Krise im Klassenzimmer

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Das israelische Bildungssystem befindet sich in einer dramatischen Schieflage. Eine neue Studie nennt die Gründe…

Von Ralf Balke

Pisa lässt grüßen. Regelmäßig belegten israelische Schüler in internationalen Vergleichen die Spitzenplätze in Mathematik. Das war in den sechziger Jahren. Heute dagegen rangieren sie irgendwo auf Platz 33 von 41 untersuchten Ländern. Gründe für diesen Absturz gibt es reichlich und sie sind eigentlich allen bekannt. Deshalb wurde die jüngste Studie des Adva Center for Equality and Social Justice, die alle Mängel des israelischen Bildungssystems auflistet und die Ursachen nennt, von der Öffentlichkeit nur noch mit einem resignierten Achselzucken zur Kenntnis genommen. Dabei sind es nicht immer nur mangelnde finanzielle Ressourcen, die zu der akutellen Misere geführt haben.

„Das gesamte israelische Schulsystem ist durch eine Trennung in verschiedene soziale und religiöse Sektoren gekennzeichnet. Verschärft wird die Situation durch einen massiven Kontrollverlust der Verantwortlichen“, so Dr. Schlomo Swirsky und Noga Dagan-Buzaglo, die Autoren der Studie. „Der Staat hat nicht nur massiv versagt, sondern negative Entwicklungen geradezu gefördert.“

Explizit verweisen sie dabei auf die Bildungseinrichtungen der Ultra-Orthodoxen. Weil Staatsgründer David Ben Gurion sich das Wohlwollen der zu Anfang der fünfziger Jahre sehr überschaubaren Anzahl der Haredim sichern wollte, befreite er sie nicht nur von der Wehrpflicht, sondern garantierte ihnen auch Unabhhängigkeit in Sachen Schulwesen. Und da sich sephardische und aschkenasische Orthodoxe in inniger Abneigung verbunden fühlen, entstand in den letzten beiden Jahrzehnten unter dem Namen Maayan Hahinuch Hatorani (zu Deutsch: Quelle für Thora-Erziehung) ein weiteres System, dessen rund 180 Schulen sich quasi im Besitz der sephardisch-orthodoxen Schass-Partei befinden. Beide lassen sich natürlich gerne vom Staat alimentieren, vermitteln ihren Schülern aber fast ausschließlich religiöse Inhalte. „Sie simulieren nicht einmal das Festhalten an den verbindlichen Lehrplänen“ erklären Swirsky und Dagan-Buzaglo. Entsprechend katastrophal sind die Kenntnisse in so gut wie allen nicht-religiösen Fächern. Das betrifft mittlerweile fünfundzwanzig Prozent aller israelischen Grundschüler.

Parallel dazu kritisieren die Autoren der Studie eine ganz andere Entwicklung: Wohlhabende Eltern greifen immer öfter für die Ausbildung ihrer Sprösslinge tief in die eigene Tasche. Sie finanzieren Zusatzangebote oder die Anschaffung von modernem Lehrmitteln. Denn nicht selten hat der Staat aus Geldnot an öffentlichen Schulen den Lehrplan ausgedünnt oder es stehen museumsreife Computer in den Klassenräumen. „Damit verschärft sich aber auch die Kluft zwischen arm und reich“, heißt es in der Studie. Schüler aus sozial schwächeren Familien hätten wenig Chancen, an solchen Schulen angenommen zu werden. Oder – wie im Falle von privat finanzierten religiösen Schulen in Petach Tikwa – kann es geschehen, dass Schülern äthiopischer Herkunft der Zutritt verweigert wird. Nun muss man nicht unbedingt die Meinung der Autoren teilen, dass das finanzielle Engagement von Eltern in Sachen Bildung schlecht sein muss. Problematisch wird es jedoch, wenn auch hier Einfluß auf die zu vermittlenden Inhalte genommen wird. Und weil darüber hinaus noch ein arabischer Sektor im Bildungssystem exisitiert, der sich wiederum in Schulen für Muslime, Drusen und Christen auffächert, kommt die Studie von Adva zu folgendem Schluß: „Es gibt einfach keinen Curriculum mehr, der für alle Schüler verbindlich ist.“ Nicht nur über die finanzielle Ausstattung der einzelnen Schulen hat der Staat den Überblick verloren, sondern ebenfalls über sämtliche Lerninhalte. Und an Sanktionen gegen Bildungseinrichtungen, die sich an keinen Lehrplan halten, denkt keiner.

