Mysterium tremendum: Eleh eskera

0
45

Für die synagogale Dichtung des Pijut am Versöhnungstag sind besonders die Lieder charakteristisch, die den Tod der Gerechten, der Blutzeugen des Glaubens, betrauern und rühmen…

Schalom Ben-Chorin
Aus “Betendes Judentum: Die Liturgie der Synagoge”, Münchener Vorlesung, Kap. X, pp. 184

Eleh eskera

Hier ein Beispiel aus dem Pijuth „Eleh eskera“ ,von R. Jehuda in meiner eigenen Nachdichtung:

Rabbi Jischmael stieg betend empor
Und fragte die Engel im oberen Chor,
Ob der göttliche Richtspruch nunmehr ergeht,
Das Urteil, vor dem kein Leben besteht.
Und sie führten zum Tode zwei Große in Israel:
Den Hohepriester und Rabban Schimon ben Gamliel.
Sie warfen das Los, und es fiel auf ihn.
Und er vergoß, wie ein Opfer, sein heiliges Blut.
Wie die Stimme des Schophars darüber hin
War der Wehschrei des Fürsten des Sanhedrin.

O, seine Zunge im Staube ruht,
Die verkündet hatte den göttlichen Sinn.

Sie zogen die Haut ihm vom Leibe.
Er ertrug es ohne Laut.
Da graute dem Weibe,
Das ihn lüstern beschaut.
Doch als an die Stelle der Thephillin sie kamen,
Da rief er noch einmal den göttlichen Namen.

Und es weinten die Engel an Gottes Thron:
„Ist dies die Lehre und dieses ihr Lohn?
Ist den Frevlern vergönnt, deinen Namen zu höhnen
Und deine Gerechten mit Martern zu krönen?“
Aber die Stimme des letzten Gerichts
Fordert die Demut des letzten Verzichts:

„Schweigt, daß die Welt nicht in Chaos versinke.
Daß sie nicht nochmals in Sintflut ertrinke.
Ihr, die ihr nur auf zwei Tagspannen seht.
Hüllt euch in Schweigen und stummes Gebet.“
Das ist’s, was wir hörten, zerrissen vor Schmerz,
Darüber verzagt im Leiden das Herz!
Vergossen das Blut der Gerechten im Staub,
O, Herr, du im Himmel bleibe nicht taub.

Vernimm, vernimm das Röcheln der Armen.
Erhabener, thronend so hoch voll Erbarmen.

Diese Ballade vom Tode der Märtyrer aus der Zeit der hadrianichen Verfolgung ist einer der frühen Versuche, die bange Frage nach dem Sinn des Martyriums zu stellen, und erhält dadurch einen eminent aktuellen Sinn für uns heutige Zeugen des Holocaust, des größten Martyriums der jüdischen Geschichte.

In Reformliturgien sind auch Dichtungen aufgenommen, die unmittelbar auf dieses Geschehen jüngster Vergangenheit Bezug nehmen, ebenso das populäre Lied der israelischen Fallschirmspringerin Hanna Szenes, die im zweiten Weltkriege in britischen Diensten hinter den feindlichen Linien niederging, und von den Deutschen füsiliert wurde „Aschrej ha-Gaphrur“, das in symbolischer Weise das sich selbst verbrennende Streichholz, das die Herzen entzündet, preist.

Kether Malchuth

Besonders hervorgehoben sei noch die große kosmogonische Dichtung „Kether Malchuth“ (Reichskrone) des spanisch-jüdischen Dichters Salomo Ibn Gabirol (1021-58), die in der Nacht des Jom Kippur nach dem Gemeindegottesdienst gelesen wird. (Eine mustergültige Nachdichtung, mit Berücksichtigung aller vom Dichter verwendeten Quellen, liegt in dem Buche von Frederick P. Bargebuhr. Salomo ibn Gabirol, Ostwestliches Dichtertum, Wiesbaden 1976, S. 582 ff., vor.)
Der Kerngedanke der Dichtung, der zu ihrer Integration in die Liturgie des Jom Kippur führte, liegt in der Erkenntnis des betenden Menschen, daß er in seinem Sündenbewußtsein vor dem Zorne Gottes flieht, aber keinen anderen Ort der Zuflucht im Weltall zu erkennen vermag, als eben die Gnade des selben Gottes:

Und suchst du meine Sünde, Flieh ich vor dir – zu dir . . .
Dem Dreiklang der Festliturgie (abgesehen vom Gottesdienst der Vorabende): Morgengottesdienst, Zusatzgebet (Mussaph) und Vesper (Mincha) wird nur am Versöhnungstag noch das Schlußgebet „Neila“ hinzugefügt. Es bildet tatsächlich den Abschluß der außerordentlich umfangreichen Liturgie, aber die Bezeichnung kommt, wie bereits erwähnt, vom Schließen der Temepeltore in der Abendstunde. Dieser Vorgang wird transzendiert:

Öffne uns ein Tor
in der Stunde der Schließung der Tore!
Denn es neigt sich der Tag
Die Sonne geht zur Rüste
Wir kommen an deine Tore!

