Weinen mit Liat

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Von Deutschland nach Israel – junge Juden über ihre Auswanderung, Teil 2…

Von Benjamin Rosendahl

Eine Antwort auf Patrick Goldfein

Lieber Patrick,

mein 30. Geburtstag war der Beginn einer kleinen Sinnkrise. Ich hatte mir immer vorgestellt, sämtliche Fragen meiner Identität bis dahin geklärt zu haben, was aber nicht passierte. Ich war Jude in Deutschland, Deutscher in Israel und Israeli in L.A. Mehr als alles andere war ich aber, obwohl glücklich verheiratet, weder beruflich noch allgemein im Leben am Ziel angekommen: Ich bin ein „Wanderjude“ geblieben, weit davon entfernt, Wurzeln zu schlagen. In diesem Moment der Krise erinnerte ich mich an deinen Artikel „Weinen mit den Bayern“, der mir heute – wie vor 6 Jahren, als du ihn schriebst- aus dem Herzen spricht.

Wie du, liebte ich auch den Geschichtsunterricht aus vollem Herzen. Jedoch hatte ich immer ein fahles Gefühl in der Magengegend, nicht nur, wenn das Dritte Reich dort behandelt wurde. Vielleicht liegt es daran, dass ich vom ersten Jahr in der Grundschule bis zum Abitur der einzige Jude in meiner Schule war. Oder daran, dass meine Großmutter, die Auschwitz überlebt hatte, bis zu ihrem Tod (kurz nach meiner Bar-Mitzwah) bei uns lebte, und ich mit ihren Erzählungen von der Schoah aufwuchs. Für mich waren meine Mitschüler immer suspekt, sie hatten ein Kainsmahl, denn sie waren die Nachfolger der Mörder meiner Familie. Und für sie hatte auch ich ein Kainsmahl, denn ich war der einzige, der sie nur mit meiner Präsenz ständig daran erinnerte, dass der nette Großvater, der ihnen immer Schokolade mitbrachte, vielleicht eine dunkle Vergangenheit hatte, über die er nicht sprach. Die imaginäre Mauer, von der du sprichst, fühlte ich also fast täglich. Und als mir ein guter Freund erzählte, wie schockiert er war, als er herausfand, dass sein Freund Marco der Enkel Baldur von Schirachs, dem Leiter der Hitlerjugend war, da fühlte ich mich in meinem Gefühl bestätigt: Die Mörder –und ihre Nachkommen- sind unter uns.

Am stärksten ist mir folgende Erfahrung in Erinnerung geblieben: In der 10. Klasse hatte der Leiter meines Geschichtsleistungskurs, Herr Braunschläger, die Idee, den 9. November statt mit einem Ritual zur Erinnerung an die sogenannte „Kristallnacht“ mit etwas Lebendigerem zu begehen: Ich sollte ein paar jüdische Freunde in die Schule bringen, die über ihre Erfahrung als Juden in Deutschland reden sollten. Lebende Juden statt tote Juden also. Und so schaffte ich es, zehn jüdische Jungs – einen Minyan – in meine Schule zu bringen (ich befürchtete, dass die erste Frage sein würde, ob wir Juden uns ohne Frauen fortpflanzen). Es handelte sich um Freunde von der Zionistischen Jugend (ZJD), wo ich meine Wochenende verbrachte. Wir betraten den Raum – und absolute Stille breitete sich aus. Nach einer fünfminütigen Pause meldete sich schließlich eine Mitschülerin meines Leistungskurses zu Wort – und las ihre Frage von einer Karte ab. Die Spannung konnte ich die ganze Diskussion spüren. Erst als Oliver von seiner Zeit beim jüdischen Sportclub Makkabi erzählte, entspannte sich die Situation ein wenig: Fußball verbindet…

Wie gesagt, verbrachte ich die Wochenenden bei der Zionistischen Jugend, wo wir stundenlang diskutierten, ob wir deutsche Juden, jüdische Deutsche, Juden in Deutschland oder einfach nur normale Jugendliche seien. Wir hatten eine sehr gespaltene Beziehung zur Identität: Die meisten von uns waren zwar überzeugte FC-Bayern-Fans, weigerten sich aber aus ideologischen Gründen, die deutsche Nationalmannschaft zu unterstützen. So kann ich mich erinnern, dass viele von uns ein Abo für alle FC-Bayern-Spiele hatte – und wir der Z-Kurve den Spitznamen „ZJD-Kurve“ gaben. Andererseits kann ich mich auch erinnern, wie wir bei dir zuhause das Freundschaftsspiel Deutschland-Israel anschauten. Es war ganz klar, dass wir bei der israelischen, nicht der deutschen Hymne aufstanden und mitsangen, und natürlich die israelische Nationalmannschaft unterstützten.

