Ein anderer Blick auf die Siedler: Paraschat Ruth

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Israelische Filme blicken in der Regel kritisch auf Israel und seine Politik – zumindest, wenn sie in deutsche und internationale Kinos gelangen. Seit Ende des vergangenen Jahres sorgt beispielsweise LEMON TREE (Eran Riklis) für volle Kinosäle, ein Film, dessen Handlung sich – wie so oft – um das Motiv des Bodens entfaltet…

Von Julia Anspach

Viele dieser Filme wenden sich aus linker Perspektive gegen Krieg, widerrechtliche Landnahme und Unterdrückung, die sie stets auf israelischer Seite identifizieren. Zu deren Denunziation nehmen sie durchaus in Kauf, absurde Geschichten zu konstruieren. Wenn beispielsweise ein israelischer Außenminister Haus und Zitronenhain in der West Bank kauft, doch die Zitronenbäume fällen will, da sie Versteck und Schutz für Terroristen bieten könnten. Ungeachtet der Wahrscheinlichkeit einer solchen Geschichte, ist LEMON TREE ein Beispiel dafür, dass die Aneignung von Boden und Land durch Israelis ein gerne gewähltes Motiv linker Filmemacher ist. Hierbei bieten sich insbesondere zwei gesellschaftliche Gruppen zur kritischen Darstellung an: Soldaten und Siedler.

Neben Spielfilmen etablieren Berichte, Nachrichten und Dokumentationen das feste Klischee vom Siedler, auf das durch Allusionen an anderer Stelle gerne zurückgegriffen wird. Ein Spielfilm, der die Perspektive der Siedler oder ihren Blick auf die Geschehnisse in Israel einnimmt, sich vielleicht auch mit ihrer Kritik auseinandersetzt, ist bislang nicht nach Deutschland gelangt.

Im Herbst 2008 präsentierte die Regisseurin Keren Abitan auf dem Internationalen Filmfestival in Haifa mit dem Film RUTH die Geschichte eines jungen Mädchens, das im Jahre 2005 in Ganei Tal, einem Ort der Gush Katif-Siedlungen im Gazastreifen lebt. Mit seinem Handlungsort erlangt der Film plötzlich ungeahnte Aktualität.

Der Abzug steht kurz bevor, doch während ihre Freundinnen und die Menschen in ihrem Ort versuchen, diesen zu verhindern, ist Ruth eine Rebellin innerhalb dieser Gemeinschaft. Auf der Suche nach sich selbst, nach Individualität und einer eigenen Interpretation des Glaubens verschmäht sie das Kollektiv. Sie verliebt sich in einen Tel Aviver Journalisten, der sich ihrer Geschichte bedient. Fast kommt es darüber zum Bruch zwischen Ruth und ihrem Vater. Eine vage Versöhnung leitet über in die finale Ankündigung der Räumung der Siedlungen.

RuthRUTH erzählt eine Geschichte in einer Traumwelt, einer visuellen Seifenblase, deren finales Zerplatzen der Film als Zuschauerwissen jenseits der filmischen Darstellung antizipieren kann. Traumähnliche Bilder in intensiven Farben, immer wieder das grelle Orange der Siedlerbewegung, eine intensive Ausleuchtung des Raumes, doch weiche Konturen, die wie im Traum zerfließen, verorten die Welt im Bereich des Irrealen und definieren sie zugleich politisch als eine sehr Reale. Eine nicht sichtbare Außenwelt definiert sie akustisch – Radionachrichten erzählen die Geschichte der Welt, wie sie von außen wahrgenommen wird, markieren folglich die Grenzen zum Außen, das nicht sichtbar und doch als definierende Macht stets präsent erscheint.

Das Mädchen Ruth, das nicht am Kampf um das Land teilnimmt, entzieht sich der politischen Auseinadersetzung, gleichwohl ist die Szenerie hochpolitisch. Andeutungen und Metaphern und selbst das Schweigen Ruths erscheinen als politische Aussagen. Fragen der Interpretation von Religion und das Verhältnis zwischen religiösen Juden und Palästinensern im Gazastreifen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Symbolische Funktion kommt der verstorbenen Mutter Ruths zu, die in ihrer Abwesenheit den Anlass darstellt, mit der Verlegung der jüdischen Gräber ein besonders heikles Thema des Abzuges indirekt zu thematisieren. Es wird – wieder als Nachricht im Radio – in seiner Problematik gestreift, indem der Vater der Auseinadersetzung darüber aus dem Weg geht: Sie unterbleibt auf einer inhaltlichen Ebene.

