Maimonides: Kommentar zur Mischna über Lohn und Strafe

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Ich muß hier erst einmal einiges über wichtige Grundsätze der Religion vorausschicken. Man muss nämlich wissen, dass die Ausleger der Tora verschiedene Meinungen über die Seligkeit haben, welche die Menschen infolge der Erfüllung der uns durch unseren Lehrer Moses überlieferten göttlichen Gebote zu erwarten haben, und über die Strafe, deren wir bei Versündigungen gewärtig sein müssen…

Der Mischna-Kommentar (Sanhedrin X 1) des RaMBaM (Rabbi Moses Bar Maimon, auch Maimonides) wurde übersetzt von J. Winter und Aug. Wünsche, Die Jüdische Litteratur II, 1894, 386 ff.

„Jeder in Israel hat teil an der kommenden Welt, denn so heißt es (Jes 6o, 21): ,Dein Volk, allsamt nun sind sie Bewährte, auf Weltzeit erben sie nun das Land.'“

Die Auffassung von diesen Dingen richtet sich nach der Klarheit des Verstandes; bei manchen ist sie ganz verworren, niemand aber hat eine ganz deutliche und entschiedene Vorstellung von der Sache. Man kann dabei fünf Auffassungen unterscheiden: Die eine Klasse von Menschen stellt sich unter Seligkeit ein Paradies, und zwar einen Ort vor, wo die Menschen ohne körperliche Mühe und Anstrengung dahinleben, essen und trinken, prächtige Häuser bewohnen, in seidenen Betten schlafen, in Strömen von Wein schwelgen, an würzigem Öl sich erquicken und viele ähnliche Vergnügungen genießen. …Die zweite Klasse sieht in dem erwarteten Heil die Zeit des Messias, der bald erscheinen wird, und glaubt, daß in jener Zeit alle Menschen wie Engel (nach anderer Lesart: Könige) sein werden; alle würden, groß und stark, mächtig und die ganze Welt beherrschend, ewig leben; die Erde würde fertige Kleider und gebackenes Brot und ähnliche unmögliche Dinge hervorbringen. …Eine dritte Klasse glaubt, daß das Heil, der Lohn, in der Wiederauferstehung der Toten besteht; daß der Mensch vom Grabe zurückkehren, sich seiner Familie wieder anschließen, essen und trinken wird, ohne vom Tode wieder bedroht zu sein. …Die vierte Klasse behauptet, daß die Erfüllung der Gebote zum Lohne die Glückseligkeit in diesem Leben herbeiführt, und zwar: Ruhe, irdisches Wohlergehen, die Erfüllung unserer irdischen Bestrebungen, Gedeihen des Landes, Vermehrung des Besitzes, der Nachkommen, der Gesundheit, Frieden und Sicherheit, einen eigenen israelitischen König, Herrschaft über alle, die uns bedrückt haben.

…Die fünfte Klasse endlich, der die meisten huldigen, sucht alles zu vereinigen und träumt von einer Zukunft, in der gleichzeitig der Messias erscheinen wird, die Toten auferstehen, alle der paradiesischen Freuden teilhaftig werden, essen, trinken und gesund sein werden in Ewigkeit.

Das Wunderbare aber ist, daß äußerst wenige danach streben, den Kern der Sache logisch zu erfassen, den Begriff der Seligkeit als eines Endzieles zu ergründen und sich davon Rechenschaft zu geben, ob bei einer der genannten Meinungen der gedachte Lohn auch wirklich das höchste Gut ist und in welchem Wertverhältnis das erstrebte Ziel als Wirkung zu seiner Ursache steht.

Du aber, Leser dieses Buches, betrachte nur aufmerksam das Gleichnis, das ich anführen werde, dann wird dir klarwerden, wie ich über diese Dinge denke. Stelle dir vor, man bringt einen kleinen Knaben zu seinem Lehrer, von dem er seine Bildung empfangen soll. Es ist offenbar das größte Gut, das man ihm zuteil werden lassen will, indem man seine Vervollkommnung wünscht. Das Kind ist jedoch zu jung an Jahren und zu schwach an Verstand, um jenes Gut zu begreifen, das man ihm zugedacht hat, und die Vorteile zu würdigen, die ihm aus der Vervollkommnung erwachsen können. Da der Lehrer klüger ist, so muß er den Zögling durch solche Dinge zum Studium ermuntern, die ihm bei seiner Jugend als wertvoll und angenehm gelten. Er spricht zum Schüler: Lies, ich werde dir dafür Nüsse, Feigen, Honig zu kosten geben. Und der Junge liest eifrig, nicht weil er dem Buche irgendeinen Geschmack abgewinnt und in der Leseübung das für ihn Gute erkennt, sondern weil er das Süße und Wohlschmeckende erwartet, das ihm zum Lohn versprochen wurde und das für ihn mehr Wert hat als das ganze Studium. Dieses ist ihm zur Qual, der er sich unterzieht, um das geliebte Ziel zu erreichen, d. h. eine Nuß oder einen Honigkuchen zu bekommen. Wenn er größer und reifer wird, erscheint ihm freilich ein solches Ziel als zu unbedeutend und nicht der Mühe wert; wenn er dann zum Lernen angespornt werden soll, so müssen ihm höhere Dinge in Aussicht gestellt werden, und der Lehrer spricht zu ihm: Lies, dann wirst du schöne Schuhe, einen prächtigen Anzug bekommen!

