Amos Elon s“l: Die Intifada. Erster Teil.

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Dreizehn Wochen nach Beginn der Volkserhebung in der West Bank und im Gazastreifen – die von rechten israelischen Politikern und einem Teil der Presse noch immer als »Unruhen«, »Ereignisse«, »Auseinandersetzungen« und »Aufruhr« bezeichnet wird – kann man zumindest eine generelle Feststellung treffen. Der Status quo, den Likud-Politiker seit langem als die beste aller mögliehen Welten betrachtet haben, ist endgültig zusammengebrochen…

Vor einem Monat, 25. Mai 2009, starb der bekannte israelische Journalist und Buchautor Amos Elon im Alter von 82 Jahren in der Toskana. Zu den Schloschim ist es Zeit an diesen weitblickenden und engagierten Kenner der Lage in Nahost und sein Werk zu erinnern. Wir bringen heute einen Beitrag aus dem Jahre 1988, der vieles, das zum Verständnis der heutigen Lage unabdingbar ist, in Erinnerung ruft.

Amos Elon, 1988 (in Nachrichten aus Jerusalem, dtv)

Zwanzig Jahre kurzsichtiger israelischer Politik liegen zertrümmert auf den Straßen der West Bank, in Gaza und Ostjerusalem. Die Schrift an der Wand war seit Jahren zu lesen. Die meisten Israelis haben sie nicht beachtet. Einige ließen sich von realen oder imaginären Sicherheitserwägungen ablenken. Die verwirrenden Abstraktionen der politischen Rhetorik im In- und Ausland und das endlose Gerede (selbst unter vernünftigen Leuten) von einem nicht existierenden »Friedensprozeß« führte zu Abstumpfung. Selbstbetrug wurde zu einer Voraussetzung fürs Überleben.
Viele Menschen übersahen die einfache Tatsache, daß Israel seit 1967 keinen Krieg mehr gewonnen hat. Andere ließen sich von nationalistischer und religiöser Rhetorik blenden und von der scheinbaren Mühelosigkeit und den geringen Kosten der militärischen Besatzung, die seit über zwei Jahrzehnten anderthalb Millionen Palästinenser als Schachfiguren beziehungsweise Faustpfand und als billige Arbeitskräfte hält, ihnen gleichzeitig aber die grundlegendsten Menschenrechte verweigert.

Die Schachfiguren haben sich nun erhoben, um ihrer Frustration, ihrer Verbitterung und ihrem politischen Willen mit einer Besessenheit und Entschlossenheit Ausdruck zu geben, die jedermann in Israel überraschte, auch sie selbst und ihre »Führer« und »Sprecher« im Hauptquartier der Palästinensischen Befreiungsorganisation im fernen Tunis. Der Aufstand begann offenbar völlig spontan. Ein übler Verkehrsunfall in Gaza, bei dem es mehrere Tote gab, löste wilde Gerüchte aus, wonach die israelischen Sicherheitskräfte den Vorfall gezielt verursacht hätten. Die Protestdemonstrationen griffen rasch auf die West-Bank über. Im nachhinein ist nicht verwunderlich, daß das Faß im Gazastreifen überlief, wo geradezu alptraumhafte Verhältnisse herrschen. In diesen schmalen Landstrich, der nur etwa zehn Kilometer breit und sechsunddreißig Kilometer lang ist und eine Bevölkerungsdichte hat, die ohnehin zu den höchsten der Welt gehört, wurden von den Israelis noch einmal zweitausend militante jüdische Siedler hineingestopft. Sie wohnen in ihren Villen, mitten im Elend der Flüchtlingslager, auf öffentlichem oder enteignetem Boden in ferienclubähnlichen Enklaven.

In Gaza sind die sozialen Probleme noch bedrückender als die politischen. Die Palästinenser, die hier leben, sind seit 1948 staatenlos. Weder Ägypten (vor 1967) noch Israel (nach 1967) mochten das Gebiet formell annektieren, weil sie befürchteten, sich ein riesiges soziales Problem aufzubürden. (Man schätzt, daß die Bevölkerungszahl von gegenwärtig 633.000 bis zum Jahre 2004 auf eine Million gestiegen sein wird.) Die Verbitterung, Hoffnungslosigkeit und Frustration, vor allem in den Flüchtlingslagern, wird noch verstärkt durch die Folgen von einundvierzig Jahren Unterdrückung – bis 1967 durch die Ägypter und seit 1967 durch die israelische Armee. Der Aufstand wurde in Gaza von starken islamisch-fundamentalistischen Emotionen getragen – so wie zehn Jahre zuvor die iranische Revolution. Der neue Protest richtet sich nicht nur gegen die traditionelle Führung, sondern gegen die Lebensbedingungen, in denen junge Leute keinen Ausweg mehr sehen.

(Anm.: Die negativen Prognosen Elons, haben sich inzwischen zum schlechten bestätigt. Z.B. 2007/2008 lag die Bevölkerungszahl im Gaza-Streifen bei ca. 1.500.000)

In Gaza wie in der West Bank wurde der Aufstand von ein paar tausend Jugendlichen und Halbwüchsigen angeführt, die mit nichts anderem als Steinen und Schleudern und gelegentlich einem Molotowcocktail bewaffnet waren – ein Kinderkreuzzug. Innerhalb weniger Wochen scheinen sie mehr für die palästinensische Sache (nicht unbedingt auch für die PLO) erreicht zu haben als Yassir Arafat und seine reichen Anhänger oder die Terroristen in dreißig Jahren.