Die Relevanz des Motivs wird dennoch umso deutlicher in seiner doppelten Abwesenheit, denn auch Ruth entzieht sich der Frage nach der Mutter. Dem Journalisten erzählt sie, die Mutter und die Brüder wären bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dies schließlich ist es, was den Vater mehr als alles andere enttäuscht: „Deine Mutter und deine Brüder sind nicht auf diesem Land ermordet worden für nichts.“ Die abwesende Mutter birgt folglich Bezug zu mehreren Aspekten: die Erinnerung der Verstorbenen als für das religiöse Selbstverständnis relevante Frage, die Bedeutung des Lands, des Opfers und Selbstopfers und schließlich das Verhältnis der Siedler zu den Palästinensern. Ruth verschließt sich allem.

Sie hat sich im Badezimmer eingeschlossen, der Vater sitzt auf der Treppe vor der Badezimmertür. So wie zuvor die Welt jenseits des filmisch konstruierten Raumes durch die Radionachrichten zu den Figuren gelangte, ist es nun die Zeitung, durch die Ruth den Artikel über sich selbst liest und damit den Verrat durch den Journalisten Erez erkennt. Die Welt, in der sie sich bewegt, ist geschrumpft: Die Zeitung als Signal des Verrats trennt sie künftig von Erez, ihre Äußerungen über die Mutter von ihrem Vater jenseits der Tür, während die Nachrichten der Außenwelt auf eine moderne Welt hindeuten.

Die Frau allgemein und die Mutter im Besonderen ist als Metapher für das Land der Heimat in der literarischen und filmischen Tradition allgemein gebräuchlich. Prominent findet dies im israelischen Film seinen frühen Niederschlag in HEM HAYU ASSARAH/THEY WERE TEN (Baruch Dienar 1960), doch diese symbolische Parallelisierung von Weiblichkeit und Boden zieht sich bis hinzu LEMON TREE.

Durch den Tod der Mutter werden hier zwei verschiedene politische Traditionsmuster wirksam: für Ruth bedeutet ihr Tod den Verlust der Familie und damit der Tradition und des Landes. Doch sie nimmt diesen Verlust an. Sie wendet sich der Zukunft an einem anderen Ort zu, sie öffnet sich einer Moderne, die einen individuellen Glauben pflegt, die ein individuelles Leben zulässt, Mode, Sport und Musik. Ihr Vater betrachtet den Tod und insbesondere den Mord an der Mutter als Opfer für das Land, wodurch er sich an dasselbe gebunden sieht. Der Vater symbolisiert somit die Vergangenheit, Ruth die Zukunft. Ihre letztendliche Versöhnung kann nur im brüchigen Zustand des Vorübergehenden geschehen, dessen Ergebnis, wie der Zuschauer weiß, Ruth Recht geben wird.

Dass die Mutter und die Brüder ermordet wurden bedarf keiner weiteren Ausführung – der Zuschauer versteht auch diesen Hinweis – es gewinnt seine eigentliche Relevanz erst im Zusammenspiel mit zwei weiteren Szenen: dem Zusammentreffen einer Gruppe von Ruths Freundinnen mit zwei israelischen Soldaten sowie einer Diskussion in Ruths Schulklasse.

An einer Bushaltestelle treffen Ruth und ihre Freundinnen auf diese Soldaten und beginnen, sie provozierend zu beschimpfen. Der Dialog spielt darauf an, dass die israelische Armee vor dem Abzug gezielt auf ihr Verhalten den Siedlern gegenüber vorbereitet wurde. Ein Soldat zieht sich zurück, der andere bleibt zunächst stumm. Durch Schuss-Gegenschussaufnahmen in starker Unter- und Aufsicht sind die Kräfteverhältnisse eindeutig definiert. Die Mädchen in ihren einheitlichen T-Shirts bilden buchstäblich eine Front, angesichts derer der Soldat machtlos und schwach erscheint. Als Ruth ihn versehentlich mit Farbe bespritzt, verliert er die Nerven und richtet eine wütende Rede an Ruths Freundin als Wortführerin der Gruppe: „Ich werde in einem Monat entlassen nach drei Jahren Dienst in Gaza, in denen ich Menschen wie euch hier beschützt, mein Herz und meine Seele gegeben habe… Und wofür? Für sie, um mich mit Farbe zu beschmutzen? Damit du mich als Terrorist bezeichnest? Nazis nennt man uns hier, Nazis! Und ich soll ruhig sein…In Gaza zu sein war besser als das hier…“

Zwar signalisieren Close ups der Gesichter die Betroffenheit der Mädchen, doch folgt auch hier als Reaktion Schweigen, das den Bruch dieser beiden Gesellschaftsgruppen besiegelt. So wie Ruths Freundin zuvor den Soldaten als Terrorist beschimpfte, setzt er nun seinerseits die Siedler in Relation zu den Palästinensern in Gaza – und zieht letztere vor. Wenn der Film zuvor eine recht neutrale Perspektive einnahm und Verständnis für die Siedler entwickelte, fasst er diese nun in ein Gesamtbild ein, in dem sie als gesellschaftlich hochproblematisch erscheinen.

