„Forverts un nit fargesn!“

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Die über hundertjährige jiddische Zeitung „Forverts“ ist auch im Radio zu hören…

Von Jim G. Tobias

Wer jemals die Reise nach Amerika übers Meer antrat und mit dem Schiff in den New Yorker Hafen einlief, im Hintergrund Miss Liberty, die einem den Willkommensgruß entbietet, kann ungefähr erahnen, was Generationen von jüdischen Emigranten fühlten, als sie endlich das Land ihrer Sehnsucht erreichten. Aber auch den modernen Zeitgenossen, die in wenigen Stunden mit einem Jet den Atlantik überqueren, gelingt es manchmal ein bisschen der Atmosphäre New Yorks um die Jahrhundertwende einfangen. Im südöstlichen Zipfel von Manhattan, in der Lower-East-Side, erinnert noch manches an das alte jüdische Viertel, das hier einst bestand.

Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich Tausende auf den Weg gemacht, das Elend des Ghettos hinter sich zu lassen. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sollten die Träume der zumeist osteuropäischen Juden von Freiheit und Reichtum Wirklichkeit werden. Doch schon bald sollten sie erfahren, dass die neue Heimat nicht das erhoffte Paradies war. Eingepfercht in die Mietskasernen und schlecht bezahlte Arbeit in den so genannten Sweatshops, so sah der Alltag für die Neuankömmlinge aus. Und so glaubten viele daran, dass eine Befreiung aus dieser Situation nur durch die Überwindung des kapitalistischen Systems herbeigeführt werden könnte.

Die sozialistische Zeitung „Forverts“ war das Organ dieser Menschen. Seit 112 Jahren begleitet die Stimme der Gewerkschaftler und Linken das jüdische Leben in Amerika. Gegründet wurde diese Zeitung 1897 von Abraham Cahan. Da die Mehrheit der Einwanderer nur schlecht oder gar kein Englisch sprach, lag es auf der Hand, dass der „Forverts“ in Jiddisch gedruckt wurde. Neben politischen Einschätzungen – bis 1917 hatte Philipp Scheidemann eine regelmäßige Kolumne – und der Pflege der jiddischen Literatur (Nobelpreisträger Issac B. Singer veröffentlichte fast alle seine Werke als Vorabdruck), gab der „Forverts“ praktische Anleitungen, um sich in der neuen Heimat zurechtzufinden.

Arbeiterdemonstration
Kampf um den Acht-Stunden-Tag. Arbeiter mit Transparenten in jiddischer, russischer, italienischer und englischer Sprache (Anfang des 20. Jahrhunderts)
Repro: jgt-archiv

Das Blatt war und ist, trotz aller Intellektualität, dennoch eine Zeitung für die Werktätigen. Nicht von ungefähr wird die Anekdote eines jungen Universitätsabsolventen erzählt, der in Cahan’s Büro kam, um ihm einen Artikel zu verkaufen. Cahan rief daraufhin seine Sekretärin, händigte ihr das Manuskript aus und sagte: „Geben Sie das dem Liftboy, wenn er es versteht, drucken wir es ab.“ Die bekannteste Artikelserie war „a Bintel Brief“, eine Rubrik, die Leserfragen beantwortete. Von Kindererziehung, Moralvorstellungen bis hin zu Familienstreitigkeiten wurde hier alles abgehandelt. Erst nach über 60 Jahren – Ende der 1970er – wurde „a Bintel Brief“ eingestellt.

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März 1913: Zeitungsjungs warten vor dem Redaktionsgebäude in der Lower East Side auf den neuen „Forverts“. Foto: Library of Congress (LC-DIG-nclc-0386)

In den 1920er Jahren lag die Zahl der verkauften Exemplare bei ca. 280.000 täglich. Doch diese Zeiten gehören längst der Vergangenheit an. Heute gibt es keine Konflikte mehr zwischen Schtetlmentalität und der modernen amerikanischen Lebensführung. Die Menschen haben den „american way of life“ übernommen, nur noch wenige sind der jiddischen Sprache mächtig. Die Auflage der Zeitung sinkt kontinuierlich.