Der Aufstand hat Israel in eine tiefe politische Krise gestürzt und die Gesellschaft gründlich verändert. Die Überraschung und das Trauma erinnern an den Schock des Yom-Kippur-Kriegs von 1973. Der Aufstand selbst und die Tatsache, daß man ihn bislang nicht hat niederschlagen können, sind eine Lehre in Sachen Grenzen der Macht. Die Israelis haben seit langem ein Problem mit der Anwendung von Macht. Ziel des Zionismus war es, schutzlosen Juden so viel Macht zu geben, daß sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können. Seitdem philosophieren Zionisten über Macht. Nach dem Holocaust wurde es ein zionistischer Glaubensartikel, daß die »Machtlosigkeit« der europäischen Juden die Hauptursache für ihre Vernichtung gewesen sei. Die israelische Einstellung zu Macht ist daher immer komplex und widersprüchlich, zuweilen neurotisch, gekennzeichnet von der eigentümlichen Unfähigkeit, die notwendige Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt zu treffen.

Der militärische Sieg von 1967, der nicht in politische Ergebnisse, d. h. in Frieden, übersetzt wurde, hat das Problem nur noch komplizierter gemacht. Weil Israel 1967 die Gebiete im Zuge der Abwehr einer äußeren Bedrohung erobert hatte, gingen die Israelis aus diesem Krieg noch immer mit einem Gefühl der Schwäche hervor, während sie in Wirklichkeit die dominierende Militärmacht in der Region, also stark waren. Sie hätten nach 1967 »großzügige Sieger« sein und mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten und mit den arabischen Nachbarn eine Art Frieden schließen können. Da sie aber Menschen sind und viele Jahre lang in so großer Unsicherheit gelebt hatten, wollten sie absolute Sicherheit – eine Sicherheit, die sie nur haben konnten, wenn sich die Araber absolut unsicher fühlten. Der israelische Historiker Jacob Talmon pflegte vor den »obsessiven Wünschen« zu warnen, die der Junikrieg (1967) geweckt habe; sie seien eine gefährliche Abkehr von dem, was Freud das Realitätsprinzip genannt hat.

Wie berechtigt Talmons Warnungen waren, zeigte sich auf tragische Weise während der israelischen Intervention im Libanon, die noch immer nicht beendet ist, und erst kürzlich wieder in der West Bank und in Gaza. Macht offenbart eine eigentümliche Ohnmacht, wenn sie, wie im Fall Israel, ihren defensiven Charakter verliert und zu purer Gewalt wird. 1967 benötigte die israelische Armee einen Tag, um Gaza zu erobern, und nicht einmal drei Tage für die gesamte West Bank. Die gleiche Armee – inzwischen mindestens dreimal stärker und ausgerüstet mit den modernsten Waffen – ist bis heute nicht imstande, die sogenannte »Ordnung« wiederherzustellen, das heißt, die Unruhen in diesen Gebieten zu beenden und eine aufrührerische Bevölkerung zu befrieden.

Der gegenwärtige Aufstand ist das Ergebnis eines erstaunlichen Mangels an Weitsicht, Phantasie und politischem Einfühlungsvermögen seitens der israelischen Politiker. Sie haben zugelassen, daß sich eine Situation in den besetzten Gebieten entwickelte, die von Anfang an aussichtslos war und über die Jahre hinweg nur durch Gewalt und noch mehr Gewalt aufrechterhalten werden konnte. Zu den politischen Fehlern kam die Unzulänglichkeit und Schlampigkeit der Militärverwaltung, die anfangs recht liberal war, im Laufe der Zeit aber – desinteressiert, unterbezahlt, zunehmend korrumpiert und mit grenzenloser, willkürlicher Macht ausgestattet – immer mehr verkam. Menschen geben ihre Fehler bisweilen zu, Bürokratien fast nie. Indem sie ihre Fehlentscheidungen ausführen, legitimieren sie sie im nachhinein.

Mehr als neunzig Palästinenser haben bislang den Tod gefunden. Die meisten wurden erschossen; einundzwanzig sollen durch Tränengas umgekommen sein, darunter drei Babys, die nicht einmal sieben Monate alt waren, ein Zwölfjähriger sowie ein Mann im Alter von hundert Jahren. Sieben sollen an Schlägen gestorben sein, darunter ein Vierzehnjähriger und ein Sechzigjähriger. Hunderte wurden verletzt und zusammengeknüppelt von schlagstockschwingenden Soldaten, die Befehlen folgen, die bestenfalls wirr und schlimmstenfalls ausgesprochen brutal sind. Doch die Demonstrationen gehen weiter. Die Krankenhäuser in Gaza und anderswo sind voll von Jugendlichen mit gebrochenen Armen oder Beinen oder beidem. Die Demonstranten sind von ihren »Erfolgen« überzeugt. Die resultierende Euphorie hat zu bemerkenswert kühnen Aktionen geführt und – trotz des Fehlens richtiger Anführer – zu der außerordentlich hohen sozialen Disziplin, die bei sogenannten revolutionären Bewegungen so oft beobachtet worden ist. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Lebens werden häufig geteilt.

