Europas Mehrsprachigkeit: Migration und Minderheiten erfordern neue Didaktik

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Wie Mehrsprachigkeit wirkt und wodurch sie beeinflusst wird, untersucht das 2006 von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Exzellenz-Forschungsnetzwerk LINEE in einem vierjährigen Projekt. „Es steht nicht so gut um die Mehrsprachigkeit in Europa wie wir uns das wünschen würden. Die Fremdsprachenpolitik ist in einzelnen EU-Staaten noch weit davon entfernt, flächendeckende europäische Mehrsprachigkeit zu garantieren“, berichtet Rosita Schjerve-Rindler vom Institut für Romanistik der Universität Wien

Das Projekt, an dem Kooperationspartner aus neun europäischen Ländern beteiligt sind, soll Einblick in Planung und Förderung der europäischen Mehrsprachigkeit geben und theoretische sowie methodische Grundlagen in einer Forschungsplattform zur Mehrsprachigkeit schaffen.

Dass die Schule mehrere Fremdsprachen durchgängig lehrt, ist ein eher junges Phänomen, erklärt Schjerve-Rindler gegenüber pressetext. „Früher versuchte man, in der Vermittlung einer Sprache möglichst nahe an das Niveau eines Native-Speakers heranzukommen. Heute propagiert man das Erlernen mehrerer Sprachen, wobei die hohe Perfektion nachrangig ist.“ Trotz einer gewissen Trendwende hin zu einzelnen Minderheitensprachen dominieren mit Englisch, Französisch und Deutsch noch die großen Nationalsprachen der EU-Länder, bestenfalls schaffen es auch Italienisch und Spanisch in die Stundenpläne. „Auf das Erlernen von regionalen Minderheitensprachen, auf neue Migrantensprachen oder auch auf die Sprachen der Nachbarländer legt man jedoch wenig Wert“, kritisiert die Wiener Linguistin.

Seit 1995 empfiehlt die EU ihren Bürgern, neben der Muttersprache zwei Fremdsprachen zu erlernen. Auch die regionalen Minderheitensprachen sollten gebührende Berücksichtigung finden. „Seit 2007 werden neben den Sprachen der regionalen Minderheiten erstmals auch die der Migranten in das Mehrsprachigkeitskonzept aufgenommen“, erklärt Schjerve-Rindler. Eine multikulturelle Gesellschaft habe sich den Herausforderungen der Mehrsprachigkeit zu stellen, denn das Problem der Integration der Migrantenkinder sei vor allem auch ein Sprachproblem, das neue didaktische Maßnahmen erfordere. Die Mehrsprachigkeit von Migranten wie auch von regionalen Minderheiten werde bisher nur als Störfaktor und Defizit wahrgenommen. Darin liege jedoch Reichtum und auch Potenzial. „Kinder lernen schnell und spielerisch. Wenn Migrantenkinder oder Kinder aus regionalen Minderheiten in ihrer Sprache unterrichtet werden, warum sollten da nicht auch unsere Kinder daran teilnehmen können?“, so Schjerve-Rindler.

Eine zwiespältige Rolle für die Mehrsprachigkeit spielt die Fremdsprache Englisch. Englisch hat in den letzten beiden Jahrzehnten einen Siegeszug angetreten und verdrängte damit Französisch als erste Verkehrssprache in den europäischen Institutionen. „Jede EU-Erweiterungsrunde verlief zugunsten des Englischen, da in den meisten Beitrittsländern Englisch oft als erste Fremdsprache fungiert.“ Mit dem britischen Englisch hätte dieses als „Eurospeak“ bezeichnete Englisch jedoch wenig zu tun. „Jeder verwendet Englisch auf seine Weise, ohne dass diese Sprache besonderen Einfluss auf die jeweilige Identität hätte.“ Englisch wird teils nicht mehr als Fremdsprache, sondern als notwendige Voraussetzung im Beruf gesehen. Mit Mehrsprachigkeit hätte die alleinige Konzentration auf Englisch jedoch wenig zu tun, so die Wiener Sprachforscherin.

Zwei- und Mehrsprachigkeit sind schon seit längerer Zeit ein Thema in Europa. Politische Unruhen infolge der Regionalismus-Bewegungen der 60-er und 70-er Jahre wie in Südtirol oder auf Korsika machten erstmals auf das Problem der Minderheitensprachen aufmerksam. Man verbesserte die traditionelle Fremdsprachendidaktik und versuchte durch Förderprogramme, die Sprachen regionaler Minderheiten zu schützen. Seit 2007 gibt es einen eigenen EU-Kommissar für Mehrsprachigkeit. „Dennoch steht die Mehrsprachigkeit auf schwachen Beinen, da auf nationaler Ebene die Mitgliedsstaaten das Sagen haben, nicht die EU“, so Schjerve-Rindler. Der kulturelle und geschichtliche Hintergrund bilde dabei oft einen hemmenden Faktor. „Die Sprachpolitik der Nationalstaaten war über viele Jahre hinweg auf eine Homogenisierung ausgerichtet. Minderheitensprachen sollten verschwinden, was am deutlichsten in der Politik der französischen Revolution zum Ausdruck kam“, so die Romanistin abschließend zu pressetext.

1 Kommentar

  1. Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

    darf ich Sie auf die folgenden aktuellen Veröffentlichungen hinweisen:

    Drorit Lengyel (2009). Zweitspracherwerb in der Kita. Eine integrative Sicht auf die sprachliche und kognitive Entwicklung mehrsprachiger Kinder, Münster; Waxmann, ISBN: 978-3-8309-2086-1 (zugel. Diss. LMU München)

    Rita Zellerhoff (2009). Didaktik der Mehrsprachigkeit, Didaktische Konzepte zur Förderung der Mehrsprachigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Schulformübergreifende Konzepte unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Sprache, Frankfurt/M.: Peter Lang, ISBN: 978-3-631-58569-6 (zugel. Diss. HU Berlin)

    Mit freundlichen Grüßen
    Rita Zellerhoff

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