Schließlich wird zu guter Letzt noch das angenommene Verhältnis der Siedler zu Palästinensern betrachtet. Erneut berichtet das Radio, dass Raketen, die auf Gush Katif abgefeuert wurden ihr Ziel verfehlt und drei Kinder in einer palästinensischen Ortschaft getötet hatten. In Ruths Schulklasse wird dies als Beweis des besonderen göttlichen Schutzes der Bewohner des Gush und als Bestätigung der religiösen Lebensweise interpretiert. Allein Ruth wiederspricht und hält ein leidenschaftliches Plädoyer für die Möglichkeit der Individualität und den Frieden. Wenn das Blut Unschuldiger vergossen werde, könne dies kein Wunder sein, so Ruth.

Andeutungsweise kommt hier die Gespaltenheit der palästinensischen Gesellschaft in den Blick: Neben denen, die die Raketen abfeuerten, gibt es die unschuldigen Kinder, die getroffen werden. Wieder lässt der Film dies scheinbar unkommentiert. Er schlägt sich jedoch auf die Seite seiner Hauptdarstellerin und formuliert mit ihrer Stimme den Wunsch nach Freiheit, Individualität und Frieden.

Dass der hebräische Originaltitel des Films פרשת רות („Paraschat Ruth“) lautet und zudem die Religionsschule Ruths häufig zu Wort kommt, spricht dafür, dass der Titel im Sinne der alttestamentarischen Figur Ruth gedeutet werden soll. In dieser Erzählung geht es um Auswanderung und Rückkehr und es ist nicht zuletzt das Gottvertrauen Ruths, durch das ihr Glaube sich bestätigt und die Geschichte zu einem guten Ende führt. Mit dem Journalisten Erez findet Ruth buchstäblich zunächst ein neues Land – die Enttäuschung dieser Liebe lässt sie zurück im Niemandsland.

Ob nun die Darstellung des Films wahrscheinlich ist, ob ein etwa 16jähriges Mädchen, das in einer orthodoxen Familie aufgewachsen ist, sich mit der Distanzierung von ihrer Umgebung derart emanzipieren würde, ob sie sich einem viele Jahre älteren Journalisten anvertrauen, sich in ihn verlieben, gar körperlichem Begehren derart nachgeben würde, ob sie sich von ihren Freundinnen zurückziehen, als einzige den Abzug aus Gaza recht frei und offen befürworten könnte, ob die Freundinnen sie trotzdem vor den Fragen des Vaters schützen würden – all dies erscheint nur allzu fragwürdig. Möglicherweise ist dies jedoch auch nicht so wichtig.

Denn da die Geschichte in einer als Traum visualisierten Welt erzählt wird, erhebt sie nicht den Anspruch auf Wahrheit. Als Erez am Strand ins Wasser läuft, würde es nicht überraschen, wenn er unterwegs einem kleinen Mädchen mit einem Schwimmring um den Bauch begegnen würde: das Bild, mit dem Etgar Keret in JELLY FISH auf den Entstehungsmythos des Landes rekurrierte.

Traum und Phantasie bilden wesentliche Elemente dieser Erzählung, die sich in weiten Teilen der Andeutung und des Schweigens bedient. RUTH zeigt die Möglichkeit eines Charakters und sofern dieser eine nach Individualität und Frieden suchende, orthodoxe junge Frau ist, sicherlich nicht die schlechteste Möglichkeit.

Mit den Häusern der Siedler und den blühenden Pflanzen in den großen Gewächshäusern, die die überwiegende Mehrheit der Siedler im Gush Katif bewirtschaftete, erinnert der Film jedoch auch an die sehr reale Vergangenheit dessen, was die palästinensische Bevölkerung vorfand, nachdem der Gazastreifen geräumt wurde. Es bleibt erneut dem Zuschauerwissen überlassen, in Gedanken die Bilder zu rekonstruieren, die wenige Tage nach dem Abzug folgten: Es waren Bilder der Zerstörung. Der Traum eines friedlichen Zusammenlebens, den dieser Film noch 2008 im Appell mittels seiner Hauptdarstellerin formuliert und den er der nicht auftretenden und ebenso wenig detaillierter charakterisierten Gruppe friedliebender palästinensischer Frauen und Kindern als denselben Traum unterstellt, wurde schon 2005 von vielen Menschen nicht geteilt, von noch weniger Menschen wurde er 2008 geglaubt.

RUTH (Israel, 2008)
Regie: Keren Abitan, Drehbuch: Inbar David, Keren Abitan
55 Minuten, Hebräisch