Der zeitliche Ablauf der Unruhen – die erst hier, dann dort ausbrechen – läßt auf eine sorgfältige zentrale Koordinierung schließen. Palästinensische Ärzteteams bereisen regelmäßig die Unruhegebiete und versorgen die Verletzten, die aus Angst vor Verhaftung keine Krankenhäuser aufsuchen. Es gibt reichlich Waffen in den besetzten Gebieten, und es kann für die Demonstranten nicht sehr schwer gewesen sein, sich entsprechend einzudecken. Dennoch haben die Aufständischen, trotz des verbreiteten revolutionären Fiebers, in den drei Monaten des Aufstands keinen einzigen Schuß abgegeben. Sie folgen, wie es heißt, den strikten Anordnungen der Volkskomitees. Dr. Raphael Walden, der in der Intensivstation des Krankenhauses Tel Hashomer bei Tel Aviv arbeitet (und zufällig der Schwiegersohn von Schimon Peres ist), berichtete der Presse, daß ein schwer verletzter Siebzehnjähriger, den man bei seiner Einlieferung nach seinem Namen fragte, nur »Dschihad, Dschihad« gestöhnt habe.

Tausende von Palästinensern sind verhaftet worden, Hunderttausende eingeschüchtert und bei den Ausgangssperren, die regelmäßig über Dörfer, Flüchtlingslager und ganze Städte verhängt werden, unter schärfsten Hausarrest gestellt worden. Doch der Aufstand, den die Behörden innerhalb weniger Tage glaubten niederschlagen zu können, geht in seinen vierten Monat. Ausgangssperre bedeutet oft unterbrochene Telefonverbindungen und Stromsperre. Männer werden mitten in der Nacht aus ihren Häusern gezerrt und müssen bis zum Morgen auf dem Dorfplatz stehen. Es gibt viele ähnliche Arten von Kollektivstrafen. Und doch geht der Aufstand weiter. Die Presse berichtet nicht mehr detailliert über jede Demonstration, sondern spricht ganz allgemein von zunehmenden oder abnehmenden Wellen von Gewalt oder Unruhe. Eine typische Nachrichtensendung des staatlichen Rundfunks lautete kürzlich: »Im Flüchtlingslager Schata in Gaza wurden gestern zwei Demonstranten erschossen … Dessenungeachtet war es gestern im Gazastreifen relativ ruhig.«

Selbst dann, wenn es in Gaza, in Nablus, Bethlehem oder Ost-Jerusalem keine Ausgangssperre gibt, wirken palästinensische Städte wie ausgestorben. Die Bevölkerung zieht sich in ihre Häuser zurück. Die Geschäfte sind geschlossen, außer zu bestimmten, von einem örtlichen Untergrundkomitee festgelegten Stunden, damit Nahrungsmittel und andere notwendige Bedarfsartikel eingekauft werden können. Die Regierung hat versucht, den Transfer von PLO-Geldern aus dem Ausland, mit denen der Streik palästinensischer Kaufleute unterstützt wird, zu unterbinden. Doch unbeeindruckt von harten fiskalischen und administrativen Maßnahmen, setzen die Kaufleute ihren Streik fort.

Die Demonstranten marschieren weiterhin durch die Trümmer und den schwarzen Rauch brennender Autoreifen, vorbei an verschlossenen Läden, Parolen rufend, Fahnen schwenkend. Kleine Jungen laufen voraus und schießen mit Schleudern auf das Militär, das herbeigeordert wird, sie auseinanderzutreiben. Die Soldaten – unter ihnen viele Reservisten – wirken demgegenüber plump und unbeholfen. Mit ihrer schweren Ausrüstung, den Walkie-Talkies, das automatische Gewehr in der einen Hand und den Schlagstock in der anderen, bewegen sie sich nur langsam und schwerfällig. Aus Hubschraubern, die in der Luft dröhnen, werden Tränengasgranaten abgeschossen. Zwischen zwanzig- und vierzigtausend Soldaten sollen auf der West Bank, in Gaza und Jerusalem stationiert sein. Wenn sie nicht gerade Demonstrationen auflösen oder Kinder durch die schmalen Altstadtgassen von Nablus jagen oder in die elenden Flüchtlingslager eindringen, in einer Atmosphäre, die erfüllt ist vom Haß und den Ressentiments vierzigjähriger Tragödien, dann konzentrieren sich die Soldaten darauf, die wichtigsten Straßenverbindungen offen zu halten und rund hundert israelische Siedlungen zu schützen, die in den besetzten Gebieten seit 1967 errichtet worden sind.

