Polit-Thriller in der Schweiz: Die Affäre „Tinner“

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Seit bald fünf Jahren beschäftigt die Affäre Tinner die Schweizer Öffentlichkeit und führt zu heftigen Debatten in Politik und Justiz. Dabei werden die Gebrüder Urs und Marco Tinner, sowie deren Vater Friedrich Tinner beschuldigt, dem Atomschmuggel-Netzwerk des „Vaters“ der pakistanischen Atombombe Abdul Qader Khan, angehört zu haben…

Von Benji Epstein

In einer beispielslosen Aktion hatte das Untersuchungsrichteramt im Zuge einer Razzia beim Bundessicherheitsdienst einen Tresor abtransportiert. Ihn ihm sollten sich die Schlüssel befinden, die für den Zugang zu den geheimen Atom-Akten nötig sind. Wie ist es zu diesem Polit-Theater gekommen? Schauen wir zurück.

Der Tagesanzeiger fasste die wichtigsten Etappen in der „Affäre Tinner“ zusammen: Im Februar 2004 gibt Abdul Qader Khan, der „Vater“ der pakistanischen Atombombe, öffentlich die illegale Lieferungen von Atomtechnologie an Iran, Libyen und Nordkorea zu. Darauf stellt Libyen sein Atomwaffenprogramm ein. Im Herbst, Oktober bis September 2005 werden mehrere Mitarbeiter von Khans Beschaffungsnetz, unter ihnen auch die Schweizer Ingenieure Friedrich Tinner und seine Söhne Urs und Marco, verhaftet. Gegen sie wird wegen Verstössen gegen das Güterkontroll- oder Kriegsmaterialgesetz ermittelt. Nach eigenen Angaben von Urs Tinner informierte er den US-Geheimdienst CIA über die Geschäfte.

Friedrich Tinner wird Anfang 2006 aus der Haft entlassen und im Mai des gleichen Jahres ignorieren die USA ein Rechtshilfegesuche aus der Schweiz in der Affäre. Im November 2007 beschliesst der Bundesrat aus Sicherheitsgründen die Vernichtung eines Teils der Atomschmuggel-Akten. Informationen über Baupläne für Atomwaffen, Gaszentrifugen und Lenkwaffensysteme sollten vernichtet werden. März 2008: Der eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller bestätigt, dass die von der Bundesanwaltschaft im Fall Tinner übernommenen Untersuchungsakten lückenhaft sind.

Zwei Monate später, im Mai verteidigen Bundespräsident Pascal Couchepin, Verteidigungsminister Samuel Schmid und Justizminister Christoph Blocher die Aktenvernichtung. Die Dokumente hätten ein Sicherheitsrisiko dargestellt und die Aktion sei in Absprache mit der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erfolgt. Darauf entscheidet das Bundesstrafgericht, dass die Gebrüder Tinner in Untersuchungshaft bleiben.

Am 23. Juni 2008: Die St. Galler Staatsanwaltschaft lässt Baupläne für einen Autoklaven zur Urananreicherung versiegelt. Die Akten aus einem Strafverfahren aus den 1980-er Jahren wurden seit Jahren im Staatsarchiv aufbewahrt. Die Geschäftsprüfungsdelegation der eidgenössischen Räte (GPDel )hört am dritten Juli die Bundesräte Schmid und Calmy-Rey sowie alt Bundesrat Blocher zum Atomschmuggelfall Tinner an.

8. August 2008: Das Bundesgericht weist die Beschwerden der Gebrüder Tinner ab. Gleichentags schreibt die Bundesanwaltschaft, der Bundesrat habe die Vernichtung der Tinner-Akten auf Druck der USA angeordnet. Am 2. September 2008 bestätigt Urs Tinners Anwalt, die Familie Tinner habe vom CIA eine Million Dollar erhalten. Der Anwalt von Urs Tinner klagt am 23. Novmeber vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wegen der Aktenvernichtung durch den Bundesrat.

