Juden in der Welt: Türkei

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In der heutigen europäischen Türkei leben, der 1927 zum ersten Male in diesem Staate unternommenen Zählung zufolge, 55.ooo Juden, das sind 4,7% der Bevölkerung, die sich hauptsächlich auf Istanbul (46.700) und Edirne (5.700) verteilen. Der Rückgang der jüdischen Bevölkerung ist aus den für 1908 schätzungsweise angegebenen Zahlen zu ersehen. Danach wies Istanbul 60.000 Juden auf und Edirne 25.000…

Dr. Mark Wischnitzer, Die Juden in der Welt

Das ruckartige Absinken der Ziffer für Edirne findet in den Katastrophen der letzten dreißig Jahre seine Erklärung: 1905 wurden alle 13 Synagogen der Stadt durch Feuersbrunst zerstört, 1912 wurde die Stadt von den Bulgaren erobert, späterhin von den Türken zurückerobert und zuletzt im Weltkrieg von den Griechen besetzt. Die jüdische Einwohnerschaft Istanbuls ging infolge starker Abwanderung zurück. Die Volkszählung von 1927 stellt bei den Juden ein Überwiegen der Frauen über die Männer fest, in Istanbul kamen auf 1000 Männer 1149 Frauen und in Edirne 1197.

Die Masse der Juden setzt sich aus Schiffern, Bootsführern, Lastträgern, kleinen Handwerkern und Fischern zusammen. Im europäischen Viertel Istanbuls, in Pera, herrscht der Mittelstand und die Oberschicht vor, die sich aus Anwälten, Ärzten und Kaufleuten zusammensetzen.

Der Lausanner Friedensvertrag von 1923 sicherte den Juden der Türkei Minderheitsrechte zu. Die Regierung der neuen türkischen Republik fordert und fördert jedoch die Assimilation aller an die Staatsnation. Die Türkisierung der Minoritäten wird systematisch durchgeführt. Türkisch gilt als Unterrichtssprache auch in den Minderheitenschulen. Dem konfessionslosen Charakter des neuen Schulwesens entsprechend darf religiöser Unterricht nicht erteilt werden. Organisierungsversuchche der Minoriläten, sei es auch nur der Zusammenschluss der Kultusgemeinden, werden unterdrückt. Die jüdische soziale Fürsorge und die jüdischen Schulen befinden sich in einer unerträglichen finanziellen Lage. Von 8.000 schulpflichtigen Kindern besuchten im Jahre 1929 ungefähr 6ooo die Schule, davon 3500 die jüdische Schule und 2500 die christlichen Missionsschulen. Ausländer dürfen an den jüdischen Schulen nicht als Lehrer angestellt werden.


Abb.: Bilder von einer Reise nach Jerusalem

Die neue Republik versprach allen ihren Staatsbürgern ohne Unterschied der Religion und der ethnischen Zugehörigkeit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Sie verlangte dafür von den Minoritäten den Verzicht auf die Rechte, die ihnen der Lausanner Vertrag zugestanden hatte. Die Juden verzichteten denn auch auf die Minoritätenrechte. Es bahnt sich unter ihnen eine Assimilierung an das Türkentum an. Die Familiennamen werden türkisiert. Neuerdings erschien ein mit lateinischen Lettern gedrucktes hebräisches Gebetbuch, der Reform der türkischen Schriftzeichen entsprechend. Es entstehen türkischjüdische Sprachvereine. Allerdings ist der Weg, der zurückzulegen ist, ein weiter. Die sefardischen Juden sprechen noch immer überwiegend Spaniolisch, die aschkenasischen Deutsch. Nach der Trennung von Staat und Kirche wurde das Oberrabbinat von Istanbul, das in der Geschichte der Juden der Türkei stets eine große Rolle gespielt hatte, seines offiziellen Charakters beraubt.

Trotz der verfassungsmäßig festgelegten Parität sind Juden in der Verwaltung und in der Justiz nicht anzutreffen. Anfang 1935 ist ein Jude, Dr. Abrewaja, Professor der Pathologie an der Universität in Istanbul, ins Parlament gewählt worden.
Die Türkei von heute ist kein Einwanderungsland, zumal die Rückwanderung von Türken aus den christlichen Balkanländern noch nicht abgeschlossen ist und naturgemäß in erster Linie Berücksichtigung erfahren muß. Das Gesetz zur Förderung der Industrie sieht vor, daß Unternehmungen, die eine staatliche Begünstigung beanspruchen, also praktisch alle nennenswerten Betriebe des Landes, nur türkische Staatsangehörige beschäftigen dürfen. Ausländer, die in der Hoffnung, irgendeinen Erwerb zu finden, in den letzten Jahren nach der Türkei gegangen sind, wurden bitter enttäuscht. „Die allgemeine wirtschaftliche Lage“, berichtete ein Auswanderer, „spottet einfach jeder Beschreibung. Wir warnen alle jüdischen Auswanderer davor, nach der Türkei zu gehen . . . Wir sind alle schon seelisch vollkommen krank und gebrochen; ich glaube, ich verliere den Verstand.“
Andererseits wurde von der türkischen Regierung einer Anzahl jüdischer Professoren und Hochschulassistenten aus Deutschland ein Betätigungsfeld an der reorganisierten Universität in Istanbul geboten. Einzelnen Ingenieuren und Kaufleuten ist es gelungen, Lücken auszufüllen, aber es ist doch nur eine Tropfenwanderung, was wir hier beobachten, wie denn auch der ganze Balkan, einmal ein aufnahmefreudiges Land, sich heute in seinem inneren Umordnungsprozess zunächst vor allem Fremden abzuriegeln sucht.

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