Sie können nicht überall sein. Fast jede Nacht schaffen die Bewohner von Dörfern und Flüchtlingslagern Felsblöcke auf die Straße, um die Zufahrt zu ihrem Dorf oder Lager zu blockieren. Sie hängen palästinensische Fahnen auf, singen Lieder und erklären ihr Dorf oder Lager zu »befreitem palästinensischem Territorium«. Daraufhin rückt die Armee wieder ein — allzu oft mit völlig überflüssiger Brutalität, die Soldaten zerschlagen Mobiliar, schlitzen Reifen auf, schlagen Fensterscheiben ein und zertrümmern Solarheizungen. Bulldozer kommen und räumen die Felsblöcke weg. Ein paar Jugendliche werden beiseite genommen und brutal verprügelt, andere verhaftet. Entsetzte Mütter schreien panisch, und Offiziere appellieren an die alten Männer (die ihrerseits auf ihre Ohnmacht hinweisen), für Ruhe zu sorgen. Eine Woche später wiederholt sich das gleiche Schauspiel.

Zuerst bestand in Militärkreisen eine gewisse Sorge, daß die Soldaten — vor allem Zivilisten, die ihren Reservedienst leisteten — sich weigern würden, »dreckige Polizeiarbeit« zu verrichten, und sich sogar Befehlen widersetzen würden. Aus diesem Grund wurden nur reguläre Einheiten oder frische Rekruten eingesetzt (die vielfach nicht älter waren als die palästinensischen Jugendlichen, die sie mit Steinen bewarfen). Die Sorge war unberechtigt. Kurzzeitig mag der einzelne Soldat, der mit Steinen beworfen oder beschimpft wird, durchaus aggressiv, ja brutal reagieren. Auf lange Sicht aber können sie als Staatsbürger durchaus »taubenhaft« reagieren (wie im Libanon) und dafür plädieren, »diese Gebiete aufzugeben«. Paradoxerweise haben die Unruhen der palästinensischen Sache eine menschliche Dimension verliehen; vor dem Aufstand war sie ein abstraktes Übel. Jetzt kann man die einzelnen Männer und Frauen und Kinder sehen, die für ihre Rechte auf die Straße gehen. Ein Oberstleutnant wurde kürzlich von der Tageszeitung Davar mit den Worten zitiert: »Wenn ich in den Zeitungen von Waldheim lese, dann frage ich mich, wie die Zukunft über das urteilen wird, was ich heute in den Gebieten tue.«

Die sogenannte Zivilverwaltung in den Gebieten (ein unzutreffender Ausdruck, denn sie ist Teil der Armee und untersteht dem Kommando von Offizieren) befindet sich aufgrund der freiwilligen oder erzwungenen Kündigung bzw. Arbeitsverweigerung von lokalen palästinensischen Angestellten kurz vor dem Kollaps. Andere Palästinenser, die mit dem israelischen Besatzungsregime zusammenarbeiten, werden ständig eingeschüchtert. Einer wurde öffentlich gelyncht. Von der vielgepriesenen Effizienz der israelischen Geheimdienste ist seit dem Beginn des Aufstands wenig zu merken. In der Vergangenheit hatte man es verstanden, terroristische Zellen zu unterwandern und verhafteten Verdächtigen rasch wichtige Informationen abzupressen. Die angespannte Situation aber, die in der West Bank, in Gaza und sogar im »wiedervereinigten« Jerusalem das ganze letzte Jahr über herrschte, wurde von ihnen nicht bemerkt oder falsch interpretiert.

Der Aufstand selbst hätte schon vor Jahren noch von dem dümmsten Beobachter, der durch die West Bank oder den Gazastreifen gefahren wäre, vorhergesagt werden können. Dennoch ließen sich die Sicherheitsdienste von der relativ geringen Zahl oder Wirkungslosigkeit offener Terrorakte täuschen. Monate vor dem tatsächlichen Aufstand wurde die wachsende Spannung überdeutlich durch die steigende Zahl der isolierten, spontanen Ausbrüche von Gewalt. Immer mehr Autos wurden mit Steinen beworfen. Einige Israelis wurden im arabischen Viertel von Jerusalem überfallen. Die Sicherheitsdienste sind inzwischen nur wenig effizienter, obwohl der Aufstand hier und dort schon durch geheime »Führungskomitees« gelenkt wird, die in Dörfern und Stadtvierteln eingerichtet wurden. Es gibt mindestens ein Dutzend größerer Komitees. Trotz Hausdurchsuchungen und mehr als zweitausend Verhaftungen sind die Militärbehörden noch nicht imstande gewesen, ein einziges Mitglied festzunehmen. Die Identität der Komiteemitglieder ist nicht bekannt. Sie mögen radikaler oder weniger radikal als Arafat sein, das Feld kontrollieren sie jedenfalls besser, als er und seine Kohorten in der PLO es jemals vermocht haben.

Im Untergrund wächst zweifellos eine neue Führungsschicht heran. Verbal bekennt sie sich zwar zu der im Ausland ansässigen PLO-Führung, aber wieweit sie tatsächlich von der PLO abhängig ist, weiß niemand. Anscheinend versucht die PLO inzwischen, diese Komitees aus der Ferne, per internationaler Telefondirektwahl, zu steuern, doch nach allem, was ich gehört habe, kontrolliert sie die Entwicklung nicht oder noch nicht. Ebensowenig wird der Aufstand offenbar von prominenten lokalen Palästinensern kontrolliert, die der PLO nahestehen, wie etwa dem Chefredakteur von Al-Fajr, Hanna Siniora, oder dem in Gaza ansässigen Rechtsanwalt Fayiz Abu Rahma, die letzten Monat in Washington mit US-Außenminister Shultz konferierten und permanent von der internationalen Presse interviewt werden. Wie sinnlos die aktuelle politische Debatte in Israel teilweise ist, zeigt sich besonders deutlich in dem Streit darüber, ob es »legitim« ist, mit Siniora und Abu Rahma zu verhandeln, oder ob sie als PLO-Sympathisanten eingesperrt werden sollten. Wer immer den Aufstand lenkt – vielleicht gibt es niemanden -, wird nämlich nicht zulassen, daß Siniora, Abu Rahma und andere traditionelle Führer davon profitieren.