Für mich war es also natürlich, nach dem Abitur nach Israel zu gehen. Wie jeder Einwanderer durchlebte ich die vier Phasen der Einwanderung: Euphorie, Enttäuschung, Wut und schließlich Zugehörigkeitsgefühl. Das Zugehörigkeitsgefühl war aber nicht ganz vorhanden, denn oft musste ich mich dafür rechtfertigen, in Deutschland gelebt zu haben. Auch wurde ich oft gefragt, warum denn meine Eltern als Juden in Deutschland leben könnten. Die Kluft wurde mir am deutlichsten bewusst, als ich zu der Eröffnungsfeier der „Jeckes b´Aretz“, dem ersten FC-Bayern-Fanclub in Israel ging, und zwar am selben Tag, als ich in der deutschen Botschaft in Tel-Aviv war, um mir meinen deutschen Pass zu verlängern. Beide Ereignisse machten mir deutlich, dass ich meine deutsche Identität nicht einfach wie eine Jacke ablegen konnte. Und trotzdem hatte ich ein komisches Gefühl, als wir die FC-Bayern-Flagge neben den Portraits David Ben-Gurions und Chaim Weizmanns aufhängten.

Schlußendlich habe ich mich aber in Israel eingelebt, ein Universitätsstudium dort beendet und, am wichtigsten von allem, meine Frau kennengelernt, Liron, eine Sabarit, also geborene Israelin.

Ähnlich wie deine Erfahrung vom Champions-League-Finale im Fußball hatte ich auch eine Erfahrung, die mir bewusst machte, was meine Identität ist: Als Liron und ich das Land verlassen wollten, nachdem sie in Amerika für ihr Doktorat angenommen wurde (auf der renommierten University of Chicago), passierte uns folgendes am Flughafen: Ich wartete bei der Passkontrolle, während Liron bereits am Terminal war. Als ich an die Reihe kam, zeigte ich – wie immer- meinen deutschen Pass, denn ich hatte zwar einen israelischen Personalausweis („Teudat Zehut“), aber keinen israelischen Pass. Die Frau am Schalter meinte, ich solle auf Liat von der Flughafensicherheit warten. Besagte Liat kam ein paar Minuten später an, eine robuste Frau mit dunklen Locken und sehr selbstbewusstem Auftreten, und bat mich, mit ihr ins Büro zu gehen. Liron, die mitkam, und ich trauten unseren Ohren nicht, als Liat uns folgendes mitteilte: „Benjamin, wir haben uns entschlossen, dich vom Flug herunterzunehmen. Du bist israelischer Staatsbürger, und als solcher kannst du das Land nur mit einem israelischen Pass verlassen.“ Unsere Reaktion war ähnlich wie deine beim Champions-League-Finale: Die Tränen schossen in unsere Augen und hörten nicht auf, herunter zurollen. Wir baten freundlich, aggressiv, flehten, diskutierten, versuchten auf Liats nette Seite zu kommen – es half gar nichts. Unsere Koffer wurden zurückgebracht, und wir mussten den Flughafen verlassen.

Und da wurde es mir bewußt: Ich BIN einer von ihnen! Dem israelischen Staat war meine Identität als Israeli so wichtig, dass er mich sogar davon abhielt, das Land zu verlassen. Als wir im Sammelbus zurück nach Jerusalem fuhren – zu Lirons Tante, denn die Schlüssel zu unserer Mietswohnung hatten wir bereits zurückgegeben – da ging gerade die Sonne unter und versenkte die Stadt in ein goldenes Antlitz. Die Zukunft schien ungewiss, aber eines war uns klar: Wir waren zuhause angekommen.

haGalil würde sich über weitere Berichte deutsch-jüdischer Israelis freuen und diese gerne veröffentlichen. Bitte wenden Sie sich einfach per Email an die Redaktion.

