Ängste, Abwehr, Ambition: Psychologie des Nahostkonflikts

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Der israelische Psychotherapeut Ofer Grosbard möchte uns davon überzeugen, daß der Friedensprozeß im Nahen Osten in erster Linie ein emotionaler Prozeß ist. Genau wie in der Frühzeit der Psychologie die Menschen davon überzeugt werden mußten, daß Therapien helfen, so muß man ihnen heutzutage klar machen, daß Konflikte zwischen Nationen gelöst werden können, wenn man die zugrundeliegenden emotionalen Prozesse versteht, so Grosbard, dessen Buch eine Reihe von praktischen Anwendungen und klare Empfehlungen, die von dieser Voraussetzung ausgehen, enthält…

Aus Ofer Grosbards Einführung zur „Psychologie des Nahostkonflikts

Die Tatsache, daß der israelisch-arabische Konflikt psychologische Aspekte hat, ist offensichtlich. Jeder Konflikt zwischen zwei Parteien – einem Paar, Eltern und Kindern, Freunden, Geschäftspartnern – besitzt emotionale Aspekte. Auf jeder Seite gibt es Ängste, Ambitionen und Abwehrmechanismen. Diese Erkenntnis wurde schon zu verschiedenen Zeiten von vielen Staatslenkern gewonnen. Vertrauensbildende Maßnahmen, Beleidigungen und verletzte Gefühle auf nationaler Ebene, der Wunsch, Verletzungen zu heilen, und der Wunsch, zu triumphieren, haben nicht nur existentielle, sondern auch narzißtische Bedeutung.

Wenn wir über Beziehungen zwischen Nationen reden, dann reden wir nicht über Emotionen und Ideen, die erst speziell für internationale Konflikte erfunden wurden, sondern über alltägliche, typisch menschliche Gefühle, die in jedem einen psychischen Prozeß auslösen. Daher kann man diesen psychischen Prozeß mit den Werkzeugen der Psychologie begreifen. Wir wissen eine Menge über Abwehrmechanismen, Ängste, Begierden und so weiter. Wir müssen keine neue Psychologie für diese psychischen Prozesse erfinden, die schon seit Freud grundlegend erforscht werden. Um den Friedensprozeß zu analysieren und zu verstehen, verwende ich immer wieder Methoden, die aus der psychologischen Praxis bekannt sind, und Beispiele aus der Psychologie bringen, von interpersonellen Konflikten und von pathologischen und normalen Wachstums- und Entwicklungsprozessen.

Die erste Gruppe, in die wir hineingeboren werden, ist die Familie. Dort entsteht unsere Gefühlswelt und dort wird sie geformt. Dort lernen wir das Zusammenleben, im Guten wie im Schlechten. Die Familie ist unser erstes Modell gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Die Gemeinschaft der Nationen ist eine Ausweitung unserer familiären Situation. Es gibt keinen Zweifel, daß wir, ob bewußt oder unbewußt, das, was wir in unserer Familie in der Kindheit gelernt haben, während unseres ganzen Lebens anwenden, um Probleme zu lösen. Wir nähern uns dem Konflikt zwischen den Arabern und uns vom selben Standpunkt und mit demselben Wissen, mit dem wir Probleme und Konflikte in unseren Familien angehen. Genau wie Konflikte innerhalb von Familien in einer psychotherapeutischen Sitzung analysiert werden können und den Familienmitgliedern geholfen werden kann, sie zu lösen, können emotionale Probleme zwischen Nationen analysiert werden, um die besten Lösungen zu finden.

