Unterwegs in die Freiheit

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Alle jüdischen Feiertage haben ihre eigenen assoziativen Bilder, Gerüche, Geräusche. Wenn man an Purim denkt, wird einem froh zumute, man hört unzählige Kinderstimmen und sieht lächelnde bemalte Gesichter. Beim Gedanken an Pesach rieche ich Chlorreinigungsmittel und sehe weiße Tischlaken, Mazza und Eier. Warum wir dem schrecklichen Reinigungsfeiertag doch noch etwas abgewinnen können, verrät uns die Kabbalah…

Von Maria Shayovich

Wir alle kennen die Geschichte vom Auszug aus Ägypten. Der böse Antisemit Pharao quält die unbequem gewordenen Israeliten. Mosche, der da irgendwo in einem Weidenkorb aus dem Nil gefischt wurde, wird beim bösen Pharao täglich vorstellig und fordert ihn auf, sein Volk endlich, endlich laufen zu lassen. Da Pharao nicht einlenkt, straft der grausame Gott der Israeliten, Mosche’s bester Kumpel, die bösen Ägypter mit zehn Plagen, und dem Volk Israel gelingt in einer dramatischen Nacht die Flucht.

In Wirklichkeit geht die Geschichte viel tiefer. Denn nicht umsonst ist Pessach der unbestritten größte kabbalistische Feiertag; sein Kerngedanke ist in der Kabbalah auch über das gesamte Jahr präsent. Überhaupt stellen kabbalistische Feiertage in der Kabbalah Stufen der inneren Entwicklung eines Menschen, Stadien des „spirituellen Jahres“ dar.

Nicht nur das: alles, aber auch alles, was die Thora schildert, von Noah’s spektakulärer Arche bis zur Eroberung Israels, sind über historische Ereignisse hinaus innige Vorgänge, die sich in einem einzelnen Menschen abspielen. Die ganze Thora ist im Menschen gefangen: sie spiegelt seinen inneren Kampf wieder, den Kampft zwischen der Übermacht seiner Selbstliebe und den tief verborgenen Wunsch nach Mehr, nach Liebe, nach einer wahren Verbindung mit anderen Menschen und mit der Quelle alles Seins.

Was spielt sich also hinter der Kulisse der dramatischen Pessach-Geschichte ab?

Der neue Pharao, der sich in Ägypten erhebt, ist unser Ego. Und unter seinen Fittichen, „in seinem Haus“, wächst auch jemand oder etwas heran, das da nicht reingehört: Mosche, der sogenannte Punkt im Herzen, der Mensch in uns, die Verbindung zu etwas Höherem.

Nachdem Mosche im Zorn einen Ägypter erschlägt, oder kabbalistisch gesehen: dem übermächtigen Ego einen Wunsch verwehrt, den Genuss tötet, muss er fliehen. Doch er muss auch zurückkommen, denn die Flucht ändert nichts an der Situation: er muss es schaffen, sich über dem Ego zu erheben, es zu besiegen; und dazu muss er zurückkommen, und er muss sich mit anderen Seelen aus seinem Volk verbinden.

So kehrt er also zurück. Mit der verheerenden Kraft der zehn Plagen wird Pharao’s Ägypten erstickt und erdrosselt: die letzte Plage, das Sterben der Erstgeborenen, zeigt, dass unser Egoismus nur Tod hervorrufen kann: nichts, was er gebärt, kann überleben. Mitten in der Nacht, in der finstersten Stunde, wird dem Punkt im Herzen die Kraft verliehen, sich zu befreien.

Keine Sekunde darf gezögert werden: im selben Augenblick muss Israel (also das Verlangen des Menschen Jaschar-Kel, direkt zum Schöpfer) sich befreien, denn sogar der reinste Teig wird nach einer kurzen Zeit zu Chamez, er säuert: das bedeutet, dass unser Ego sich unserer reinsten Gefühle bedienen kann, wenn wir ihm nur Zeit lassen: und wenn wir ganz tief in unsere Herzen schauen könnten, würden wir sehen, wie viel Macht es hat.

Die Israeliten ergreifen die Gefäße (in der Kabbalah sind Gefäße Wünsche) der Ägypter und fliehen mit ihnen in der finsteren Nacht. Durch ein Wunder (Wunder sind kabbalistisch erklärt Geschehen, die einer höheren Gesetzmäßigkeit unterstehen) schaffen sie es, das Schilfmeer zu durchkreuzen, wobei die Ägypter sie ständig verfolgen – das Ego, das dem Punkt im Herzen ständig auf den Fersen ist.

Auf dem Gang durch die Wüste wollen sie immer wieder nach Ägypten umkehren, „wo wir bei den Fleischtöpfen saßen“, wo das Ego immer genug Nahrung hatte. Schließlich schaffen sie doch die innere Befreiung: in einem Akt selbstloser Liebe und Brüderlichkeit vereinigen sie sich zu einer einziger Seele und werden „wie ein Mann mit einem Herzen“ der Offenbarung würdig.

Jedes Jahr heißt es an Pesach, man solle sich fühlen, als wäre man gerade heute aus dem Agypten herausgezogen. In diesem Jahr sollten wir uns wohl eher fragen, bei welcher der Plagen wir gerade angekommen sind. Nachdem 2007 das Jahr der Naturkatastrophen war, war 2008 und wird 2009 das Jahr einer Weltwirtschafts- und Gesellschaftskrise, von der immer mehr Spezialisten sagen, sie sei das endgültige Ende der Marktwirtschaft. Das Ende der Ich-Gesellschaft, wo jeder sein Süppchen kocht und sich über nichts und niemanden schert, und mögen auch alle untergehen, Hauptsache mir geht es gut.

Die kabbalistische Botschaft ist allerdings gar nicht so negativ wie sie zu sein scheint: wenn wir uns nicht vereinigen, es nicht lernen, einander über alle Unterschiede hinweg mehr als uns selbst zu lieben, wird es uns zugegebenermaßen so gehen, wie den Ägyptern: schlecht. Sehr schlecht. Denn dieser grausame Gott der Thora ist das gütige Gesetz der Natur, dem wir durch unseren exponentiell wachsenden Egoismus extrem entgegengesetzt sind und das uns daher erbarmungslos zwingt, uns miteinander zu verbinden, um es in unserer Mitte, zwischen uns zu enthüllen.

Und wenn wir es schaffen, dann steht uns der Himmel offen. Dann wird das Leben auf eine ganz neue Stufe treten. Wir werden alle Sorgen hinter uns lassen, und wie Baal Sulam, der größte Kabbalist des vergangenen Jahrhunderts schreibt, wird sich der Einzelne um nichts mehr sorgen müssen: „denn 600.000 Liebende werden um ihn herum stehen“, und nur darauf warten, seine Wünsche und Bedürfnisse erfüllen zu können.