Die Personifikation des Abstrakten – oder: die Frage nach dem Ursprung der Bilder

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Von der Kontinuität eines Ressentiments in der Diskontinuität der Ereignisse. Theoretische Skizzen anhand antisemitischer Emails an das jüdische Internetportal haGalil.com, Teil V…

Von Niklas Barth

Ohne einen Rekurs auf das gesellschaftliche Verhältnis, das die Subjekte des Antisemitismus erst konstituiert, kratzt jede Analyse diskursiver Feindbilder nur an der empirischen Oberfläche. „Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde.“ (Adorno:2006) Wie wird dieses unbewusste Bewusstsein dem Subjekt eingeschärft? Wieso bindet die Konstruktion vom „Juden“ derart die prinzipielle Kontingenz des „beweglichen“ Vorurteils? Was ist die spezifisch-strukturelle Dimension des Antisemitismus, die sich in einem weltdeutenden, die Ambivalenzen des Kapitalismus tilgenden Fetisch manifestiert?

„Wisst ihr , ich kenne eigentlich gar keine Juden . Aber wenn ich Sie im Fernseh seh, dann wiedern sie mich einfach nur an …Der erste Eindruck, soll ja entscheident sein. Friedmann ,Knobloch und der verstorbene Spiegel !!! Das Judentum und Amerika : Amerika ist der verlängerte Arm Israels. Ich weiss, Israel und Amerika schmeckt das nicht ,doch so ist es! ! ! Hollywood wird vom Judentum dominiert !!! In Politik und Wirtschaft haben die Juden ein mächtiges Wort mitzureden! ! ! Das gilt für Amerika und für Europa .Bis hin zum mittleren Osten. Die Iluminaten lassen grüßen. Yes man, from the United States of America ! ! ! Wer hat momentan in Frankreich das Sagen ??? Wer bestimmt die englische Premier-League ??? Wer steuert die fucking Bush-Administration in Sachen Afghanistan u. Irak ??? Wer möchte, das der Iran amerikanisiert wird ??? Das Judentum, bzw. Israel ,wünscht sich ,das der Rubel rollt !!! Auf kosten der anderen Völker!!! Ich frage mich immer wieder woher der Antisemitismus eigentlich kommt ??? Ich weiss es ,er kommt nicht von ungefähr ,ich weiss auch ,das die Welt euch HaSSt und zwar sehr !!! Das Judentum ist der Genozid für die arischen Völker ! ! ! Selbstbestimmung ,sie lebe hoch . Auf das Sie ewig bei uns sei ! ! ! Zum Verderben des Judentums , ja das ist geil !!!“ ((DS#15haGalil))

Ohne die Relevanz und theoretische Attraktivität eines differenztheoretischen Blicks diskreditieren zu wollen, erklärt er aus der Perspektive einer materialistischen Erkenntnistheorie doch die antisemitische Attributationspraxis nur aus sich selbst heraus. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – das Abstellen auf eine selbstreferentielle Praxis, in diesem Fall als Praxis der Differenz, derzeit zu den prominentesten soziologischen Schablonen gehört, soll hier dennoch der Versuch unternommen werden, den Antisemitismus aus einer materialistischen Perspektive zu umreißen. Wie werden in einer Gesellschaft also, die unter dem Gesetz des Werts steht, diese stabilen Muster hervorgebracht, die das bürgerliche Subjekt als Agent des Antisemitismus affizieren?

Locus classicus ist hier sicherlich die wegweisende Arbeit Moishe Postones: bei ihm lassen sich alle bisherigen binären Unterscheidungen in der Antinomie von Konkretem und Abstraktem verdichten. Postone baut seine Argumentation um die marxsche Werttheorie: die Ware ist wohlbekanntermaßen ein „vertracktes Ding“, voller metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken“ (vgl. Marx: 1975). Ihr Doppelcharakter als Einheit von Tausch und Gebrauchswert wird in der Zirkulationssphäre verschleiert. Das Geld wird so zum einzigen
Ort des Wertes, als Manifestation des Abstrakten anstatt als entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware (vgl. Postone:2005) Das gesellschaftliche Verhältnis der Ware wird fetischisiert, tritt also nur in der Dichotomie abstraktes Geld vs. konkrete, stoffliche Natur in
Erscheinung. „Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein quasi-objektives Eigenleben. Sie bilden eine ’zweite Natur‘, ein System von Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich, sachlich und ’objektiv‘ ist und deshalb natürlich zu sein scheint.“ (Postone: 2005).