Genauso können Probleme zwischen den verschiedenen Gruppen in der israelischen Öffentlichkeit, religiösen und säkularen Juden, Linken und Rechten, Arabern und Juden und anderen als emotionale Prozesse innerhalb der israelischen Familie betrachtet werden.
Der gleichförmige Charakter von Gefühlen, der immer weitere Kreise zieht, von der eigenen Familie zur Familie Israels zur Familie der Nationen, kann erfaßt werden durch das Verständnis der primären Bindung zwischen Eltern und Kind. Diese Bindung ist tief und emotional, denn das gemeinsame Schicksal bestimmt Eltern und Kind dazu, weit und intensiv in die intime Welt des jeweils anderen einzudringen. Winnicott sagt: „Ein Kind gibt es nicht… ohne die Fürsorge der Mutter.“ In anderen Worten, man kann die Entwicklung eines Kindes und was mit ihm geschieht nicht verstehen, wenn man die Rolle der Mutter nicht mit einbezieht. Die Mutter-Kind-Beziehung kann als Modell dafür dienen, die bilateralen Beziehungen zwischen den Gruppen und Völkern zu verstehen, deren gemeinsames Schicksal sie dazu bestimmt, in diesem Land zusammenzuleben.

In diesem Land gibt es keinen Araber ohne einen Juden und umgekehrt. Es gibt keine Linke ohne die Rechte und umgekehrt. Es gib keine religiöse Gruppe ohne ihr säkulares Gegenstück und umgekehrt. Das sind untrennbare Paare, die sich ständig ineinander reflektieren. Dieses Ineinander-verwoben-sein schafft ein aufgeladenes emotionales Geflecht. Es ist nicht möglich, eine Seite zu verstehen, wenn man nicht ebenfalls die Gefühle der anderen Seite in Betracht zieht. Daher werde ich Beispiele aus der Eltern-Kind-Beziehung benutzen, die jedem vertraut sind, um unser Verständnis der komplexen und belasteten Beziehungen zwischen Gruppierungen und Nationen zu fördern.

Als Volk hatten wir eine traumatische Kindheit, voller Katastrophen und Desaster. Diese schwierige Vergangenheit aufzuarbeiten und zu verstehen sollte uns Grund genug für eine Therapie sein, damit wir nicht unsere Ängste, Abwehrhaltungen und Ambitionen, die manchmal unrealistisch sind, laut in die Gegenwart hineintragen. Und wenn unsere Vergangenheit nicht Grund genug ist, dann schreit die Gegenwart, in der wir leben, nach einer gründlichen, aufrichtigen Und umfassenden Analyse. Wir haben heute nicht nur Schwierigkeiten mit der Außenwelt, sondern, und das vielleicht sogar viel mehr, auch mit der Welt in unserem Inneren. Das erwachsen gewordene Kind erkennt schrittweise, daß Krieg nicht nur zwischen ihm und der Welt stattfindet, sondern daß es auch innere Konflikte in sich trägt, und schwierige emotionale Dilemmas, die der Lösung bedürfen. So entdecken wir in einem fortschreitenden Prozeß, wie zerstritten wir untereinander sind. Es steht längst nicht fest, was für uns belastender und gefährlicher ist – die Schwierigkeiten im Inneren oder nach außen.

Das ist ein Zustand, in dem ein Mensch eine Therapie aufsucht. Er ist dann bereit, als letzte Zuflucht, zuzugeben, daß er ein Problem hat, das er nicht selbst zu lösen vermag. Er hat ein Problem mit der Vergangenheit, er hat ein Problem mit der Gegenwart, er hat Probleme im Inneren, er hat Probleme nach Außen, er hat Probleme überall und mit jedem. Der Wachstumsprozeß, der durch das Aufarbeiten der Gefühle gekennzeichnet ist, ist die Voraussetzung für die Beendigung unserer Leiden, damit wir in diesem Land ein normales Leben führen können, so wie andere Völker auch.

Die Macht der Instinkte

Der emotionale Aspekt des Friedensprozesses offenbart sich in voller Stärke in den einfachen Leuten und Kindern, die nicht die Fähigkeit besitzen, ihre Gefühle zu unterdrücken und sie mit intellektuellem Denken zu überdecken. Man kann sie im politischen Kontext sagen hören: „Wenn dich jemand schlägt, was machst du dann, schlägst du zurück oder nicht?“ Der Vergleich zwischen politischen und persönlichen Beziehungen drängt sich sofort auf, und die Macht der Instinkte, die die politischen Standpunkte formen, wird sichtbar.

