Die Ersten kamen 1788

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Jüdisches Leben in „Down Under“: Ein Besuch im Sydney Jewish Museum …

Von Jim G. Tobias

Sydney, die heimliche Hauptstadt Australiens sprüht vor Dynamik und Lebenslust. Die multikulturelle Metropole von „Down Under“ – tief unter dem Äquator – entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten zu einer liberalen, kosmopolitischen Weltstadt. Hier leben etwa ein Fünftel der über 20 Millionen Australier. Auch ein Großteil der etwa 100.000 australischen Juden hat sich in der „schönsten Stadt der Welt“ niedergelassen. Wer in Sydney auf jüdischen Spuren wandeln will, sollte keinesfalls versäumen, einen Abstecher in das Sydney Jewish Museum einzuplanen.

Das 1992 eröffnete Haus ist neben einer Erinnerungsstätte an die Shoah auch ein Ort, an dem die Emigration der europäischen Juden auf den fünften Kontinent umfassend dargestellt wird. Hier wird Geschichte aus erster Hand geboten. Etwa neunzig Männer und Frauen arbeiten in ihrer Freizeit unentgeltlich als Museumsführer und begleiten den Gast durch die Ausstellung. Alex ist einer von Ihnen. Der heute 91-jährige gebürtige Pole gehört zu den vielen jüdischen Einwanderern die sich zwischen 1933 und den frühen 1950er Jahren auf den Weg nach Australien machten. In dieser Zeit verdoppelte sich die Anzahl der australischen Juden von etwa 24.000 auf 49.000 Menschen. „In den dreißiger Jahren waren es hauptsächlich österreichische und deutsche Juden, die auf der Flucht vor den Nazis eine neue Heimat suchten“, erklärt Alex, der 1918 als Sandel Fersztenfeld im polnischen Bendzin das Licht der Welt erblickte.

Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine neue Einwanderungswelle. In den deutschen Displaced-Persons-Camps warteten tausende Überlebende der Shoah auf ihre Ausreise. Etwa 17.000 davon, zumeist osteuropäische Juden, immigrierten nach Australien. Auch Alex Ferson verbrachte, nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald, einige Zeit in diesen Camps. Vom DP-Lager Feldafing verließ er, nach einer Zwischenstation in Frankreich, Europa in Richtung Australien: Am 15. September 1948 ging er in Marseille an Bord der SS Napoli.

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Marseille 1948: Jüdische DPs warten auf Ihre Überfahrt nach Australien (Alex Ferson 2. v. r.)
© jgt-archiv

Lena Goldstein erreichte nach einer 8-wöchigen Seereise im März 1949 den Hafen von Sydney. Sie hatte das Warschauer Ghetto überlebt. Aufgrund pogromartiger Ausschreitungen in Polen flüchtete Lena 1946 nach Deutschland, in die Sicherheit der US-Besatzungszone. Nach einer jahrelangen Odyssee durch verschiedene DP-Lager bestieg die damals 30-Jährige im Januar 1949 im italienischen Genua die SS Continental; im März erreichte sie endlich die neue Heimat.

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Lena Goldstein an Bord der „SS Continental“, © jgt-archiv

Die ersten australischen Juden hatten sich aber lange vor Alex und Lena im Jahre 1788 auf dem fünften Kontinent niedergelassen. Nach monatelanger beschwerlicher Schiffsfahrt erreichten die Siedler die Region um das heutige Sydney. Zu ihnen gehörte auch Esther Abrahams. Sie war gerade 15 Jahre. Für den Diebstahl einiger geklöppelter Spitzen wurde sie zu sieben Jahren Verbannung verurteilt. Fast 1.000 Engländer jüdischen Glaubens mussten zwischen 1788 und 1852 die Reise in die Strafkolonie am Ende der Welt antreten. Nur wenige von ihnen waren wirkliche Kriminelle, die meisten hatten sich lediglich, wie Esther, kleinerer Eigentumsdelikte schuldig gemacht. Doch die englische Justiz war unerbittlich. Schon für den Diebstahl einer Taschenuhr lautete das Urteil „lebenslängliche Verbannung“.