Einig wissen sich die Verfasser der Adva-Studie mit allen anderen Forschern zum Thema: Der Niedergang des israelischen Schulsystem steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Ansehensverlust der Lehrer. Die Gehälter, die mittlerweile bezahlt werden, sind geradezu lächerlich. „Entweder muss man ein Idealist sein oder aber einen Partner haben, der ordentlich Geld verdient“, berichtet Dalit Har Tov. Mit einem Magister in der Tasche und mehreren Jahren Berufserfahrung erhält die 44jährige Mutter zweier Kinder für 28 Stunden Unterricht – Vorbereitungszeiten nicht mitgerechnet – an einer Schule für Jugendliche mit Lernproblemen umgerechnet weniger als eintausend Euro brutto im Monat. „Berufsanfänger mit einem B.A. als Abschluss verdienen rund 550 Euro im Monat“, weiß sie zu erzählen. Kein Wunder, dass sich die Motivation und Qualifikation sehr in Grenzen hält. Zudem stellt sich der Staat nicht wirklich geschickt an, um etwas an dieser Situation zu verändern. In jüngster Zeit hat man Arbeitslose aus der Hightech-Industrie umgeschult, damit sie Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften unterrichten. „Diese wurden mit deutlich höheren Gehältern gelockt. Das hat natürlich für böses Blut unter den Lehrern gesorgt.“ Von Seiten des Bildungsministeriums wollte man den Adva-Bericht noch nicht kommentieren. „Wir werden ihn erst einmal gründlich studieren,“ hieß es. Das kann man nur hoffen.

Eine redaktionell bearbeitete Version dieses Artikels erschien in der Jüdischen Allgemeinen vom 23.12.2009.

9 Kommentare

  1. Eine Frage, die ich erhielt: Was ist das Licht, welches in der Ausbildung von Kindern Veränderungen hervorbringt?
    Mein Antwort: Das Licht, welches verbessert, ist eine Höhere Kraft, die Kraft der Weisheit, die vom Lehrer kommt und den Studenten beeinflusst, der dann fragt: „Was ist es ?”
    Das Licht, welches verbessert, ist die Wirkung der Höheren Stufe auf das Niedere, eine Wirkung mit Kraft und Rang, nicht mit Wissen. Wenn der Niedere seine Eigenschaften denen des Höheren anpasst, dann enthüllt er, was sich im Höheren befindet. Darum besteht eine echte Ausbildung darin, den Kindern immer neue Herausforderungen zu geben. Durch Diskussion, Problemlösungen und das eigene Überwinden von Hindernissen, werden sie irgendwann das Wissen von selbst erlangen.
    Es stellt sich heraus, dass die reinste Form des Lehrens durch Diskussion erfolgt. Alte Schulen benutzten genau diese Methode. Rabbi Akiva saß umringt von seinen Studenten unter einem Baum und diskutierte verschiedene Themen.
    Andere Länder hatten einen besonderen Platz eingerichtet, wo sich die Leute treffen konnten und Verschiedenes diskutieren. Sie kamen und gingen, wann sie wollten, hörten anderen zu und drückten ihre Meinung aus. Dank ihrer Diskussionen und des freien Meinungsaustausches wurden diese Menschen in die Gesellschaft einbezogen. Diese Art der Ausbildung war für viele Kulturen charakteristisch, sogar das Wort „Schule”, übersetzt aus dem alten Griechenland, bedeutet „Freizeit” – gut genutzte Zeit.
    Darin liegt das Wesen einer Schule: Ein Mensch geht dort hin, um in einer freundlichen Athmosphäre, die gut für seine Entwicklung ist, teilzuhaben. Wir hingegen propfen unsere Kinder zu ihrem Schaden mit Wissen voll. Solche Art von Ausbildung können sie nicht ausstehen. Erstens studiert der Mensch nicht von selbst, sondern er wird wie ein Roboter mit Daten vollgestopft. Zweitens wird er dadurch nicht zu einem „Menschen” geformt. Und das bringt laut Aristoteles und Plato großen Schaden.
    mehr unter http://www.laitman.de/page/2/?s=bildung