So liegt gewissermaßen die Emmaus-Stimmung über dieser Stunde: ,,Es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt*‘ (Luk 24.29).
Es scheint mir keine Frage zu sein, daß Franz Kafkas berühmtes Gleichnis „Vor dem Gesetz“, das sich in seinem Roman Fragment „Der Prozeß“ findet, aus dem Neila-Erlebnis heraus zu deuten ist, wobei dem Prager jüdischen Dichter, der der Tradition des Judentums schon sehr fern stand, die geöffnete heilige Lade als die Tür zum Gesetz erscheinen mochte. Kafka bemerkt in einer Tagebuchnotiz, daß ihm die Thorarollen wie Puppen ohne Köpfe vorgekommen seien.

„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen“… […] …

… Wir wollen noch kurz einen Text aus dem Traktat Joma (Babyl. Talmud) betrachten, der sich mit dem Versöhnungstag befaßt. Ein Bild geht vom magischen Ritual des Tauchbads aus und endet mit der pneumatischen Exegese des Rabbi Akiba:

„Rabbi Akiba sagte: Heil euch, Israel! Vor wem reinigt ihr euch? Und wer reinigt euch? Euer Vater im Himmel, wie es heißt: ‚Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen und ihr werdet rein sein‘ (Hes 36,25); und ferner heißt es: ‚Das Tauchbad Israels ist der Herr‘ (Jer 17,13). So wie das Tauchbad die Unreinen reinigt, so reinigt der Heilige, gelobt sei er, Israel.“

Hier liegt ein Wortspiel vor, das nur schwer übersetzbar ist. „Mikvve Jisrael“ heißt beim Propheten Jeremia die Hoffnung Israels. Mikwe heißt aber auch Tauchbad und so gebraucht Rabbi Akiba das Wort in seiner Doppelsinnigkeit. Die Gnade Gottes, die Hoffnung Israels, wird zu seinem Tauchbad. So wird der Ritus homiletisch transzendiert, ein Vorgang, der dem Wesen des Judentums in seiner geschichtlichen Entwicklung entspricht.

Abermals wird an solchen Beispielen klar, daß Judentum und Altes Testament nicht identisch sind. Es gibt eine Entwicklung, die von der Opferthora des an sich wirksam gedachten Rituals zur Verinnerlichung fuhrt. Die religionsgeschichtlichen Phasen des Jom Kippur zeigen diesen Weg, diesen heiligen Weg auf.

Für den glaubenslosen Juden unserer Tage aber wird gerade der Jom Kippur oft zu einem leeren Tag. Das zeigt eine gewisse Kalamität in manchen Kibbuzim, die andere Feste umzufunktionieren vermochten, diesem Tag der Konfrontation des Sünders mit seinem Gott jedoch in stummer Beziehungslosigkeit gegenüber stehen. Vielleicht aber kann aus einem solchen Verstummen ein neues Hören auf „die Stimme feinen Schweigens“ (lKön 19,12) werden.

Aus:

Ben-Chorin, Schalom:
Betendes Judentum: Die Liturgie der Synagoge
Tübingen: Mohr, 1980. ISBN 3-16-143062-X, © Schalom Ben-Chorin / J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1980.
Bücher von Schalon Ben-Chorin

„Simon der Gerechte war einer vom Uberrest der Großen Versammlung. Er sagte: Auf drei Dingen steht die Welt: auf der Thora (Weisung), auf dem Gottesdienst und auf den guten Werken“ (Aboth 1,2).
An dieses Wort des Simon des Gerechten (300-270 v. Chr.) anschließend habe auch ich versucht, meinen Grundriß des Judentums in drei Teile zu fassen. Glaube, Gesetz und Gebet scheinen mir den Dreiklang des Judentums auszumachen. In diesen drei Sphären artikuliert sich die jüdische Frömmigkeit.

  1. Der Glaube ist Voraussetzung und Grundlage eines erfüllten jüdischen Lebens. So habe ich den ersten Teil meiner Triologie des Judentums .Jüdischer Glaube“ genannt, Strukturen einer Theologie des Judentums anhand des Maimondischen Credo (Tübingen 1979).
  2. Der zweite Band „Die Tafeln des Bundes“ (Tübingen 1979) ist dem Dekalog, dem Zehnwort vom Sinai gewidmet, da die Zehn Gebote als Prototyp des Gesetzes angesprochen werden können. Von hier aus sollte das so oft mißinterpretierte Gesetzesverständnis des Judentums sichtbar gemacht werden.
  3. Der dritte Teil „Betendes Judentum“ will sozusagen die Intimsphäre des Glaubens umfassen, denn was wären der Glaube und die Werke des Gesetzes ohne das Gebet, die Zwiesprache mit Gott?

Schalom Ben-Chorin, 1913 in München geboren, wo er Literaturgeschichte und vergleichende Religionswissenschaften studierte, emigierte 1935 nach Jerusalem. Für sein Wirken und Werk wurden ihm hohe Auszeichnungen verliehen, unter anderem der Leo-Baeck-Preis (1959) und die Buber-Rosenzweig-Medaille (1982). Das Reformrabbinerseminar Hebrew Union College (Cincinnati, Jerusalem) ernannte ihn 1980 zum Fellow oft the College. Die Landesregierung von Baden-Württemberg verlieh Schalom Ben-Chorin 1986 den Professorentitel. 1988 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität München, 1993 die Ehrendotkorwürde der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.