindung, die er sich im Dienste der Wissenschaft zugezogen, bewunderten ihn Deutschland und Frankreich. Gründlich wie er war, und sich nicht am Halbwissen begnügend, vertiefte er sich in die beiden Litteraturkreise, den hebräischen und arabischen, und umspannte noch dazu viele andere Wissens- und Sprachgebiete, welche ihm dazu förderlich schienen. So wurde er im umfangreichen arabischen Schrifttum einer der ersten Meister seiner Zeit. In seiner Eigenschaft als Dolmetscher in Begleitung Cremieux‘ sprach und schrieb Munk das Arabische wie ein in arabischen Zelten Geborener. Vermöge seiner Kenntnis dieses Idioms beleuchtete er die Glanzepoche der jüdischen Geschichte im Mittelalter während der Herrschaft der Araber im Morgen- und Abendlande. Die tiefen Gedanken Maimuni’s, des Geistesweckers, dem der jüdische Stamm zunächst die Wiedergeburt in der Neuzeit verdankt, sind erst durch Munk’s Forschungen vollständig erschlossen worden.

Die Rückreise der jüdischen Gesandten aus dem Morgenlande, welche nicht bloß einige Menschen vom Tode, sondern das Judentum vor Schmach gerettet hatten, war ein förmlicher Triumphzug. Von Korfu bis Paris und London und bis tief in Polen hinein waren die jüdischen Gemeinden einmütig im Dankgefühl gegen die Retter und rangen nach sichtbaren Zeichen, um ihre Dankbarkeit und zugleich  das jüdisch-patriotische Hochgefühl auszudrücken. Sie erschöpften sich in Ansprachen, Adressen, Zuschriften in allen europäischen Sprachen und selbstverständlich auch im hebräischen Tone, in Prosa und Versen, in Aufmerksamkeiten und Geschenken um das wichtige Ereignis, das sich an Damaskus und die beiden Hauptvertreter der Judenheit und des Judentums knüpfte, würdig zu feiern und die Erinnerung an die Nachwelt zu überliefern. Cremieux, welcher zuerst die Rückreise antrat, empfing überall enthusiastische Huldigungen. Nur die Judenschaft von Paris verhielt sich kühl und bereitete ihrem Sendboten keinen gebührenden Empfang, als hätte sie sich gescheut, die Empfindlichkeit des Königs Ludwig Philipp, dessen zweideutiges Benehmen augenfällig war, zu verletzen. – Montefiore, der längere Zeit in Konstantinopel geweilt hatte, um einen  günstigen Ferman zu erlangen, und die Rückreise später antrat, wurde mit überströmenden Zuschriften von allen Seiten überschüttet. Er entwaffnete selbst die Gegner der Juden. Dem Kardinal Rivarola, dem Beschützer aller Kapuziner in Rom, zwang er das Versprechen ab, den Grabstein aus der Kapuzinerkirche in Damaskus entfernen zu lassen, welcher die angebliche Mordthat der Juden an dem Pater Tomaso verewigen und ihn als Märtyrer darstellen sollte. Auch den König Ludwig Philipp zwang er, eine gute Miene zum bösen Spiele zu machen. Dieser mußte anstandeshalber Montefiore zum Erfolge seiner Reise und Sendung Glück wünschen. Aufrichtiger dankte ihm die Königin Viktoria. Sie belohnte Montefiore mit einem Ehrenwappenzeichen, das nicht nur ihm, sondern auch seinem Stamme eine hohe Bedeutung verlieh. Er durfte zu seinem Ritterwappen hinzufügen Wappenschilderträger, welche nur die Pairs von England und Personen vom höchsten Range führen durften und darin die hebräische Inschrift ‚Jerusalem‘ anbringen. Noch bedeutungsvoller als dieses Kinderspiel für Große waren die Worte der Königin, welche die huldvolle Auszeichnung begleiteten. Sie lobte ihn, daß er das Lügengewebe gegen die Juden zerrissen und Unschuldige gerettet hatte.“     

Quelle:

H. Graetz, Volkstümliche Geschichte der Juden, Leipzig o. J. (1889), Bd. 3, S. 714-730

Anmerkungen:

Der Text von Graetz wurde in seiner Originalschreibweise übernommen, Hervorhebungen von ihm kursiv wiedergegeben.

Literatur:

Grätz, Heinrich in: Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1905
Graetz, Heinrich in: Brockhaus Enzyklopädie, 21. Aufl., Leipzig und Mannheim 2006
Neues Lexikon des Judentums, (Hg.) J. H. Schoeps, Gütersloh/München 1998, Stichworte: Damaskus-Affäre; Graetz, Heinrich; Ritualmordvorwurf
Ritualmord: Woher stammt der moslemische Antisemitismus?
Graetz und das nationale Judentum
Wissenschaft des Judentums

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