Das Beispiel Daimler-Benz

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Volkswirtschaftliche Größen haben eine Dimension, die den meisten Menschen nicht recht fassbar ist. Daher sei anhand eines einzigen Beispiels illustriert, wie Lohnraub auf der betriebswirtschaftlichen Ebene der Firmen zu berechnen ist – und auch bezahlbar gewesen wäre…
Aus den Akten des Flick-Konzerns, nämlich den für 1941-1943 überlieferten Bruttolohnkalkulationen, ist zu ersehen, dass der „deutsche Stammarbeiter“ den Konzern damals 2.842,20 RM pro Jahr kostete. Zwangsarbeiter dagegen kosteten den Konzern 1899,84 RM pro Jahr – also 942,36 RM weniger. Grob gerechnet, kosteten drei Zwangsarbeiter so viel wie zwei „deutsche Stammarbeiter“. Hielt jemand die Tortur der Zwangsarbeit fünf Jahre lang durch, so sparte der Konzern allein an dieser einen Person 4711,80 RM an Lohnkosten ein.

Aus den Akten ist nicht zu ersehen, wie viele Zwangsarbeitskräfte Flick insgesamt beschäftigt hat. Aber in einer von Daimler Benz selbst veranlagten und 1994 veröffentlichten Studie über die in diesem Konzern geleistete Zwangsarbeit sind wenigstens Daten über die Zahl der bei Daimler-Benz Beschäftigten enthalten (dagegen keine einzige Angabe zu gezahlten oder gar vorenthaltenen Löhnen). Im Durchschnitt der Jahre 1940 1944 hatte Daimler-Benz, das damals ein Teil des Flick-Konzerns war, knapp 70.000 Beschäftigte, davon über 45.000 Deutsche und Österreicher. Der „Rest“, knapp 24.000, waren KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und zivile Ausländer, sog. „Fremdarbeiter“.

Wenn nun durch den „Einsatz“ einer Zwangsarbeitskraft in fünf Jahren rund 4.700 RM eingespart werden konnten – wieviel hat der Konzern dann durch den „Einsatz“ von knapp 24.000 Zwangsarbeitskräften in fünf Jahren eingespart? Hundert Millionen – präziser 111,826 Millionen RM.

Das ist aber nur die eine Seite. Was die Firma eine Arbeitskraft brutto kostet, ist ja nicht das, was diese Arbeitskraft netto auf die Hand bekommt. Es gehen Beiträge für die Versicherung und die Lohnsteuer ab. Damals waren das für die westeuropäischen Zivilarbeitskräfte etwa 15 Prozent, (für die polnischen gab es zudem eine sog. Sozialausgleichsabgabe, so dass sie insgesamt 30 Prozent zu zahlen hatten, und für die sowjetischen eine sog. Ostarbeiterabgabe in Höhe von etwa 45 Prozent. Das floss alles in die Taschen der Versicherungskonzerne und in die Staatskasse.

Natürlich, Steuern und Beiträge mussten auch die deutschen Zivilarbeitskräfte zahlen, aber die hatten wenigstens teilweise etwas davon: Erstens bekamen sie damals Krankengeld, zweitens bekommen sie heute Rente, und drittens haben sie damals mit ihren Steuergroschen den Krieg eines von ihnen größtenteils gewollten und gestützten Regimes mitfinanziert. Die sog. Fremdarbeiter dagegen erhielten zumeist keinerlei Krankengeld, bekommen heute in den seltensten Fällen eine Rente und wurden durch die damaligen Steuerverordnungen faktisch gezwungen, den Krieg gegen ihre Heimatländer mitzufinanzieren.

Angenommen, den Zwangsarbeitskräften wurden von ihrem Bruttolohn (1899,84 KM pro Jahr) im Schnitt 25 % an überhöhten Steuern und Abgaben abgezogen, so reduzierte sich ihr Jahresnettolohn um rund 475 RM auf 1424,88 RM. Auf fünf Jahre gerechnet, kostete diese Reduktion die Zwangsarbeitskräfte weitere 2.374,80 RM pro Kopf, auf die Gesamtzahl der Zwangsarbeitskräfte bei Daimler-Benz gerechnet 56,362 Millionen KM.

Der den Zwangsarbeitskräften vorenthaltene Geldbetrag summiert sich somit auf 1417,32 RM pro Jahr, davon zwei Drittel (942,36 RM) aus Unterzahlung an Bruttolohn und ein Drittel (474,96 RM) aus Überzahlung an Steuern und Abgaben. Das waren in fünf Arbeitsjahren 7.086,60 KM pro Kopf, d.h. insgesamt während des Krieges 168,188 Millionen RM. Davon hat Daimler-Benz zwei Drittel eingesteckt, ein Drittel ist in den Taschen der Versicherungskonzerne und in der Staatskasse gelandet.