Ein Soldat im Krieg benötigt keinen Psychologen. Er muß seine Gefühle und Ängste nicht offenlegen. Im Gegenteil, er braucht ein starkes und solides Schutzschild. Er muß angreifen können, und nicht zuviel Gefühle zeigen. In der Vergangenheit war es klar, daß wir um unser Überleben kämpften. Es war klar, daß der Feind uns tatsächlich vernichten wollte. Daher hielten wir zusammen und ließen unsere inneren Konflikte nicht aufbrechen. Wir hatten auch keine moralischen Bedenken, da wir um unser Leben kämpften. Erst als der Schlachtenlärm sich verzogen hatte und der Friedensprozeß begann, waren wir in der Lage, uns zu fragen, was wir fühlten und wie das unsere Handlungen beeinflußt. Emotionales Bewußtsein und Psychotherapie sind Privilegien wohlhabender, demokratischer Gesellschaften, die nicht direkt von existentiellen ökonomischen, militärischen oder politischen Gefahren bedroht sind. Um uns unserer Gefühle bewußt zu werden, müssen wir in der Lage sein, einen Schritt von ihnen zurückzutreten. Wir dürfen nicht von ihnen getrieben werden. Wir brauchen eine entspannte Atmosphäre, die unter existentieller Bedrohung nicht entstehen kann.

Beziehungen zwischen Nationen oder großen Gruppierungen von Leuten reflektieren zumeist die regressivsten und instinkbetontesten Seiten von interpersonellen Beziehungen. Ist es vorstellbar, daß einer der Partner einer Beziehung sich sicher wäre, daß er, und nur er, immer recht hat? Was würden wir von einem solchen Partner halten? Aber genau das ist die gängige Vorstellung in der Politik – jede Seite wähnt sich im Recht. Wir erwarten von Partnern, daß sie sich nicht zu sehr in der Frage verbeißen, wer von ihnen im Recht sei. Wir hoffen, daß beide für den anderen und für seine Gefühle Verständnis und Einfühlungsvermögen zeigen. Als Therapeuten sind wir sehr darauf bedacht, nicht in die Falle der „Wer hat recht?“-Diskussion zu tappen. Wir wissen, daß das Leben keine Gerichtsverhandlung ist. Die Frage „Warum leiden sie?“ ist geeigneter, Menschen weiterzuhelfen. Aber solch ein Dialog kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Das gleiche gilt für uns und unsere Nachbarn. Einfühlsames Zuhören ist absolut unverzichtbar und erfordert Erfahrung. Es gibt keinen anderen Weg als einander zuzuhören.

Abhängigkeit, Aggression, Abgerenzung

Begriffe wie Unabhängigkeit, klare Grenzen setzen, Aggressionen, Verantwortung übernehmen, den anderen anerkennen, Vertrauen, Sicherheit und viele mehr sind Teil sowohl eines politischen als auch eines emotionalen Jargons, in Verbindung mit Wachstumsprozessen und Entwicklungen, die wir während einer Therapie fördern möchten. Die Palästinenser wollen die Unabhängigkeit, während wir zögern, sie ihnen zu geben. Wir sagen ihnen: Erfüllt erst eure Verpflichtungen, dämmt erst eure Aggressionen ein, dann können wir darüber reden. Benehmen wir uns ihnen gegenüber nicht wie Autoritätspersonen, die ihr Leben in vielen Bereichen bestimmen? Und möchten sie in vielen Dingen nicht wie wir werden, wenn sie erwachsen sind? Benehmen wir uns nicht wie Eltern, die vergessen haben, wie sie als Jugendliche waren, und die daher Schwierigkeiten haben, die Heranwachsenden zu verstehen, die ihre Unabhängigkeit fordern? Diese emotionalen Prozesse sind nichts Neues, sie sind uns vertraut. Warum sollten wir nicht das große Wissen nutzen, das wir über die Entwicklung von Eltern und Kindern haben? Schließlich dauert die Elternschaft das ganze Leben an, und auch wir werden uns nicht von den Palästinensern lösen können. Das Kind wird sich sein ganzes Leben daran erinnern, wie seine Eltern es in der Kindheit behandelt haben, ob sie ihm geholfen oder Hindernisse in den Weg gelegt haben. All diese Fragen sind in ihrem Wesen therapeutisch: Wie setzt man einem Kind Grenzen, die weder zu eng noch zu weit sind, Grenzen, die sowohl dem Kind als auch den Eltern Sicherheit geben, Grenzen, die beim erwachsen werden helfen.