»Israel lernt jetzt eine sehr einfache Wahrheit, die wir seit den Tagen der Konfrontation mit der britischen Armee in Palästina 1945-47 kennen müßten«, schrieb kürzlich Schlomo Avineri, Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ehemaliger Generaldirektor des israelischen Außenministeriums. »Eine Armee kann eine Armee, aber kein Volk besiegen.« Historiker wissen das schon lange, »aber Soldaten und Politiker (und die israelischen Politiker sind allzuoft ehemalige Militärs)« begreifen es anscheinend nicht. Sie können Geschütze, Flugzeuge, Panzer und Raketen zählen. »Was nicht gezählt werden kann – der Wille eines Volkes etwa -, erscheint auf ihrer quantifizierten Weltkarte einfach nicht.«

Verantwortlich für die – bislang erfolglose – Politik von »Gewalt, Macht und Prügel« ist Verteidigungsminister Yitzhak Rabin, ein typischer Vertreter quantifizierenden Denkens. Rabin ist ein ehemaliger Soldat, der sich, wenn überhaupt, nur wenig für Ideen interessiert und für keinerlei tiefe Überzeugungen bekannt ist. Er hat den Palästinensern in den letzten Wochen erklärt, daß sie mit Aufruhr nichts erreichen. Vielleicht hat er ja recht, aber seine Vorhaltung wäre etwas sinnvoller gewesen, wenn den Palästinensern in den einundzwanzig Jahren schleichender Annexion handfeste Angebote gemacht worden wären. Es war immer zu früh oder zu spät, sich mit ihren Wünschen auseinanderzusetzen beziehungsweise eine Verständigung mit Jordanien zu suchen.
1967, als Generalstabschef der siegreichen israelischen Armee, war Rabin ein Symbol für die ungeheure Leistung, so viel Territorium als Faustpfand für Frieden erobert zu haben. Heute ist er das lebende Symbol dafür, wie diese Chance verspielt wurde.

1968 brachte er die Rechten gegen sich auf, als er erklärte, daß es keine Katastrophe wäre, wenn Israelis, nach einem Friedensschluß und nach dem Rückzug der israelischen Truppen, für einen Besuch von Hebron ein arabisches Visum beantragen müßten. Später plädierte er leidenschaftlich für einen »territorialen Kompromiß«, d. h. für die Aufteilung der West Bank zwischen Israel und Jordanien, wobei (das arabische) Ostjerusalem in israelischer Hand bleiben sollte. Dieser Teilungsplan ging auf Yigal Allon zurück, ebenfalls ein ehemaliger Militär und Rabins politischer Mentor. Der Allon-Plan, formuliert in den ersten Wochen nach dem Sechs-Tage-Krieg, sah vor, daß Israel einen kleinen Streifen Land am Westufer des Jordan gewissermaßen als Schutzbarrikade annektieren und intensiv besiedeln sollte. Der überwiegende Teil der West Bank sollte unter jordanischer Verwaltung bleiben.

Da es zu keinem Abkommen kam, dehnte sich dieser Streifen Land, zunächst schmal und relativ kurz, immer weiter aus, bis er (in der letzten Version des Plans, kurz vor Allons Tod im Jahre 1980) fast die gesamte West Bank einschloß, abgesehen von einigen Enklaven um Nablus und Ramallah, in denen sehr viele Palästinenser lebten. Dem jordanischen König Hussein wurde im Laufe der Jahre bei Geheimtreffen mit Golda Meir, Abba Eban, Mosche Dayan, Yitzhak Rabin und Schimon Peres dieser Plan, in seinen verschiedenen Versionen, wiederholt unterbreitet. Stets wurde er zurückgewiesen. Hussein soll seinen israelischen Gesprächspartnern, zuletzt Rabin im April vergangenen Jahres, erklärt haben: »Ich bin bereit, mit Israel Frieden zu schließen, aber nur bei einem Rückzug der Israelis auf die Grenzen vor 1967. Ich würde nicht überleben, wenn ich mich auf weniger einließe. Über alles, was unterhalb eines vollständigen Rückzugs liegt, müssen Sie mit der PLO verhandeln.«