  2. @yoyojon
    Vielleicht ist Pisa einfach nicht für die Beantwortung aller Fragen geeignet – denn wie du ja in “Start-Up Nation”siehst, scheint es um die nicht sooo schlecht zu stehen. Wobei es sicher nicht fasch ist, Probleme (z.B. Bezahlung der Lehrer) zu thematisieren und nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Nebenbei bemerkt zeigt das Abschneiden der israelischen Schulen, daß Gemeinschaftsschulen kein Allheilmittel sein müssen … sie können gut funktionieren, müssen aber nicht, viel hängt von der Ausstattung der Schulen aber auch der Motivation von Lehrern *und* Schülern ab, es ist kein Zufall, wenn gerade Kibbuzschulen sehr begehrt sind, auch und gerade bei „bürgerlichen“ Eltern.
     

  3. Wenn ich den Artikel richtig gelesen habe, dann sieht man hier wie in vielen Ländern, also etwa in der Bundesrepublik, dass Bildung und Erziehung nicht viel mit den umfangreichen Erkenntnissen zu tun haben, die ganze Unibibliotheken füllen, sondern dass Bildung zu einem Ball geworden ist, der auf dem Spielplatz Politik herumgeworfen wird (Tenor: Täuschung und billig, billiger, am billigsten). Das Ergebnis ist, dass man sich auf den Weg in die 3. Welt begibt und schliesslich, wenn man angekommen ist, ein wildes Wehgeschrei erheben und krampfhaft nach Schuldigen suchen wird. Die sind ganz einfach wir alle bzw. die jeweils betroffenen Bevölkerungen. Schließlich wählen wir immer wieder Politiker, die dieses Ballspiel betreiben. Wäre jedem Politiker klar, dass er nicht gewählt wird, wenn er kein klares und ernsthaftes und finanziell gut ausgestattetes Konzept vorlegt, würde sich das ändern. Kann es sein, dass den jeweiligen Bevölkerungen Bildung mehrheitlich eher egal ist? Seltsam… Sollte man doch meinen, dass Bildung zukünftig (und schon heute) das Einzige ist, das Lebensperspektiven eröffnen kann. (Betonung auf „kann“). Habe gerade „Start-Up Nation“ gelesen. Ist das etwa schon veraltet?

  4. Wer übrigens aus tiefstem Herzen überzeugt ist, daß Nichtjuden im israelischen Bildungssystem extreeeem benachteiligt sind, der informiere sich über den Prozentsatz arabischer Sudenten und Dozenten … Ãœberraschung garantiert!
     

  5. Jaja, der große Israelexperte „durch nichts belegte Blogeinträge von irgendwelchen Leuten im Internet“ … you made my day! 😉
     
    „Ich kann’s nicht beurteilen, kenne den/die Blogger/in ja nicht.“
     

  6. Ja, durch nichts belegte Blogeinträge von irgendwelchen Leuten im Internet waren schon immer eine gute Möglichkeit, an Sachinformationen zu kommen. Insbesondere, wenn Sie zur Frage, nämlich warum das Schulsystem für Araber mit viel weniger Geld pro Kopf auskommen muß als das für Juden, nichts, aber auch rein gar nichts aussagen.
    Und noch eins, um so einen Satz… „Niemand in Israel denkt in der Kategorie „Rasse“, das ist eine deutsche Spezialität. Hier denkt man in ethnischen Kategorien: das Volk Israel, das arabische Volk, das palästinensische Volk. „…vom Stapel zu lassen, muß man entweder recht naiv oder ziemlich dreist sein.
    Ich kann’s nicht beurteilen, kenne den/die Blogger/in ja nicht. Aber zu sagen „Hier gibt’s keine Rassisten, weil sich niemand offen als Rassist outet, indem er den Rassebegriff verwendet“… naja. Dann gibt’s hier ja auch keine Antisemiten, gell?