An dieser Stelle muß ich etwas Wichtiges anmerken, um dem Leser zu helfen, die Analogie zu verstehen, die uns hier mit Eltern und die Palästinenser mit Kindern vergleicht. Diese Analogie wirkt auf dem ersten Blick herablassend. Was ich aber beabsichtige, ist, eine vertraute menschliche Beziehung zu nehmen, bei der eine Seite stark und die andere schwach ist, eine Seite groß und die andere klein: Eltern und Kind, Lehrer und Schüler, Chef und Angestellter oder andere mehr, und durch das Verständnis ihrer emotionalen Dynamik einen bestimmten Aspekt in unserem Verhältnis zu den Palästinensern zu erhellen: den Aspekt, daß unsere Nation stärker und entwickelter ist als ihre. In einem anderen Kontext sind die Palästinenser tatsächlich der ältere Bruder, der alles verloren hat, als sein jüngerer Bruder geboren wurde. Und in wieder anderer Hinsicht können wir über unsere Beziehung zu Palästinensern viel von der emotionalen Dynamik einer Paarbeziehung lernen. Zum Beispiel nicht zu fragen, wer recht hat, sondern versuchen zu verstehen.
Ich möchte von Anfang an betonen, daß dieses Buch vom professionellen Standpunkt eines Psychologen aus geschrieben wurde. Es nimmt nicht Partei für die Rechten oder die Linken, für Araber oder Juden, für die säkularen oder die religiösen Parteien. Mehr noch, ich hoffe daß dieses Buch deutlich machen kann, wie diese Oppositionspaare sich ergänzen und bedingen, so stark, daß ein erfülltes emotionales Leben nicht möglich ist, wenn man sich nur mit einem der Pole identifiziert. Jede Seite unterdrückt und verleugnet nämlich bei sich die Aspekte, die ihr Gegenüber repräsentiert. Links und rechts sind zum Beispiel, wie ich noch zeigen werde, zwei Seiten des Gefühlslebens, und die Fähigkeit, sie zu integrieren, ist die Grundlage eines gesunden Wachstums- und Friedensprozesses.

Manch einer wird sich selbst nach dem Lesen dieser Einleitung noch fragen, ob ich ein Linker oder ein Rechter, ein religiöser oder säkularer denkender Mensch sei. Der Riß durch die israelische Gesellschaft ist tief, und er erinnert an einen Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstörung, der jeden stets fragt: „Bist du für oder gegen mich?“, und der sich nicht vorstellen kann, daß man sowohl ihn als auch seinen Gegner versteht. Eine solche Person verlangt, daß man sich mit einer Seite identifiziert. Als guter Therapeut muß man aufpassen, daß man sich nicht auf die absolute Trennung zwischen den Guten und den Bösen einläßt. In den frühen Tagen der Psychologie haben die Therapeuten versucht, eine neutrale Stellung zu den Problemen einzunehmen, die ihre Klienten aufwerfen.