Wie die meisten seiner Kabinettskollegen, vor allem Ministerpräsident Schamir, doch im Gegensatz zu Außenminister Schimon Peres, interpretierte Rabin den Aufstand zunächst falsch und flog – wie es schien: unbeeindruckt – zu einem Besuch in die Vereinigten Staaten. Peres machte ihm keine Vorhaltungen. So wie Schamir von rechts durch Scharon (ebenfalls ein hoher Ex-Militär) attackiert wird, so wird Peres‘ Führungsposition in der Arbeitspartei ständig von Rabin bedroht. Als Rabin fast zwei Wochen später zurückkehrte, war der Aufstand in vollem Gang. Rabin deutete an, daß die Unruhen von ausländischen, u. a. iranischen Agenten geschürt worden seien, und versprach, die Angelegenheit innerhalb weniger Tage beendet zu haben. Zehn Tage später erklärte er, daß vielleicht doch ein paar Wochen nötig seien, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Anfang Januar korrigierte er seine Schätzung und sprach von mehreren Monaten, versicherte seinen Zuhörern aber, daß die Ordnung selbstverständlich wiederhergestellt würde. Eine Woche später gestand er, daß die Lage wahrscheinlich nie mehr so sein werde, wie sie vor Dezember gewesen war. Der Aufstand, sagte er jetzt, sei eine neue Art von Krieg, und Israel würde bis auf weiteres damit leben müssen. Bei jeder neuen Stellungnahme wirkte er gereizter, und die Fragen von Reportern beantwortete er mit wütend geballter Faust.

Gleichzeitig wiederholte er seine Überzeugung, daß sich das Problem nicht durch militärische Maßnahmen lösen ließe, daß es nur eine politische Lösung geben könne. Erstaunlicherweise kommt den Palästinensern, ungeachtet der Ereignisse der letzten drei Monate, dabei keine Schlüsselrolle zu. Die einzige Lösung, so Rabin Anfang März, sei ein Abkommen mit Jordanien, wonach rund 500.000 Palästinenser auf der West-Bank unter israelischer Herrschaft bleiben würden. in einem Israel, zu dem ein Gebiet rings um Jerusalem und entlang des Jordan gehören würde. Das israelische Fernsehen zeigte kürzlich einen Wortwechsel zwischen Rabin und einem Palästinenser in Gaza, der rief, daß unschuldige Kinder, auch seine eigenen, von den Soldaten brutal geschlagen würden – »so kann es nicht weitergehen, was sollen wir tun, was sollen wir tun?« Darauf erwiderte Rabin: »Sprechen Sie mit Hussein! Sprechen Sie mit den Syrern! Dann setzen wir uns alle an einen Tisch und finden eine gute Lösung!« Der Palästinenser guckte sehr verdutzt ob dieser Empfehlung, während Rabin, umringt von Leibwächtern, Adjutanten, Kameraleuten und Tontechnikern, wieder wegfuhr. Ein Palästinenser, der am selben Tag in Nablus interviewt wurde, meinte: »Die Israelis haben bessere Führer verdient – und die Palästinenser auch.«

Schamir hatte ein paar Tage zuvor gesagt, daß es vor allem darauf ankomme, in den Herzen der Palästinenser wieder die Angst zu wecken. Ein anderer Minister der Arbeitspartei, ein bekannter Hardliner, soll erklärt haben, daß der wahre Grund für die Krise die Euphorie der Palästinenser sei. »Bevor wir etwas erreichen wollen, müssen wir erst dieses unverschämte Grinsen von ihren Lippen beseitigen.«

Nirgends ist das Ende des Status quo so schmerzhaft und so dramatisch wie in Jerusalem. Einundzwanzig Jahre nach der »Wiedervereinigung« (der hübsche Euphemismus für die Eroberung Ostjerusalems durch israelische Soldaten im Sechs-Tage-Krieg) ist Jerusalem in gewissem Sinne wieder geteilt. Die Stadt war natürlich nie so vereint, wie immer behauptet wurde. Palästinenser und Israelis lebten und arbeiteten nach wie vor getrennt voneinander, in ihren eigenen Vierteln, als wäre die Stadt noch immer durch Minenfelder und Stacheldraht geteilt, mit zwei verschiedenen Zentren, zwei Geschäftsvierteln, zwei öffentlichen Busbetrieben, zwei Elektrizitätsgesellschaften.

Welche Formen des Miteinander sich auch entwickelt haben mochten, sie fanden ein Ende, als sich die palästinensische Bevölkerung von Ostjerusalem im Dezember dem Aufstand anschloß. Es gibt heute, wie m Belfast, faktisch »Sperrgebiete« in Jerusalem. Araber weigern sich, die jüdischen Viertel zu betreten, und die meisten Israelis wagen es nicht, die arabischen Viertel zu betreten. Ein privater Sicherheitsdienst in Westjerusalem bietet Geschäftsleuten und anderen Interessenten »sichere« Fahrten nach Ostjerusalem und in die besetzten Gebiete in besonders ausgerüsteten Autos mit bewaffneter Eskorte an. Der Geschäftsstreik in Ostjerusalem, im Dezember von einem geheimen Koordinationskomitee auf Flugblättern verkündet, wird seit mehr als zwei Monaten streng befolgt – länger als irgendwo auf der West Bank oder im Gazastreifen, trotz drastischer Gegenmaßnahmen seitens der Behörden. In der Vergangenheit haben christliche Araber aus Jerusalem selten an palästinensischen Protesten teilgenommen; die Vertreter christlicher Gemeinden waren bekannt für ihre guten persönlichen Beziehungen und ihre Zusammenarbeit mit Bürgermeister Teddy Kollek. Doch inzwischen identifizieren sich arabische Christen ganz offen mit dem Aufstand. Die Oberhäupter der christlichen Konfessionen in Jerusalem gaben kürzlich eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie ihre Gemeinden aufriefen, den Kampf der Palästinenser zu unterstützen.

