Ein Denkmal der Immigrationsgeschichte

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Wir schreiben den 29. März 1915. Es ist kurz nach Sonnenaufgang. Vom wärmenden Licht der Sonne ist jedoch weder etwas zu spüren noch zu sehen. Der Frühling hat den Winter noch nicht aus der Stadt vertrieben. Die Metropole am Hudson-River erwacht. Ein heftiger Nordwest-Wind peitscht den mit Schnee vermischten Regen an die Fensterscheiben. In der ersten Etage des Hauses in der Orchard Street 97, einem im Jahre 1863 errichtetem Mietshaus, bereitet sich die Familie Rogarshevsky auf einen neuen Tag vor. Es ist ein besonderer Tag; heute Abend beginnt mit dem Seder das Pessachfest…

Von Jim G. Tobias

Diese Reise in die Vergangenheit beginnt täglich ab 11.00 Uhr im „Lower East Side Tenement Museum“, Orchard St. 97 in New York City. Der Besucher wird direkt in die vergangene Welt des klassischen Einwandererviertels im südöstlichen Zipfel Manhattans geführt und kann somit die Geschichte der großen Immigrationswellen des 19. und 20. Jahrhunderts hautnah nacherleben.

Doch zurück in die Wohnung der Rogarshevky. An diesem kalten Märztag wirft Bessie einen Vierteldollar in die Gasuhr ein, um für die nächsten Tage ein wenig Licht in ihrer Wohnung zu haben. Die beiden jüngeren Brüder legen das Bettzeug zusammen. Henry und Phil schliefen auf der mit zwei Stühlen verlängerten Couch. Clara Kaplan, die als Kostgängerin bei der Familie wohnt, macht sich daran, die letzten Brotkrümmel zusammenzufegen. Alles gesäuerte Brot wird sie dann den Straßenkindern geben, die den „chumetz” für ein paar Cent verbrennen werden.

Vor vierzehn Jahren waren Abraham und seine Frau Fanni mit ihren vier älteren Kindern aus Russland emigriert. Henry und Phil sind bereits in den USA geboren. Doch nicht nur die achtköpfige jüdische Familie lebte in einem dieser unzähligen Tenement-Houses, auf engstem Raum, in zwei kleinen Zimmern. Auch Immigranten wie Adolfo Baldizzi aus Sizilien oder Julius Gumpertz aus Preußen fanden mit ihren Frauen und Kindern hier ein neues Zuhause. Neubürger aus fast allen europäischen Ländern bevölkerten die Lower-East-Side. Die einzelnen Traditionen und Bräuche vermischten sich zu einem multikulturellen Miteinander.

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Als Postkarte erhältlich: Das Appartement der Familie Baldizzi um 1930
© Foto: Tenement Museum

Bereits kurz nach Fertigstellung des Gebäudes hatte Johann Schneider im Basement ein bayerisches Wirtshaus eröffnet. Bratwürste und Sauerkraut nebst kräftigem dunklem Bier wurden hier serviert. Schneiders Saloon war zudem ein beliebter Treffpunkt für die vielen Emigranten aus Russland, Irland, Deutschland und Italien. Hier konnte man sich austauschen, erbitterte politische Diskussionen in der Muttersprache führen, oder sich die neueste Ausgabe einer der vielen Emigrantenblätter, wie beispielsweise die deutschsprachige „New-Yorker-Staats-Zeitung“ oder den jiddischen „Forverts“ besorgen.

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Jüdischer Club am East Broadway, © jgt-archiv

Das Anwesen in der Orchard Street war für 20 Familien ausgewiesen. Auf fünf Etagen befanden sich jeweils vier Appartements: zwei nach vorne und zwei nach hinten. Jede dieser Wohnungen hatte drei Zimmer, wobei der größte Raum cirka 20 qm maß. Hinter diesem „Livingroom“ schlossen sich die Küche und ein winziges Schlafzimmer an. Lediglich der sogenannte „Frontroom“ verfügte über ein direktes Fenster, durch das ein wenig Tageslicht und Frischluft in die finsteren Gemächer hereinkam. Oft lebten in diesen Appartements über zehn Personen, so dass sich bis zu 200 Menschen in diesem Gebäude drängten. Für viele der Mieter war der Wohnraum gleichzeitig auch noch Arbeitsstätte. Frauen und Kinder verrichteten in dieser unvorstellbaren Enge die unterschiedlichsten Heimarbeiten, um zum Überleben der Familie beizutragen. Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse spotteten jeder Beschreibung. Erst 1867 erließ die Stadt New York eine Vorschrift, dass für jeweils 20 Personen ein Klosett einzurichten sei. Die „stillen Örtchen“ befanden sich in einfachen – über Sickergruben errichteten – Hölzhäuschen im Hinterhof. Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis die Tenement-Bewohner fließendes Wasser und Toiletten im Haus bekommen sollten.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts lebten über 50 Prozent der Einwohner New Yorks in diesen Mietskasernen. Es war die einzige Möglichkeit, die große Anzahl der Einwanderer unterzubringen. In einem städtischen Report aus dieser Zeit wird berichtet, dass bis zu einer Viertel Million Menschen auf einer Quadratmeile lebten. Nirgendwo in der westlichen Welt gab es eine solche Bevölkerungsdichte.

Bis 1988 stand das Haus in der Orchard Street 97 leer und verfiel zusehends. Seit 1992 steht das ehemalige Mietshaus als „National Historic Side“, das zwischen 1863 und 1935 etwa 7.000 Personen ein Dach über dem Kopf bot, unter Denkmalschutz. Nur mit umfangreichen Sanierungsarbeiten konnte das von dem Deutschen Lucas Glockner errichtete Gebäude für die Nachwelt erhalten werden. Viele private Spenden und Zuwendungen von Stiftungen machten es möglich, dass das komplett renovierte Haus und vier mit historischer Einrichtung versehenen Appartements nun für Besichtigungstouren zur Verfügung stehen.

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Die Führung in die Vergangenheit beginnt täglich ab 11.00 im Haus Orchard Street 97, © jgt-archiv

Das historische Gebäude steht stellvertretend für die vielen Mietskasernen, die für einen Großteil der europäischen Einwanderer zum ersten Zuhause in der Neuen Welt wurde. Für manche zerplatzte in der drangvollen Enge der Wohnsilos der „american dream” allerdings wie eine Seifenblase. Doch für viele Immigranten begann hier ein Leben in Freiheit und einige realisierten sogar ihre Träume und machten ihr Glück.

Auch heute, einundeinhalb Jahrhunderte nach der ersten großen Einwanderungswelle, ist Manhattans Lower East Side immer noch ein multikultureller Schmelztiegel, obwohl sich vieles geändert hat. Die ehemaligen Synagogen sind zu buddhistischen Tempeln umgebaut. Die Besitzer der unzähligen kleinen Einzelhandelsgeschäfte stammen nun nicht mehr aus Italien, Deutschland oder Russland, sondern erblickten in Thailand, Vietnam oder China das Licht der Welt.

Lower East Side Tenement Museum, New York City, 97 Orchard Street
Museum Shop, 108 Orchard Street, Phone 212-982-8420
http://www.tenement.org
Öffnungszeiten: täglich von 11.00 – 17.00 Uhr