8 Kommentare

  1. Auch Dir, makkabäer ein Shalom,
    ich vertraue darauf, dass der lebendige Gott  Dich und mich tiefer als unsere tiefsten  Abgründe und höher als unser weitesten Höhenflüge liebt. Dies gilt auch Israel und den Nationen.

  2. Shalom Andreas, shalom,
    es frustriert eben, wenn man sich Jahrzehnte um Aufklärung seiner christlich-deutschen Landsleute bemüht und feststellen muss, sobald ein Christ ein Christentum-kritisches Buch empfohlen bekommt, liest er es extra nicht. Dies hat Methode. Ich hab‘ es auch bei guten Freuden erlebt. An ‚katholisch‘ lassen wir nicht kratzen- ist die vorherrschende Einstellung.
    Da ich Dich als Individuum Andreas nicht kenne, nur einige Kommentare von Dir gelesen habe, die anderen Kommentaren Deiner Glaubensbrüder ähneln, stecke ich Dich zwangsweise in eine ‚Schublade‘, auch wenn ich einsehe, dass dies mit Gefahren verbunden ist.
    Jahrgang 72 bist Du. Ein schmerzliches Jahr für Israel, seine Olympiamannschaft wurde hingemordet, weil deutsche Politiker und Behörden der durchaus vorhandenen Terrorgefahr mit der Verteilung von Bonbons begegnen wollten (!) und anschließend total versagten.
    Du erwähnst ‚Schuld‘. Schuldig habe ich mich selbst auch lange gemacht, weil ich nicht an Politiker geschrieben habe und protestiert habe gegen die Verblödung Deutschlands durch Minimalinformation in Nachsschlagewerken und Geschichtsbüchern. Der in Bayern seinen Ursprung habende Mord an einer halben Million Sinti und Roma etwa steht in kaum einem Geschichtsbuch und wenn, dann nur am Rande. Die führende Rolle Bayerns beim Entstehen des NS wird ebenso totgeschwiegen, weil nicht populär. Bayern ist auch heute noch das antisemitische Schandmal Deutschlands, nirgends in der BRD gibt es mehr Judenhasser als dort. München, Heimat der NSDAP, SA, SS, REP, DVU (alle dort entstanden).
    Warum hat sich noch kein Bayer, kein Deutscher bei seiner Regierung beschwert, dass die Geschichtsbücher das übergehen?
    Es ist soviel faul in diesem Land des Materialismus, des Konsums, der Dummheit, dass man verzweifeln könnte.
    Wie Du siehst, gebe ich eigene Fehler durchaus zu.

  3. Aber hallo, finde es schade, dass man die anderen oft nur in Blöcken denkt. Nur schwarz-weiss. Sogar wird dann nur noch aufeinander eingegangen, wenn man dieses und jenes Buch gelesen hat.  Dieses Denken hat für mich keien spezifische deutsche, jüdische, russische, amerikanische oder sonstige Komponente sondern ist einfach nur ziemlich eng. Mein Ansatz: Leid und Verbrechen ist zuerst sehr subjektiv, wachsen dann aber auch auf eine größere Ebene aus.
    Dabei geht mir das was z.B. 1933-1945 an den Juden verübt wurde nicht am A… vorbei (Unterstellung). Ich kann daraus meine Schlüsse für mich ziehen, bin daran(Jahrgang 72´) aber nicht schuld. Werde z.B. evtl. Mitschuld beim Nichteinmischen von z.B. Abtreibung, Lieferung von Technik an Iran, etc…
    Was mir an Deinen Argumenten etwas stört: Du sieht nich mich, andreas, sondern einen „Deutschen Christen“ und Deine dazu gesammelten Klischees.
    Ich bitte um ein bisschen mehr Güte und Offenheit, auch wenn ich zugegebenermaßen
    mind. 1000 Fehler mache und damit weit mehr als du.
    Grüße Andreas 

  4. Das ist eine inzwischen sehr popuär gewordene christlich-deutsche Argumentationsweise, die nichts anderes ausdrückt als: Geht mir am A…. vorbei, juckt mich nicht, betrifft mich nicht, die anderen sollen sich damit auseinandersetzen, ich habe meinen Glauben (und der ist Spitze). Und „Komplexität“ ist ebenfalls so ein schönes ‚Spielwort‘ von Neudeutschen mit gediegener Halbildung.