Ostjerusalem, einschließlich des größten Teils der Altstadt, ist heutzutage eine Geisterstadt. Schwerbewaffnete Soldaten patrouillieren durch menschenleere Straßen. Manche Viertel wirken wie Kriegszonen. Die Autos von Journalisten sind, ganz wie in Nicaragua oder Honduras, deutlich mit der Aufschrift „Presse“ oder „Television“ gekennzeichnet. Um nicht von den eigenen Leuten mit Steinen beworfen zu werden, schlingen sich die palästinensischen Fahrer weithin sichtbar Kefiyehs um den Hals. Über einige unruhige Viertel (el-Tur auf dem Ölberg und Anatha, das biblische Anathot, Geburtsort des Propheten Jeremia) ist Ausgangssperre verhängt worden (die es in Jerusalem seit 1967 nicht mehr gegeben hat). Im Dezember wurden alle Schulen in Ostjerusalem behördlich geschlossen, und bis heute findet kein Unterricht statt. Als Tausende von palästinensischen Jerusalemern in einem Akt kollektiven Protestes ihre israelischen Ausweise zerrissen, verfügte der Sozialminister, daß ihre Renten nicht mehr automatisch überwiesen würden. Arabische Leistungsempfänger müssen sich nunmehr allmonatlich melden und nachweisen, daß sie im Besitz eines Personalausweises sind. Israelische Busse und Autos werden weiterhin fast täglich mit Steinen oder Brandsätzen beworfen, wenn sie arabische Viertel passieren. Obwohl man die Westmauer auf einem Umweg erreichen kann, liegt der große Platz vor der Mauer, der vor den Unruhen täglich Tausende von Besuchern angezogen hat, in den letzten Wochen fast verwaist da.

Dreizehn Wochen nach dem Beginn des Aufstands ist Israel ein anderes Land geworden. Streitpunkte, die die meisten Menschen noch fünf oder zehn Jahre glaubten aufschieben zu können, stellen sich plötzlich mit einer beispiellosen Dringlichkeit. Das Zeitgefühl hat sich radikal geändert – durch die Steinewerfer und durch den Vorstoß von US-Außenminister Shultz. Shultz ergriff im letzten Monat die Initiative, nachdem Reagan seine stille Unterstützung für die Likud-Politik des »Haltet – euch – raus – Israel – weiß – selbst – am – besten – was- gut – für – das -Land-ist« überraschenderweise aufgegeben hatte und sich für ein Projekt aussprach, das noch bis vor kurzem quasi undenkbar war – nämlich eine internationale Friedenskonferenz unter Beteiligung der fünf ständigen Mitglieder des US-Sicherheitsrates und »der am arabisch-israelischen Konflikt beteiligten Parteien«. (Eine neue Formel: Sie schließt die PLO nicht aus, sofern sie die UN-Resolutionen Nr. 242 und 338 akzeptiert und sich von Gewalt und Terrorismus lossagt.)

Die Shultzsche Initiative hat bislang zwar keine Ergebnisse gezeitigt, aber sie scheint doch eine eigene Dynamik zu entfalten, die, wie israelische Beobachter warnen, zum Teil auch hoffen, in nicht allzu ferner Zukunft zu einem gewissermaßen diktierten Abkommen führen könnte. Außenminister Shultz, stets leise, ohne die Allüren Kissingers, scheint, beinahe unwillig, sehr viel weiter in Richtung auf Friedensverhandlungen gegangen zu sein, als irgend jemand erwartet hätte. Binnen weniger Wochen intensiver Diplomatie hat er eine an einen straffen Zeitplan geknüpfte Verhandlungsformel entwickelt, die bisher niemand abzulehnen gewagt hat, wenngleich König Hussein das eine oder andere geändert sehen möchte und Ministerpräsident Schamir deutlich erklärt, daß ihm das meiste überhaupt nicht gefällt. Was hier gespielt wird, hat der Londoner Economist als ein Fahrradrennen bezeichnet, bei dem es darauf ankommt, möglichst langsam in die Pedale zu treten, ohne dabei umzukippen, in der Hoffnung, daß die anderen Konkurrenten als erste das Gleichgewicht verlieren. Noch ist es möglich, daß niemand umfällt. Nur Arafat sitzt noch immer nicht auf seinem Fahrrad — er hat bislang als einziger den Shultz-Plan abgelehnt. (Arafat hat sich günstige Gelegenheiten, nein zu sagen, nie entgehen lassen.) Der ägyptische Präsident Mubarak hat den Shultz-Plan begrüßt, König Hussein von Jordanien sieht »viele positive Elemente« darin. Schimon Peres hat ihn rückhaltlos begrüßt. Selbst Schamir hat bei seinem jüngsten Besuch in Washington, wohin er gefahren war, um von Reagan Näheres zu erfahren und nebenbei seine Wahlkampagne einzuleiten, sorgfältig vermieden, »nein« zu sagen. Und selbst eine eindeutige Ablehnung von Schamir müßte nicht das letzte Wort sein. Israels Position in Washington ist nicht mehr die, die sie einmal war. Sie dürfte nach den Präsidentschaftswahlen in den USA vermutlich noch heikler werden.