20. Dezember 2008: Der Bundesrat spricht sich gegen die Veröffentlichung eines Berichts der GPDel zur Atomschmuggel-Affäre aus. Diese will aber auf die Forderung nicht eingehen. Darauf wird Urs Tinner an den Weihnachten nach gut vier Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen.

22. Januar 2009: In einem Bericht bezeichnet die GPDel die vom Bundesrat angeordnete Aktenvernichtung als unverhältnismässig. Zudem bestätigt sie, dass die Aktion auf Druck der USA erfolgte. Einen Tag später wird auch Marco Tinner aus der Untersuchungshaft entlassen.
Eine neue Kehrtwende im Fall Tinner erfolgte am 1. April 2009: Überraschend tauchen Kopien der Atom-Akten im Archiv der Bundesanwaltschaft auf. Die Unterlagen waren der Shredder-Aktion des Bundesrates entgangen.

24. Juni 2009: Der Bundesrat beschliesst, den grössten Teil der Aktenkopien den Strafverfolgungsbehörden zugänglich zu machen. Die Dokumente mit Atombombendesign – rund 100 Seiten – sollen aber sofort vernichtet werden. Darauf bezeichnet die GPDel den Beschluss, die Akten zu vernichten, als unzulässigen Eingriff in die Justiz. Sie fordert den Bundesrat auf, den Beschluss rückgängig zu machen und alle Akten der Justiz zugänglich zu machen. Eine Woche später lehnt der Bundesrat die Forderung der GPDel jedoch ab.

Am 4. Juli 2009 verlangt Untersuchungsrichter Andreas Müller per Verfügung Einsicht in alle Akten – auch in jene 100 Seiten, die der Bundesrat vernichten will.

8. Juli 2009: Der Bundesrat bekräftigt seine Weigerung, die Akten herauszugeben. Bundespräsident Merz bezeichnet die Verfügung als endgültig und nicht anfechtbar.

9. Juli 2009: Das Bundesstrafgericht fordert den Untersuchungsrichter auf, die Akten mittels Zwangsmassnahmen sicherzustellen. Dieser lässt gleichentags einen Tresor beschlagnahmen, der die Schlüssel zu den Aktenschränken mit den Tinner-Akten enthält.

Der 9. Juli stellt einen weiteren Höhepunkt in der Affäre-Tinner dar. Damit durch ein Gericht und nicht durch den Bundesrat gewährleistet werden kann, was mit den Akten geschieht sicherte sich das Untersuchungsrichteramt gegen den Willen des Bundesrates Zugang zu den Tinner-Akten.

Damit ist ein Aufeinanderprallen von Staatsgewalten erfolgt, wie es für die Schweizer Politik eher untypisch ist. Der Fall Tinner scheint regelrecht zu einem Polit-Thriller für die Öffentlichkeit zu werden. Wie Staatsrechtsprofessor Benjamin Schindler von der Universität Bern gegenüber dem Schweizer Fernsehen (SF) berichtete, ist es für ihn nur schwer nachvollziehbar, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Es scheint ihm vor allem kaum verständlich, weshalb der Bundesrat seinen Beschluss zur Vernichtung der Akten nicht bereits längst vollzogen hat, wenn die Dokumente so brisant sind. Das Vorgehen des Bundesrates sei insofern inkonsequent.

Die Konfrontation zwischen Bundesrat und der Justiz schärft sich weiter zu. Auch nach der Sicherstellung des Zugangs zu den Dokumenten beharrt der Bundesrat über seine Verfügung über die brisanten Informationen. In Übereinstimmung mit der Bundesverfassung ist die Regierung ermächtigt Massnahmen zu ergreifen, welche die Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz gewährleisten. Laut neusten Meldungen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vom Freitag werden trotz allem Wiederstand, die Tinner-Akten vernichtet und es wird am Entscheid des Bundesrates vom 24. Juni festgehalten.

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