Das Ziel ist verlockend, und der Knabe gibt sich Mühe. Später muß der Lohn noch bedeutender werden; es wird dem Schüler für ein Kapitel, das er lernen soll, Geld versprochen, ein Denar, zwei Denare. Der Knabe lernt dann gerne, um das Geld zu erhalten. Endlich aber wird der Schüler groß, und die kleinen Geschenke verfangen nicht mehr, dann ermuntert ihn der Rabbi: Lerne, damit du Vorsteher oder Richter wirst, daß die Leute dich ehren und vor dir aufstehen wie vor diesem und jenem. Der Jüngling lernt dann, um die ersehnte hohe Stufe zu erreichen, und als Ziel gelten ihm dann Ehre und Ruhm seitens der Menschen.

Dies alles ist häßlich, aber notwendig bei der gewöhnlichen Beschränktheit des menschlichen Verstandes, der als Ziel bei der Erlangung des Wissens etwas anderes als das Wissen selbst betrachtet, sich die Frage vorlegt: Wozu soll ich nach Wissenschaft streben? und keinen anderen Zweck findet als äußere Ehren. Ein Lernen dieser Art nannten unsere Weisen ein nicht in frommer Absicht betriebenes Lernen oder Üben des Guten, d. h. das Erlernen oder Üben des Dinges nicht seiner selbst wegen, sondern mit Rücksicht auf andere Ziele, und sie warnen uns (Sprüche der Väter IV 7): „Mache sie (die Lehre) weder zur Krone, um durch sie verherrlicht zu werden, noch zum Spaten, um damit zu graben!“

Sie weisen uns darauf hin, wie ich dir auseinandergesetzt, daß die Beschäftigung mit der göttlichen Lehre weder unserem Ehrgeiz noch unserer Gewinnsucht dienen soll, daß wir sie nicht zur Einnahmequelle für unsere Lebensbedürfnisse machen dürfen. Das Ziel des Strebens nach Wahrheit ist das Erkennen der Wahrheit, und die Tora ist die Wahrheit; das Ziel des Erkennens der Gebote ist, sie zu erfüllen. Der vollkommene Mensch darf nicht sagen: Wenn ich nun die anempfohlenen guten Eigenschaften an mir verwirklichen, die Schwächen und Sünden von mir entfernen werde, welchen Lohn werde ich alsdann ernten? – Es ist ganz dasselbe, wie wenn der Knabe fragt: Was werde ich für das fleißige Lesen bekommen? Wir geben ihm einen Lohn an je nach seinen Begriffen und nach der Stufe seiner Entwicklung.

Wir sollen aber auch nicht nur beim Streben nach Erkenntnis, sondern ebenso beim Gottesdienst und bei der Erfüllung der Gebote keinen Lohn erwarten, und das ist, was Antigonos aus Socho, ein fein denkender, die Dinge richtig erfassender Mann, behauptet hat (Sprüche der Väter I 3): „Seid nicht wie Knechte, die dem Herrn dienen, um einen Lohn zu erhalten, sondern wie solche, die ihm ohne jede Lohnerwartung dienen.“ Es wird dies auch der „Dienst aus Liebe“ genannt, und unsere Weisen sagen (Aboda Sara 19a): (Ps 112,1): „Heil dem Manne, der Gott fürchtet, der an seinen Geboten Wohlgefallen findet“ – nicht am Lohn für seine Gebote.

Noch deutlicher ist, was im Buche Sifre gesagt wird: „Du wirst vielleicht denken: Ich will Tora lernen, damit ich ein reicher Mann, damit ich ein Rabbi genannt werde oder Lohn in der Welt der Zukunft erhalte; darum heißt es in der Schrift: ,den Ewigen zu lieben‘, d. h., was ihr tut, soll nur aus Liebe für ihn geschehen.“ Das ist die Absicht unserer Tora und der Lehre unserer Weisen; sie übersehen und außer acht lassen kann nur ein Narr und jemand, dessen Gedanken verworren sind. Da jedoch unsere Weisen erkannten, daß diese Stufe sehr schwer zu erreichen ist und es für den Anfang selbst dem Gelehrten nicht leicht ist, sich mit dem Gedanken zu befreunden, da man gewöhnt ist, als Mensch etwas nur mit Rücksicht auf Nutzen oder Schaden zu tun oder zu unterlassen, und man nicht weiß, wie man, sei es auch nur an den Gebildeten, mit der Zumutung herantrete: Tu dieses, scheue jenes – und zwar ohne Hoffnung auf Lohn oder Furcht vor Strafe -, so haben unsere Alten dem Volke, damit es beim Glauben verharre und das Gute übe, gestattet, daß es sich Vorstellungen von irdischem Lohn für Erfüllung und von äußeren Strafen für Verletzung der Gebote bilde; damit ermuntern sie die Menge und erziehen sie, bis der Aufgeklärte das Richtige begreift -ganz so, wie es dem im Gleichnis angeführten Schüler ergeht.