Die Reproduktion einer Häftlings-Liste aus der Zeit um 1830 dokumentiert 150 Namen von zur Umsiedlung verurteilter englischer Juden. Der 16-jährige Abraham Reuben erhielt beispielsweise sieben Jahre Verbannung wegen Taschendiebstahls. Salomon Polack raubte fünfzig Yards Baumwollstoff und wurde zu „lebenslänglich“ Australien verurteilt.

Es dauerte nicht lange bis auch die ersten freien Siedler nach „Down Under“ kamen. Nach und nach gab die britische Kolonialverwaltung den Verbannten ihre Bürgerrechte zurück und so konnten sich die ehemaligen Häftlinge mit den freien Pionieren zusammenschließen. 1837 errichtete die jüdische Gemeinde von Sydney ihre erste Synagoge in der Bridge Street. Nur wenige Jahre später wurde mit Beth Israel ein weiteres Gotteshaus eingeweiht. Zwischen 1850 und 1880 lockte der große Goldrausch zahlreiche Abenteurer nach Australien. Unter Ihnen waren auch viele Juden aus dem deutschen Sprachraum.

Ähnlich wie in den USA registrierten die australischen Einwanderungsbehörden um die Jahrhundertwende einen großen Zuzug von osteuropäischen Juden. Mit der Darstellung der letzten jüdischen Zuwanderer im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – zumeist aus der Sowjetunion – beschließt die Abteilung „Australian Jewish History“ die über 220 Jahre umfassende jüdische Geschichte Australiens.

Das Sydney Jewish Museum informiert ausführlich über Kultur und Geschichte der australischen Juden, wie die im November 2008 eröffnete neueste Ausstellung „Culture and Continuity: Journey through Judaism“ nochmals eindrücklich belegt. Das Haus will nicht nur als Holocaust-Museum verstanden werden, wenngleich die Darstellung dieses Kapitels breiten Raum einnimmt. Für die freiwilligen Mitarbeiter – viele von ihnen sind Überlebende der Shoah – ist diese Gewichtung selbstverständlich. Noch zum Beginn der 1990er Jahre waren etwa ein Viertel der australischen Juden Überlebende der Shoah. Für Lena und Alex steht fest: Nur durch die Zuwanderung der vielen Flüchtlinge hat sich ein lebendiges und vielfältiges jüdisches Leben in „Down Under“ entwickelt. Dieser historischen Tatsache und die Erinnerung an die sechs Millionen ermordeten Juden sollen deshalb auch in der Dauerausstellung zum Ausdruck kommen.

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Jewish Sydney Museum, © jgt-archiv

Wer sein Wissen über das australische Judentum noch vertiefen möchte, dem stehen in der Bibliothek ca. 3.000 Medien zur Verfügung. Seit kurzem sind auch über 2.000 Zeitzeugeninterviews aus dem Bestand der „Shoah Foundation – Institute for Visual History and Education“ für die Forschung und zum Einsatz im Bildungsbereich vorhanden. Im gut sortierten Museumsshop wird dem Besucher eine große Palette von ausgewählter Literatur und Judaica neben kunsthandwerklichen Souvenirs angeboten. Auch für das leibliche Wohl ist gesorgt. In der koscheren Cafeteria werden frisch zubereitete traditionelle jüdische Gerichte und „contemporary jewish cuisine“ angeboten.

Das Sydney Jewish Museum hat Sonntag bis Donnerstag von 10 bis 16 Uhr und Freitag von 10 bis 14 Uhr geöffnet. Samstag und an jüdischen Feiertagen bleibt das Museum geschlossen.
Sydney Jewish Museum, 148 Darlinghurst Road, Darlinghurst NSW 2010, Australia
Email: admin(at)sjm.com.au, http://www.sydneyjewishmuseum.com.au

Der Autor erforscht z. Z. die Emigration jüdischer Displaced Persons nach Australien, weitere Informationen auf den Seiten des Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Tipp:
Dokumentarfilm: „Destination: Sydney“ von Autor Jim G. Tobias
3. Mai 2009, um 19.00 und 21. Uhr
auf der Frequenz von Franken-TV (DVB-T, Kabel, Satellit oder im Internet als Live-Stream)