Nicht um jeden Preis

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Vor einigen Monaten schrieb ich einen Kommentar mit der Überschrift „Ja, um jeden Preis“, der die Freilassung des entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit zum Thema hatte. Heute weiß ich, dass der Kommentar eher aus meinem Bauch als aus meinem Kopf heraus geschrieben war. Ich war beeinflusst von der öffentlichen Meinung, vom beherrschten Verhalten der Eltern, von dem bewegenden Bild, auf dem Gilad wie ein kleiner Junge aussieht…

Auszüge aus einem Kommentar von Yoel Marcus, Ha’aretz, 20.03.2009
Übersetzung von Daniela Marcus

Dem Land, das unzählige mörderische Terroranschläge erlitten hat, fiel es leichter, mit der großen Anzahl von Toten als mit der Situation des lebenden Gilad umzugehen. Hamasmitglieder sind Experten in diesem grauenvollen Spiel, das der Familie des entführten Soldaten die letzte Kraft raubt. Doch im Gegensatz zur Angst der Eltern wird sich der Präzedenzfall des vermissten israelischen Piloten Ron Arad im Fall von Gilad Shalit nicht wiederholen, weil die Hamas Gilad hütet wie einen Schatz, der sein Geld wert ist.

Die Operation „Gegossenes Blei“, über deren Erfolg oder Misserfolg noch diskutiert wird, erhöhte innerhalb der öffentlichen Meinung den Einsatz für Gilad Shalit. (…) Die Familie, die ein Beispiel für Zurückhaltung war, schlug nun vor der Residenz des Premierministers ein Zelt auf, als ob er derjenige wäre, der die Rettung ihres Sohnes verhindere. Der Platz, auf dem das Zelt steht, verwandelte sich schnell in einen Kampfplatz zwischen den Eltern des entführten Soldaten und den Eltern von Terroropfern, die die Freilassung von Gefangenen, die eigentlich lebenslängliche Haftstrafen absitzen müssen, ablehnen. Es sieht aus, als ob wir hier über zwei rivalisierende Lager sprechen. Wie fühlen sich die Eltern der beiden Soldaten, die während des Überfalls, bei dem Gilad entführt wurde, getötet wurden? Was sagen sie, wenn sie die Identifizierung der Öffentlichkeit mit der Familie Shalit sehen? (…)

Die Besuche von Politikern, Ministern und VIPs im Protestzelt nehmen die Dimension einer Farce an. Ehud Barak, Shaul Mofaz, Benjamin Ben-Eliezer und andere pilgern nach Jerusalem, um Hände zu schütteln als wären sie von den Vereinten Nationen. Sind nicht sie die gewählten Volksvertreter, deren Stimme und Urteil entscheidet, was geschehen wird und wer und wie viele freigelassen werden, um Shalit nach Hause zu bringen? Sind nicht sie diejenigen, die über Operationen entscheiden, in denen Soldaten getötet werden oder durch die Soldaten eine lebenslange Behinderung davontragen? Einer der Eltern rief ganz richtig zu einem Minister: „Wo sind Sie seit dem 25. Juli 2006 gewesen und was haben Sie getan?“ (…)

Anwalt Uri Slonim, der schon Gefangenenaustausche abgewickelt hat, sagt, dass der Begriff „um jeden Preis“ nicht in seinem Wörterbuch vorkommt. „Um jeden Preis“ ist nur dann gut, wenn dies durch Verhandlungen erreicht wird. Wenn wir „um jeden Preis“ sagen, meinen wir, wir sind bereit alles für nichts zu geben. Morgen werden sie von uns die Klagemauer fordern. Wenn wir „nicht um jeden Preis“ sagen, verhandeln wir. Die andere Seite hatte ihren Preis genannt und wich nicht davon ab. Es war eher ein Diktat als eine Verhandlung. Doch wenn man auf dem Basar des Nahen Ostens gleich den zuerst geforderten Preis bezahlt, wird man ausgelacht.

Die Verpflichtung, eine Geisel lebend nach Hause zu bringen, hört nie auf. Das Problem liegt nicht im Ziel sondern in der Umsetzung des Ziels. (…) Weisheit, Geduld und Verhandlungskunst werden am Ende das Ergebnis bestimmen.

Zwischen Mitleid und Mitgefühl gibt es den gesunden Menschenverstand. Wenn man von der Seite des Mitleids her denkt, so möchte man den entführten Soldaten nur allzu gerne retten. Doch bei dieser Mission müssen wir zwei Dinge in Betracht ziehen: a) Werden die Verhandlungen auf bestmögliche Weise und mit den bestmöglichen Leuten geführt? B) Hält sich die Regierung an rote Linien und geht nicht über das, was vernünftig ist, hinaus?

Es gab eine Zeit, in der wir uns and das Prinzip, keine Gefangenen mit Blut an den Händen freizulassen, gehalten haben. Dieser Slogan wurde 1985 durch den Jibril-Deal gekippt. Damals wurden 1150 palästinensische Gefangene für drei israelische Soldaten ausgetauscht. Der damalige Verteidigungsminister Yitzhak Rabin erklärte dazu, er habe die Blicke der Familienmitglieder nicht ertragen können. Kürzlich ließ der Staat Samir Kuntar, der 1978 in Nahariya die Familie Haran ermordet hatte, frei. Er wurde im Libanon als Nationalheld begrüßt. Dies geschah, nachdem Generationen von Premierministern erklärt hatten, dass er niemals wieder das Tageslicht sehen würde.

Die Entscheidungsträger bestimmen die „rote Linie“, denn wenn es keine rote Linie gibt, bedeutet dies einen erheblichen Schaden für die gegenwärtigen Verhandlungen, ganz zu schweigen von den zukünftigen.

Auf jeden Fall entscheiden der Premierminister und das Kabinett darüber, wie viel sie bereit sind zu zahlen, um ihr Ziel zu erreichen. Dabei dürfen sie nicht außer Acht lassen, welche Risiken ihre Zugeständnisse für das Land beinhalten. Die Angst vor Verlusten lähmt die israelische Verteidigungsarmee. Die Veröffentlichung der Namen und Vergehen derjenigen, die Israel bereit bzw. nicht bereit ist für Shalit frei zu lassen, war kein Zufall. In der allgemeinen Öffentlichkeit ist das Mitgefühl größer als der gesunde Menschenverstand. Doch der Premierminister darf nicht den Präzedenzfall akzeptieren, der in erpressbar und bereit macht, sich um jeden Preis dem Diktat des Feindes zu ergeben.