Aber die wenigsten unter den Zwangsarbeitskräften haben fünf Jahre in deutschen Wirtschaftsunternehmen gearbeitet. Viele sind vor Ende des Krieges umgekommen oder umgebracht worden, andere sind erst in späteren Kriegsjahren nach Deutschland verschleppt worden. In der Tat haben die etwa 15 Millionen Zwangsarbeitskräfte insgesamt 21,4 Millionen Jahre gearbeitet, im Durchschnitt also knapp anderthalb Jahre pro Kopf.

Angenommen, auch bei Daimler-Benz wurden die Zwangsarbeitskräfte im Durchschnitt nach anderthalb Jahren durch neue ersetzt, so waren es nicht 23.733 Personen, die der Konzern über die fünf Kriegsjahre hinweg kontinuierlich als Zwangsarbeitskräfte ausbeutete, sondern knapp 80.000 Personen, die im Durchschnitt anderthalb Jahre geschunden wurden. Diesen achtzigtausend Zwangsarbeitskräften wurden pro Kopf 2125,98 RM vorenthalten. Das war fast so viel wie der Jahresnettolohn eines „deutschen Stammarbeiters“ bei Flick, denn der betrug damals 85 % vom brutto, also 2415,87 RM.

Für einen solchen Betrag arbeitete ein Facharbeiter bei DaimlerChrysler sechzig Jahre später weniger als einen Monat. Es wäre also höchst unwürdig und geradezu lächerlich gewesen, die einbehaltenen Löhne und Steuern im Verhältnis 1:1 umzurechnen. Aus dem Umrechnungsfaktor 100 : 9 ergibt sich: Jeder einzelnen Zwangsarbeitskraft wäre im Durchschnitt 23.643 DM nachzuzahlen gewesen. Auf die Gesamtzahl der vom Konzern „verbrauchten“ Zwangsarbeitskräfte umgerechnet, hätten sie insgesamt 1.870,4 Millionen DM erhalten müssen, zwei Drittel vom Konzern und ein Drittel aus der Staatskasse.

Wer meint, die Zahlung des Firmenanteils (1.243,6 Millionen DM) hätte den Konzern in den Bankrott getrieben oder zumindest Arbeitsplätze gefährdet, möge sich erinnern, dass DaimlerChrysler im Jahre 1998 einen Gesamtgewinn von über zehn Milliarden DM erzielt hat, knapp 200 Millionen pro Woche. Demzufolge hätte der Konzern für eine angemessene Entschädigung weniger als sieben Wochen Gewinn verwenden müssen. Das hätte ihn nicht in den Bankrott getrieben und auch keinen Arbeitsplatz gefährdet, es hätte die Dividende der Aktionäre ein wenig geschmälert und nicht einmal die nächste Großfusion verzögert. Mehr wäre nicht passiert.

Nachzutragen bleibt, dass die Schätzung auf den wenigen Daten beruht, die der historischen Forschung zum Zeitpunkt der Abgabe des Gutachtens gleichsam versehentlich zur Verfügung standen; geradezu versehentlich aus heutiger Sicht, denn sie lagerten bis 1990 im Zentralen Staatsarchiv der DDR und wurden in einer 1964 an der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigten Dissertation über die Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte im Flick-Konzern während des zweiten Weltkrieges verwendet.

1999 galt, was der Historiker Ulrich Herbert 1985 für die Lage in der BRD geschrieben hatte und zurecht 1999 unverändert nachdrucken ließ: „Die wichtigsten Bestände […] liegen sicherlich in den Werksarchiven; hier aber waren alle Türen zu […]. Bei insgesamt etwa 40 Anfragen an deutsche Betriebsarchive erhielt ich [mit zwei Ausnahmen] ausschließlich Absagen.“  Auch Annette Schäfer konnte in der Einleitung zu ihrer 1997 verteidigten Dissertation über Zwangsarbeit in Württemberg mit einer Ausnahme nur von Absagen berichten, und zu der Ausnahme bemerkt sie: „Lediglich Akten des Firmenarchivs der Mercedes-Benz AG, mit allerdings nicht allzu großem Aussagewert, konnten herangezogen werden.“ Dass die Lage sich seit der Verabschiedung des Stiftungsgesetzes im August 2000 entschieden verbessert hat und eine ganze Anzahl von Firmenarchiven ihre Akten der Forschung zugänglich gemacht haben – Schande dem, der Arges dabei denkt…

(Zahlen in Klammern beziehen sich auf Quellenhinweise im Buch)

Aus “Brosamen vom Herrentisch
Von Thomas Kuczynski, erschienen im Verbrecherverlag
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