Anfang der 1990er Jahre überzeugte Seth Lipsky, ein ehemaliger Redakteur des „Wall Street Journals“ die Macher des „Forverts“, dass langfristig nur eine englischsprachige Ausgabe des Blattes das Erbe der jüdischen Kultur in New York erhalten kann. Seit dieser Zeit haben auch die Kinder und Enkel der Einwanderergeneration die Gelegenheit, die Zeitung ihrer Eltern und Großeltern zu lesen. Für die amerikanischen Juden, die der jiddischen Sprache nicht mehr mächtig sind, ist es eine Möglichkeit, sich ihrer osteuropäischen Wurzeln zu erinnern. Aber auch für den englischen „Forward“, eine moderne, liberal ausgerichtete Zeitung, haben neben der Pflege der jüdischen Kultur die Themen „soziale Gerechtigkeit“ und „Bürgerrechte” hohe Priorität. Damit knüpften sie an die Tradition des jiddischen „Forverts“ an.

Forverts_Forward
Seit Anfang der 1990er Jahre erscheint die Zeitung auch in englischer Sprache.
Foto: jgt-archiv

Schon kurz nach Gründung des „Forward“ gelang den Machern ein literarischer Coup. Neben New York Times und Washington Post hatten sich mehrere renommierte amerikanische Tageszeitungen um den Vorabdruck von Philip Roths Roman „Operation Shylock“ bemüht. Philip Roth erteilte dem „Forward“ die Erlaubnis, sein Werk den Lesern vorzustellen. Für ihn war es eine Ehre, seinen Roman in einer Zeitung zu veröffentlichen, in der schon die Werke von Isaac B. Singer und Sholem Asch abgedruckt worden sind. Trotz aller Traditionspflege geht der „Forward“ aber auch mit der Zeit. Seit Sommer 2008 hat mit Jane Eisner erstmals in der über 100-jährigen Geschichte eine Frau den Posten des Chefredakteurs der größten jüdisch-amerikanischen Zeitung inne.

Leitender Redakteur und Herausgeber des jiddischen „Forverts“ war bis Mai 1998 Mordechai Strigler. Über 40 Jahre lang verfasste der renommierte jiddische Schriftsteller und Journalist, unter etwa zwanzig Pseudonymen, unzählige Artikel und Reportagen. Nach seinem Tod übernahm diese Aufgabe der in Russland geborene Publizist Boris Sandler, dem eine kleine Redaktion von freien Mitarbeitern zur Seite steht. Sandler und sein Team moderieren auch die jiddische Rundfunksendung „Forverts Sho“. Dieses einstündige Magazin, quasi ein Zeitung im Radioformat, informiert über die Situation in Israel, berichtet über jüdische Kultur in den USA, diskutiert politische Fragen und stellt neue und alte jiddische Musik und Literatur vor.

Beide Medien, Zeitung und Radio, halten an den Ideen des Gründers Abraham Cahan fest: der Forverts/Forward soll den aus Europa stammenden US-Juden eine Stimme geben und gleichzeitig die amerikanisch-jiddische Kultur bewahren und beleben. Ob mit der Feder oder mit dem Mikrofon, die Journalisten sind bereit, das Erbe des jiddischen „Forverts“ zu übernehmen und eine alte ehrwürdige Gazette den sich wandelnden Gegebenheiten anzupassen.

Viele Artikel der wöchentlichen Ausgabe des jiddischen „Forverts“ sowie alle Nummern seit 1999 sind im Internet unter http://yiddish.forward.com/ nachzulesen. Die samstägliche Radiosendung „Forverts Sho“ sowie die Sendungen seit 2005 sind unter derselben Internetadresse anzuhören. Die elektronischen Ausgaben des englischen „Forward“ finden sich unter: www.forward.com.

Der Band „A Bintel Brief – Sixty Years of Letters from the Lower East Side to the Jewish Daily Forward“ von Isaac Metzker (Ed.) ist nur in Englisch erhältlich. Neben einer kurzen Einführung zur Geschichte des „Forverts“ und der Lower East Side dokumentiert er Leserzuschriften aus 60 Jahren. Schocken Books NY, ISBN 978-0805209808, Bestellen?.

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