Es hat einige Zeit gebraucht, bis man verstanden hat, daß der Therapeut seine eigenen emotionalen Standpunkte und Neigungen hat, und noch wichtiger, bewußte und unbewußte Seiten in seiner Persönlichkeit, und daß es keinen Menschen gibt, der neutral ist. Dann hat man verstanden, daß der Therapeut sich so gut wie möglich seiner Gefühle bewußt sein sollte, damit er von ihnen nicht in eine Richtung getrieben wird, ohne daß er es merkt. Der Therapeut kann zum Beispiel andere moralische Maßstäbe haben als der Patient, existentielle Ängste, die ihn antreiben, oder den Wunsch nach Omnipotenz, daß die Therapie erfolgreich verläuft, und so weiter. Dasselbe gilt bei unserem Thema. Ich habe politische Vorlieben, die von meinen emotionalen Neigungen bestimmt werden. Wenn ich mir diese Neigungen bewußt mache, dann kann ich mich vorsehen und mache weniger Fehler.
Weil ich mich selbst kenne, weiß ich zum Beispiel, daß ich vorsichtig sein muß, wenn es um das Thema Kompromisse für Sicherheit geht. Ich muß mir Linien ziehen, die ich nicht überschreiten darf, um meiner Neigung entgegenzuwirken, mich von romantischen Phantasien und dem Wunsch nach brüderlicher Nähe mit den Arabern forttragen zu lassen. Der Leser möge an Hand des Buches urteilen, ob ich die Sache erfolgreich gemeistert habe. Gleichermaßen erwarte ich von den Rechten, denen es schwer fällt, an die Möglichkeit einer Veränderung zu glauben und optimistisch zu sein, sich dieser Gefühle bewußt zu werden und zu versuchen, ehrlich mit sich selbst zu sein und keine Tatsachen aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen und zu unterdrücken, die ihren Überzeugungen widersprechen und belegen, daß sich tatsächlich grundlegende Veränderungen ereignen. Der Prozeß der Selbstprüfung muß voller Aufrichtigkeit erfolgen. Es ist ein sehr schwieriger Prozeß, der viel Mut erfordert. Wie viele von uns haben einmal innegehalten und gesagt: „Diese Informationen stimmen nicht mit meinen Überzeugungen überein“? Das wäre sehr wichtig, und doch geschieht es so selten! Daher gibt es keine Dinge wie Neutralität und Objektivität. Jeder hat persönliche Neigungen, aber Selbsterkenntnis hilft uns dabei, uns diesen wichtigen Haltungen zu nähern, und noch wichtiger, sie hilft uns, gesunde Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.

Empathie: Gefühle und Motive verstehen

Neben Selbsterkenntnis müssen wir uns noch ein weiteres wichtiges Werkzeug von Eltern und Therapeuten aneignen – die Fähigkeit, mit Einfühlungsvermögen zuzuhören. Den Gegner zu kennen, seine Gefühle und Motive zu verstehen, ist schließlich eine der Grundregeln des Krieges. Wir haben auf diesem Gebiet eine schlechte Bilanz und wurden immer wieder überrascht (der Jom-Kippur-Krieg von 1973, die Intifada in den späten 80er Jahren, der Glaube, wir könnten den Terrorismus besiegen und anderes).

Wir müssen dem Gegner zuhören, wie ein aufmerksames kleines Kind, und seine Gefühle und Existenz nicht verleugnen, nur weil wir uns davon bedroht fühlen. Es existiert ein großer Unterschied, wie wir die Äußerungen unserer eigenen politischen Führer und die der gegnerischen Politiker aufnehmen. Jeder, der nur ein bißchen Selbstwahrnehmung hat, wird sofort bemerken, daß wir die Äußerungen unserer Politiker als Wahrheit betrachten. Wenn ein gegnerischer Politiker eine Äußerung macht, sehen wir sie oft als Manipulation oder Lippenbekenntnis an, die nicht ernstgenommen werden kann. Nur selten betrachten wir sie als eine schmerzhafte Wahrheit, von der dieser Politiker nicht abweichen kann. Der Verlust unserer Fähigkeit des Zuhörens stellt die größte Gefährdung unserer Existenz dar.