    Hast Du Deschner gelesen, hast Du Goldhagens Buch über die Kirche gelesen, wenn ja, dann lass uns gerne weiterdiskutieren, wenn nein – hat es keinen Zweck.
    Denn Christentum ist nicht nur das, was Du in Deinem (möglicherweise idealistischen) Hirn hegst, sondern eine 2000jährige Geschichte des Hasses, der Intoleranz, der Minderheitenfeindlichkeit (betrifft auch Einstellung gegenüber Sinti und Roma und Homosexuellen).
    Lektüretipp, mal nicht in Sachen Christen vs. Juden, sondern die andere Minderheit betreffend: http://www.sintiromabayern.de
    Sehr aufschlussreich!

  5. hab mit katholischer Kirche  nichts zu tun,  finde da gerade auch keinen Zusammenhang.  Möchte mich gegen diese Kausalitätsketten wie Stuttgarter=Deutsch=Christ=Katholik=Hexenverbrenner=Nazi=Antisemit=u.s.w.
    auch nur ungern verteidigen. Gelegentlich ist die Kompexität doch ein wenig größer.
    Im übrigen, ohne was zu beschönigen,  fällt die Außen- bzw.  Nachbetrachtung immer leichter. Die Frage bleibt, was hätte ich getan, wenn ich im Mittelalter „katholisch“ oder im Dritten Reich in eine Nazifamilie hineingeboren worden wären.  Ich bin weder jetzt ein Held (vielleicht manchmal ein Maulheld)  noch wäre ich es wahrscheinlich damals gewesen. Bitte dies nicht als Entschuldigung ansehen, sondern als Selbstreflexion.

  6. Aber zuerst wollen wir noch mal detailliert die Kriminalgeschichte der katholischen Kirche durchgehen, bevor wir groß „Gemeinsamkeiten“ pflegen.
    Zu viele Leichen im Keller, Bruder Andreas, als dass ‚wir‘ uns so einfach hinsetzten und sagen könnten – vergeben und vergessen!
    Deschner, Klee und Goldhagen lesen – und – begreifen  – das wär‘ mein Rat an die katholische Welt!

  7. es fällt schwer so eine persönliche Lebensbeschreibung zu kommentieren.  Was ich für mich dabei entdecke ist, dass Juden(als Volk) und Deutsche eine fast schon unheimliche Ähnlichkeit aufweisen. Und zwar, indem sie, bei allem was war und ist und dies ist vielleicht gerade einer der Gründe, die Worte des jeweils anderen verstehen können. Das Gefühl mag noch so unterschiedlich und zuweilen verworren erscheinen, aber die Denkansätze sind jeweils begreifbar. Natürlich nicht bei allen und jedem.  Ein Vorschlag, die die gemeinsame Mystik befördern könnte: Zusammen die Welt aufzuforsten (mit allen nur möglichen Baumsorten)und Wein anzubauen. Dies kommt mir u.a. in den Sinn, wenn ich an beide Länder denke. Im Hintergrund läuft Chopin.

  8. Das sind zwei sehr interessante und nachvollziehbare Berichte. Vielen Dank!
    Eine Verständigungsfrage habe ich aber.
    Wie kann die Beamtin sagen: „Du bist israelischer Staatsbürger, und als solcher kannst du das Land nur mit einem israelischen Pass verlassen“, wenn du sagst: „ich hatte zwar einen israelischen Personalausweis („Teudat Zehut“), aber keinen israelischen Pass“.

    Es scheint also die Möglichkeit zu geben einen Ausweis zu haben – ohne Pass. Warum war das plötzlich nichts wert? Mir kommt das wie Willkür vor, und das hätte bei mir weniger Sympathie als vielmehr Widerstand hervorgerufen.

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