Überzogene Stärke und verzweifelte Schwäche: „Der starke Samson, dieser Schwächling“

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Nur unsere Generation kann die ironische Genialität, dieses Ausspruchs von Israels Premier Eschkol verstehen, meint Avraham Burg, geboren 1955 in Jerusalems Rehavia-Viertel, – also fast in Deutschland, wie er im 1. Kapitel seines Buches „Hitler besiegen“, das gerade in deutscher Übersetzung erschien, beschreibt…

Über Burgs Buch – und die Reaktionen darauf, berichteten wir bereits zum Erscheinen der hebräischen Version.

„Der starke Samson, dieser Schwächling“
Überzogene Stärke und verzweifelte Schwäche

Der von Levy Eschkol (geb. 1895, gest. 1969, Israels dritter Premierminister von 1963 bis 1969) so beschriebene nationale Zustand umfasst zwei widersprüchliche Elemente, die aus der jüdischen Geschichte erwachsen: Überzogene Stärke und verzweifelte Schwäche.

Für Israelis ergibt das, so Burg, durchaus Sinn, nicht aber für andere, die es vielleicht als Zwischending zwischen Heuchelei und Wahnsinn auslegen:

… „Israel bewaffnet sich bis an die Zähne wie der schwache Junge, der mit Knüppel, Messer und Schleuder in die Schule kommt, um seine realen und eingebildeten Drangsalierer zu bezwingen. Unabhängig von Nation, Staat, Streitkräften, Bruttoinlandsprodukt oder internationaler Stellung sind wir in unseren Augen immer noch Partisanen, Widerständler, Ghettorebellen und Schatten in Konzentrationslagern. Die Schoah ist unser Leben, wir wollen sie nicht vergessen und lassen nicht zu, dass jemand uns vergisst. Wir haben die Schoah aus ihrem historischen Kontext gerissen und zur Entschuldigung und Triebkraft jeglichen Handelns gemacht. Alles wird mit der Schoah verglichen, erscheint neben ihr zwergenhaft klein und ist daher erlaubt: seien es Zäune, Belagerungen, Einkesselungen, Nahrungsmittel- und Wasserentzug oder unerklärte Tötungen. Alles ist erlaubt, weil wir die Schoah durchgemacht haben und niemand uns sagen darf, was wir zu tun haben. Uns erscheint alles gefährlich, und unsere normale Entwicklung als neues Volk, Gesellschaft und Staat steht still.
Doch die Schoah war trotz ihrer ungeheuren Dimensionen nicht das Ende, es ist schließlich eine Tatsache, dass es uns noch gibt. Statt eine Alternative zur vom Holocaust geplagten Seele zu entwickeln, stecken wir in ihrem Sumpf fest und schaffen es nicht, das Ufer des Optimismus zu erreichen, das für unsere Rettung und unser Überleben notwendig ist. Wir müssen uns klar machen, dass es zwar die Tragödie aller Tragödien, aber nicht unser letzter Weg war und sein darf.“…

Avraham Burg im Interview: Das zionistische Ghetto verlassen
Ari Shavits Interview mit Avraham Burg, kurz nach dem Erscheinen der hebr. Version von „Hitler besiegen“, verursachte eine der lebhaftesten Debatten des Sommers 2007. In der Knesseth wurden Anträge diskutiert, dem früheren Parlamentspräsidenten die letzte Ruhestätte am Herzl-Berg zu versagen, Burg sei ein Verräter…

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Aus dem Kapitel I: „Ich wurde im Januar 1955 sozusagen in Deutschland geboren: in Rehavia, dem »Kleindeutschland« Jerusalems. Dieses Viertel meiner Kindheit war literarisch geprägt und barg die Verheißung auf Wohlstand. Die Straßen trugen die Namen von Moshe Ben Maimon, Maimonides, Avraham Ibn Ezra und Shlomo Ibn Gvirol, den Gelehrten und Dichtern des Goldenen Iberischen Zeitalters. Der Glanz dieser mittelalterlichen Epoche blühte ein halbes Jahrtausend später in der deutschen Moderne mit Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Walter Benjamin, Franz Rosenzweig und der wunderbaren Dichterin Else Lasker-Schüler wieder auf. Diese großartige, aber allmählich sterbende deutsch-jüdische Tradition hatte in Rehavia ein letztes Refugium gefunden. Damals gab es nirgends sonst in Israel oder anderswo einen Ort, an dem Gebäude sich nach außen in moderner Bauhausarchitektur präsentierten und in ihrem Inneren ganze Bibliotheken mit dicken deutschen Büchern in Ledereinband bargen.
Als Junge begegnete ich auf der Straße oft Martin Buber. Ich dachte immer, jede Straße hätte ihren eigenen Martin Buber. Und ich war überzeugt, dass der Nobelpreisträger S.Y. Agnon nicht nur uns, sondern jeden im Viertel zu Hause besuchte. Als Akiva Ernst Simon mich als Kind einmal grüßte, glaubte ich, jeder hätte einen Professor Simon, der ihn grüße. Selbst der hagere Schornsteinfeger Arnheim, der mit seinen rußgeschwärzten Besen auf einem knatternden Sachs-Motorroller herumfuhr, stellte eine Verbindung zu Deutschland dar. Davon gab es viele: Die Schocken-Bibliothek befand sich gleich auf der anderen Strassenseite“… …

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