Einfühlsames Zuhören, das sich in der Fähigkeit zeigt, sich mit dem Feind zu identifizieren und ihn von innen heraus zu verstehen, hat seinen Wert nicht nur bei der Vorhersage von Kriegen, sondern vor allem bei der Förderung des Friedens. Es gibt keine Alternative zum einfühlsamen Zuhören, und seine Bedeutung für den Frieden kann nicht überschätzt werden. Dadurch, daß diese Art des Zuhörens den Schmerz der anderen Partei lokalisiert, ist man in der Lage, sich mit dem anderen zu identifizieren und ihn zu verstehen. Wir können ihn dann mit allem beurteilen, was wir über emotionale Entwicklungs- und Wachstumsprozesse wissen. Können die Palästinenser möglicherweise eines Tages ihren Wunsch nach Unabhängigkeit aufgeben? Ist es möglich, daß sie Jerusalem aufgeben werden, das Herz ihrer Religion, die Stadt ihrer Sehnsucht? Wenn wir den Wachstumsprozeß verstehen, dann können wir mit Sicherheit vohersagen, daß das nicht eintreten wird. Ein Heranwachsender wird weder seine Unabhängigkeit noch seinen Glauben aufgeben. Wir wissen auch, daß er letztendlich sein Ziel erreichen wird. Daher kann der Konflikt zwischen den Arabern und uns nicht in einem würdigen Abkommen enden, wenn nicht beide Seiten ihre Gefühle darin geachtet sehen. Ein Abkommen, das von einer Seite unter Zwang oder auf Grund einer zeitweisen Schwäche unterzeichnet wird, kann nicht zum Frieden führen. Ein Abkommen erfordert beiderseits die Bewahrung der Ehre und der Unabhängigkeit und die Hoffnung auf weiteres Wachstum. So wie die Palästinenser sagen: „Nur gerechte Grenzen sind sichere Grenzen.“

Mit anderen Worten, ungerechte Grenzen werden uns frustrieren und verbittern, und das wird keine Sicherheit bieten. Natürlich müssen wir nicht allem zustimmen, was sie verlangen, aber wir müssen zumindest verstehen, wie sie fühlen und worüber sie sprechen. Dann werden selbst unser „nein“ und unsere Forderungen an sie anders aufgenommen werden. Der Akt des aufrichtigen Zuhörens an sich schafft einen Dialog von einer anderen Qualität als den, der vor dem Zuhören existiert hat. Aber das ist nur der Anfang. Im Buch werden wir immer wieder sehen, daß wir durch einfühlsames Zuhören uns selbst und ihnen auf eine Art und Weise helfen können, die uns vorher nicht möglich war.

Selbsterkenntnis und Einfühlungsvermögen – das sind die beiden Werkzeuge, die uns auf der Reise durch das Buch begleiten sollen.
Ein Politiker, der denkt, daß er stets recht hat, beraubt sich selbst der Möglichkeit, diese beiden Werkzeuge zu nutzen. Er verliert die Fähigkeit, sowohl sich als auch anderen zuzuhören. In einer Therapie wird oft ein Durchbruch erzielt, wenn der Therapeut sich geirrt hat und das auch zugeben kann. Dasselbe trifft auf die Erziehung zu. Ich kenne verschiedene Kinder (einige sind heute erwachsen), deren Eltern niemals zugegeben hatten, daß sie mal im Unrecht waren. Ich kenne auch Kinder, die das in ihrem Leben nur einmal erlebt haben, und sie werden dieses eine Mal niemals vergessen. Wir sind wie Kinder, die sich nach aufrichtigen Eltern sehnen, die Fehler machen und das auch zugeben können, wodurch auch uns zugestanden wird, Fehler zu machen. Unsere Politiker sind genau das Gegenteil. Welch eine Schande!

Es gibt keinen Zweifel, daß der größte und gefährlichste Mangel der israelischen Politik der starre, selbstgerechte Standpunkt ist, der freies Denken verhindert. Die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit und den Friedensprozeß sind verheerend, so wie beim Wachstumsprozeß eines Kindes, dessen Vater niemals zugibt, daß er Fehler macht. Ohne die Freiheit, nachzudenken, etwas nicht zu wissen, Fehler zu machen und sie zu bereuen, seine Gefühle und Grenzen zu erkennen, ist emotionales Wachstum nicht möglich. In emotionalen Prozessen, und der Friedensprozeß ist ein solcher, ist die Situation der Menschen wesentlich besser, wenn sie analysieren können, was ihr Problem ist und wo sie falsch liegen. Nennen wir es Bescheidenheit. Wenn jemand denkt, er wüßte alles, dann haben wir wirklich allen Grund, uns Sorgen zu machen. Das ist eine Haltung der Omnipotenz, die mit der israelischen Arroganz einhergeht. Wir wissen auch, daß sie dazu dient, tiefe Ängste und Unsicherheiten zuzudecken.