Der Shultz-Plan ist der fünfte Versuch der Amerikaner seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, Frieden im Nahen Osten zu stiften. Zwei Initiativen waren erfolgreich (Henry Kissingers Plan von 1975 und Jimmy Carters Initiative von 1978 — beide führten zum ägyptisch-israelischen Friedensvertrag von 1979). Zwei Initiativen sind gescheitert (der Rogers-Plan von 1970 und Reagans Initiative 1982); beide sahen erhebliche territoriale Zugeständnisse der Israelis vor. Beide wurden, auf Betreiben Israels, schon in einem sehr frühen Stadium durch die einflußreiche jüdische Lobby in Washington zu Fall gebracht.

Der Shultz-Plan ist die erste US-Friedensinitiative im Nahen Osten, die von Anfang an von wichtigen Mitgliedern und Organisationen der amerikanischen Juden unterstützt wurde. Früher agierten diese Organisationen oft als pro-israelische Lobby in Amerika, doch in den letzten Wochen sind einige der wichtigsten von ihnen in Jerusalem als pro-amerikanische pressure group aufgetreten und haben Schamir gebeten, den Shultz-Plan anzunehmen, ihn gedrängt, sich auf den Handel Land gegen Frieden einzulassen. Selbst Morris Abram soll – namens der Präsidenten von rund vierzig jüdischen Organisationen in den USA – Israel zwar öffentlich in Schutz genommen, Schamir im privaten Gespräch aber darauf hingewiesen haben, dass sich die Stimmung in den USA gegen Israel wendet.

Unterdessen geht der Aufstand in den besetzten Gebieten weiter, und die Spirale von Aufruhr und Unterdrückung lässt beide Seiten zu immer härteren Maßnahmen greifen. Die Führer des Aufstands, wer immer sie sind, versuchen, die Bewegung zu intensivieren. Sie haben erreicht, daß Polizisten und Angestellte der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten massenhaft ihre Stelle kündigten – mit chaotischen Folgen. Und die israelischen Behörden antworteten mit immer drastischeren und immer willkürlicheren Strafmaßnahmen: Ganze Dörfer sind von Stromversorgung und Telefonverbindungen abgeschnitten, und der Reiseverkehr zwischen der West Bank und dem Gazastreifen ist eingestellt. Beide Seiten gießen fortwährend Öl in das Feuer der Empörung. In diesem Kampf zwischen Ungleichen werden nach Ansicht der meisten Beobachter zuerst die Palästinenser aufgeben, doch das kann noch lange dauern und noch viele Menschenleben kosten. Je härter die Repressalien, zu denen Israel in den besetzten Gebieten greift, desto mehr schadet das auch dem Ansehen Israels. Inzwischen sollen schon die israelischen Exporte in EG-Länder gefährdet sein.

Die Kluft zwischen Peres und Schamir ist noch größer geworden, nachdem bekannt wurde, dass Shamir in Washington (vergeblich) versucht hat, Reagan und Shultz von ihrer Initiative abzubringen. Schamir und Peres werden die Koalitionsregierung vermutlich jeden Moment sprengen und Neuwahlen zu fordern. Da bis zu regulären Wahlen ohnehin nur noch wenige Monate sind, spielen in beider Überlegungen eher politische Kalkulationen als staatsmännisches Denken eine Rolle, wie auch in den Köpfen ihrer Verbündeten und Rivalen in der jeweils eigenen Partei.

Nach Schamirs Besuch in Washington sprachen seine Anhänger stolz von seinen Erfolgen dort. Obwohl er sich Shultz und Reagan widersetzt habe, sei die Beziehung zwischen den beiden Ländern so eng wie ehedem. Peres entgegnete darauf daß Israel nicht mit der US-Regierung Probleme habe, sondern mit der amerikanischen Öffentlichkeit und mit den amerikanischen Juden. Peres, der seit seinem Geheimtreffen mit König Hussein in London im April letzten Jahres für eine internationale Konferenz eintritt, meinte, daß Schamirs Obstruktionspolitik Israel ein Jahr gekostet habe. Hätte die internationale Konferenz schon im letzten Jahr stattgefunden, wäre der Aufstand vielleicht nicht ausgebrochen.

Überdies, klagte Peres, seien die von Shultz vorgeschlagenen Bedingungen mit ihrem straffen Zeitplan härter als diejenigen, über die er sich mit Hussein im vergangenen April verständigt habe. Es könnte durchaus sein, daß Peres heimlich für eine von den Großmächten erzwungene Lösung betet. Anfang März erklärte er auf einer geschlossenen Versammlung, daß eine gewisse Ähnlichkeit zwischen 1988 und 1948 bestehe – dem Jahr der Gründung Israels. In der gespannten Stille, die dann eintrat, fügte er hinzu, daß sich 1988, wie schon 1948 „Israels Schiksal entscheiden wird“.

Erste Auflage der Nachrichten aus Jerusalem.