  7. @Koshiro:
     
    Wundern sie sich jetzt darüber, daß in Siedlungen mit schlechter Steuermoral weniger Geld für kommunale Aufgaben zur Verfügung steht!?
     
    Bei Lila finden sich folgende Betrachtungen zum „alltäglichen Rassismus“ im israelischen Schulwesen:
    Rassismus im Schulsystem? Da müßte ich mehr drüber wissen, woher sich der Vorwurf speist.
    Weil es ein arabisches und ein jüdisches Schulsystem gibt, außerdem religiöse Schulen aller Schattierungen und säkulare und gemischte? Und sich jeder aussuchen kann, wo er seine Kinder hin schicken will? Oder wieso?
    Ich weiß, daß „wohlmeinende Kritiker“ Israel auf jeden Fall Rassismus vorwerfen, sowohl wenn sie die arabische Minderheit respektiert und ihr große Autonomie einräumt (Ghetto! Zweiklassensystem!) als auch im hypothetischen Fall eines einheitlichen Systems…
    Was es sehr wohl gibt, genau wie in Deutschland: rassistische Einstellungen Einzelner, in krassen Fällen auch von Gruppen wie Elternpflegschaften oder Schulleitern, die dann dafür sorgen, daß äthiopische Schüler nicht in ihre Schulen gehen dürfen. Das sind skandalöse Einzelfälle, die mit großem Trara durch die Presse gehen. Wäre das Erziehungssystem von Grund auf rassistisch, würde es solche SChlagzeilen wohl nicht geben.
    Der jordanische Forscher meinte gestern, daß in Israel Minderheiten gefördert werden und Aufstiegschancen haben wie nirgendwo sonst im Nahen Osten (und auch in vielen europäischen Ländern nicht – man denke an die Ergebnisse der PISA-Studie, was Kinder ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland angeht…). Und das sagte er als Antwort auf die Klage der Studenten über Diskrimination….
    Wohlgemerkt, alles Studenten, die ausgebildete Lehrer mit Erfahrung, die meisten davon an arabischen Schulen tätig, die entweder christlich, moslemisch oder sonstwie ausgerichtet sind, ganz nach Wahl der Schulleitung, des Kollegiums, der Elternschaft und der Gemeinschaft. Und alle diese Studenten sind in ihrem Sabbatical, machen also auf Kosten ihres Arbeitgebers, des sonst recht kniepigen Erziehungsministeriums, ein Diplom zur Arbeit mit Hochbegabten, mit dem Ziel, überall im arabischen Sektor Zentren für Hochbegabung einzurichten.
    Wenn man die bloße Zugehörigkeit zu einer Minderheit schon als diskriminierned empfindet, dann sind die Araber im israelischen Schulsystem diskriminiert. Aber man sollte nicht vergessen, daß es arabische Bürgermeister und Schulleiter sind, die im arabischen Schulsystem und in arabischen Städten das Sagen haben und die Entscheidungen fällen.
    Probleme, die es unleugbar gibt, haben oft multi-kausale Vorgeschichten (zB miserable Steuermoral der arabischen Bevölkerung, daher oft leere Kassen in den Kommunen).
    Arabische Studenten studieren, wo sie wollen, kriegen Stipendien, Plätze im Studentenwohnheim, und wenn sie Karriere machen wollen, können sie das (allerdings haben Moslems zB in der Militärindustrie schlechte Karten, und es gibt Bereiche, in denen die Karriere leichter zu bewerkstelligen ist als in anderen – wie es auch für Frauen, Neueinwanderer etc gilt).
    Aber Rassismus? Niemand in Israel denkt in der Kategorie „Rasse“, das ist eine deutsche Spezialität. Hier denkt man in ethnischen Kategorien: das Volk Israel, das arabische Volk, das palästinensische Volk.

    http://rungholt.wordpress.com/2009/11/20/hatt-ich-nur-mehr-zeit/

  8. Oh, ein ganzer Nebensatz für den „arabischen Sektor“.  Und natürlich nichts darüber, wie es mit dessen Budget, verglichen mit den Staatsschulen für jüdische Kinder, aussieht.

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