Analog dazu setzt sich im Zuge eines sich ausdifferenziernden, kapitalistischen Systems diese „quasi natürliche“ Antinomie zwischen Abstraktem und Konkretem fort. Das „Kapital erscheint als rein abstrakter Prozess.“ (Postone) Dabei liegt die verkürzte Kapitalismuskritik darin begründet, den Schein dieser Antinomie nicht zu entlarven. So wird gleichzeitig die abstrakte Seite, das Finanzkapital dämonisiert, während die konkrete Seite, das Industriekapital, ontologisiert wird. Die Hypostasierung des industriellen Kapitals als gesunde, natürliche und organische Form des Kapitalismus, stellt ihn in semantische Nähe zu Semantiken wie Gemeinschaft, Volk oder Rasse. (vgl. Postone) Abgrenzend dazu ergibt sich das parasitäre, zügellos wuchernde und wurzellose Finanzkapital. In der Ideologie von schaffendem und raffenden Kapital findet sich dann die nationalsozialistische Entsprechung dieser Unterscheidung. Da wie oben beschrieben die Juden im Kontext der europäischen Geschichte schon immer als das „ausgegrenzte Dritte“ (vgl. Bauman) galten, und ihre rechtliche Stellung sie dadurch an bestimmte Räume innerhalb der gesellschaftlichen Sphären band – u.a. eben in die Zirkulationssphäre – konnte die prinzipielle Kontingenz des antisemitischen Ressentiments an die Juden gebunden werden. „Sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfassbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals“ (Postone: 2005). Sie wurden mit dem Abstrakten, Unfassbaren, Universalen und Mobilen in Identität gesetzt.

So muss der These, die Juden würden als Agenten der Moderne perhorresziert, die Erkenntnis Postones gegenübergestellt werden, nach der der Antisemitismus mitnichten gegen die Moderne „an sich“ gewendet ist: die Logik der gesellschaftlichen Vermittlung des Kapitalismus selbst ermöglicht es den „abstrakten Juden“ mit antikapitalistischem Impetus als das „Abzuschaffende“ zu markieren und gleichzeitig noch den Mehrwert des nationalen Kapitals abzuschöpfen.

Zwischenresumee – oder: die Rufe zur Ordnung

Alle bisherigen Zuschriften kamen wenigstens klar aus dem deutsch-nationalen Milieu, dessen antisemitischen Stereotype bruchlos an einen „Konsensantisemitismus“ (Winkler) der Weimarer Republik anschließbar sind. Diese kleinbürgerlichen Ressentiments, die sich
vor allem im konservativen bis reaktionärem Spektrum beheimatet sind, stellen auf die Vokabeln Tradition, Einheit, Geschlossenheit, Gemeinschaft und Ordnung ab. Hier mischen sich antidemokratisch-autoritäre Einstellungen, Nationalismus und grundsätzlicher Antimodernismus mit klassischen antisemitischen Ideologemen. Sie scheien: Zur Ordnung! Zur Ordnung!, um die Worte Kurt Tucholskys zu bedienen. Dabei wird der Jude als symbolischer Feind benötigt, ohne in einen „Erlösungsantisemitismus“ (Friedländer) umzuschlagen. Der Schritt ist allerdings kein Großer, denn andererseits speisen sich die Ressentiments, wie gesehen, sogar noch aus dem radikalisierten rassischen Antisemitismus der Nationalsozialisten.

Die tiefenwirksame psychologische Dispostion dahinter, lässt sich mit der von Adorno et al. behaupteten Ich-Schwäche des autoritären Charakters erklären. Dieser ist vor allem eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, die sich in Dispositiven wie Stereotypie, Autoritätshörigkeit, Konventionalismus, Identifikation mit Macht, Destruktivität und Zynismus, sowie genereller misanthropischer Aggression äußert. Im Mythos des Odysseus, der den Fremd- durch Selbstzwang ersetzt, um den Versuchungen der Sirenen zu entkommen, liegt hingegen der bildhafte Ursprung des sado-masochistischen Charakters, einer Subkategorie der autoritären Persönlichkeit. ((57 Aus Platzgründen kann hier jedoch nicht auf die Grundlagen der autoritären Persönlichkeit, sowie ihrer psycholgischen Genese eingegangen werden. Vgl. Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality. Harper und Brothers, New York 1950.)) Indem sich Herrschaft subjektiviert, kündigt sich im Augenblick ihrer Unnötigkeit schon ihre Reinkarnation an.

Das ist das Janusgesicht der Aufklärung. (vgl. Adorno: 2006) Das beschädigte Selbst schmiegt sich an die Macht des Autoritären in sich an. Im Phantasma des nationalen Kollektivs findet es Balsam für sein narzistisch gekränktes, schwaches Ich. Gleichzeitig wird in pathischer Projektion die eigene Unvollkommenheit in die als Volksfeinde markierten Juden gespiegelt. Anknüpfungspunkt für diese und weitere Arbeit wären, inwieweit diese von Adorno et al. beschriebenen Dispositionen sich noch in der politischen Kultur der Berliner Republik finden lassen? Oder, um mit Markovitz zu fragen: wie sich Identitätssemantiken und Etikettierungen angesichts eines sich etablierenden „europäischen Bewusstseins“ transformieren. ((Vgl.: Markovitz, A., S.: European Anti-Americanism and Anti-Semitism. Similarities and Differences. In: Post-Holocaust and Anti-Semitism. 2003.)) Welche Rolle spielen autoritäre Dispositionen vor der Folie eines sekundären Antisemitismus oder Antizionismus? Diese Fragen sollen im Folgenden im Hintergrund mitlaufen.

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