Wenn man die emotionale Seite des Friedensprozesses betont, verlangt das nach einer aktiveren Rolle der Frauen. Auf die Gefahr hin, einen Allgemeinplatz zu wiederholen, möchte ich behaupten, daß in unserer Gesellschaft die Frauen ein besseres Verständnis von Gefühlen und emotionalen Prozessen besitzen. Die Politik wird hauptsächlich von Männern betrieben, und in unserem Land spielt dabei auch der militärische Aspekt eine Rolle. Es ist von großer Wichtigkeit, weibliche Sichtweisen in die Politik einzubringen, denn wir reden über Wachstums- und Entwicklungsprozesse, und Frauen sind diesen Prozessen gegenüber offener als Männer. Die Welt der Politik, in der es oft an Verständnis für emotionale Prozesse mangelt, die Mütter so gut kennen und mit denen Therapeuten sich befassen, ähnelt einer Familie, in der es nur einen Vater gibt und keine Mutter. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie es in so einer Familie zugehen wird, schließlich leben wir in einer solchen.

Wenn wir die Völkerfamilie als Verbindungen patriarchaler Familien betrachten, dann verstehen wir, in was für einer regressiven Welt wir leben. Einer der tieferen Gründe für die Regressivität vieler orientalischen Gesellschaften im Vergleich zum Westen ist die fehlende Gleichstellung der Frauen. In dieser Richtung muß sich in Zukunft vieles zum Besseren ändern. Ich hoffe, daß die Organisation „Vier Mütter“, die sich für den Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon eingesetzt hatte, eine Vorbotin der wachsenden Beteiligung der Frauen am Entwicklungs- und Wachstumsprozeß Richtung Frieden ist. Die Organisation, die sich einen solch passenden Namen ausgesucht hat, die sie in Verbindung mit den vier Matriarchinnen ((Sara, Rebekka, Lea und Rahel, s. das 1. Buch Mose)) setzt, die unser Volk hervorgebracht hat, scheut sich nicht davor, in die militärisch geprägte männliche Welt einzudringen und dort ein neues Denken einzuführen. Ein Denken, das nicht in erster Linie von Ängsten bestimmt wird, und das näher an der emotionalen Aufrichtigkeit einer Mutter ist, deren Kind Luftschlösser baut.

Es ist wichtig für dieses Buch, einen Prozeß der Selbstprüfung vorzunehmen, weil das der wichtigste Prozeß ist. Dieses Buch bietet ein weites emotionales Modell für die Entwicklung des Friedensprozesses und beleuchtet den emotionalen Aspekt dieses Prozesses in unserem Leben. Wir müssen dazu fähig sein, uns selbst zu prüfen und uns zu fragen, wo wir falsch gelegen haben, um Schritt für Schritt voranzukommen. Auf diese Art wächst ein Kind heran, und so werden auch wir als Nation wachsen. Ich bin mir sicher, daß sich meine Wahrnehmung des Buches nach der Veröffentlichung verändern wird. Es stellt keinen Schlußpunkt dar, es ist lediglich ein Kapitel in einer langen Geschichte, ein erstes Kapitel in einem lebenslangen Wachstumsprozeß. Ich bezweifle nicht, daß mir völlig zu Recht vorgeworfen werden kann, daß ich einige Aspekte vergessen und andere falsch verstanden habe. Aber ich biete keine endgültige Antwort, nur einen Denkansatz, eine Art zu leben, bei der wir versuchen, uns selbst zu verstehen, unsere Ängste, unsere Fehler und das, was wir wirklich fühlen.

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